UNIVERSITY OF CALIFORNIA AT LOS ANGELES hd eas ety Lam | lop: aN * gah ye a) et sf os i Re Ea Trebino FA Serf mec Seay Papewteds Cans Fete eras Die OR ae aN aA ha amen Ui ie a a sk 4 + mf i ' a os : ' 1 f “ nt ee } : . F ig iron, eet Perm ay Weg ba Se ke e so is pmb) wee Eg Ew ey ‘lead bedi ete “tte : ; <9 yy: ’ | 7 > ai vo pet Ae anh? by at > Pos ay fh < * * 4 ni . fa ‘ t F i ‘ an gig'd ' ‘ ' Digitized by the Internet Archive in 2007 with funding from Microsoft Corporation http://www.archive.org/details/dievorsokratikerOOnestiala DIE VORSOKRATIKER IN AUSWAHL UBERSETZT UND HERAUSGEGEBEN VON WILHELM NESTLE VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS JENA 1908 VON DIESEM BUCHE WURDEN 20 AB- ZUGE ZUM PREISE VON ZWANZIG MARK FUR JEDES EXEMPLAR AUF BUTTENPAPIER HERGESTELLT | IN GANZPERGAMENT GEBUNDEN UND HANDSCHRIFTLICH NUMERIERT _ ‘Cs 1B \ 0% INHALT NT v Vorwore as cases aeeet mts tet 1 Pil Stacy's he! a A 3 Weltgeschichtliche Bicientuny der pelechisches Phi- SANG ges oh see ie nah ees EAS 3 Rationale und instinktive Krafte des helen iacient CMM Ti oe ee a ee 4 Intellektualistische Elemente im Hhoieriectien’ Epc 5 Hesiod der erste Theologe ‘ F 8 Politische und soziale Umwalzungen in wae grie- chischen Welt von 800—500 10 Persénlichkeit, GefiihIsleben. Lyrik . . . . 12 Pessimismus und religidses Angstgefiihl . . 14 Mystik oo teen ee ee 15 Pherekydes von Syr0s : 18 Tonien die Heimat der Philesophic 18 _=Die vorsokratische Philosophie . 20 Bi slew eh 22 Anaximander ....... ae 23 >Anaximenes. .......2.. 25 Pytigoraie rs ok hee ee 26 Albmaon: oe a : 28 KOCRODMANES, 8 et ee Ss yee coe ae FiCTARIE eee eee aay Oat me tere 33 Parmenides ot ENO Bs en es oe 40 MelseO6: 5c ee a Peas area 40 Eminedobles<. hk eo es ee 41 Seite 107 107 107 108 113 123 130 131 135 Ill TONNE tie Bk irs oe cs oie ew ee 45 PROGR: FICMOINOD oa a les ew ne 50 RENO ENS Re le Sine) oe 8 51 Diogenes von Apollonia .......... 51 i SEA Sg i ee eo er ee 53 Jiingerer Pythagoreismus ......... 7) oe PINE WOR PAU sk ke 56 POM SNE RIUM Neg Se a es Rea | I Phaleas von Chalkedon ....... itil ae Fachschriftstellerei: Polyklet. . . . . .... 58 Leukine. nd Demokrit. .... <1... se > 59 PNIIO Sho gs! a aed) Se ec let .- 6 a a a ae ee ee ee Mr atk NEE og gt sw. Rr lw) ae 5% 72 Cee SCL Mae a eae te rn er eee 78 DERN Me te S25 gk te seal aca gt cc go ae ae ee 81 OS eae aes a ee 84 EN Ni os wore gies ok tA nh ic adn ee 89 PRM con ye Sg ae cud at he i: ae 89 NPN 8a 8a hel day oc 2eeKe tah ae 91 INNING Praca eras ete 92 SERN eee erp Parad bmies ran ergy is 94 NIE i Soong crt aie Fae) ua ne. See aoa 98 | i a ar 100 EE are aie tg eg OI ea 101 Ein Hibehpapyrus: Uber Musik . ..... . 101 Physiognomik. Ergebnisse und Aufgaben .. . 102 a ar Oe et Cay oe ea ae oe Vermgieichende Tabelln.. . 2... ...... BO deal Ayr ele eae ae Tea eT aa IV 163 183 183 187 192 194 202 202 203 206 207 217 222 228 236 238 242 245 VORWORT S iner Aufforderung des Herrn Verlegers folgend habe a ich die Bearbeitung der Vorsokratiker fiir die bei ihm Yi erscheinenden Ausgaben 4lterer Philosophie iiber- “4 nommen. Diese Arbeit war durch die Ausgabe der »Fragmente der Vorsokratiker“ von H. Diels (1. Aufl. 1903, 2. Aufl., I. II. 1, 1907) wesentlich erleichtert, einmal durch den dort vorgelegten wissenschaftlich bearbeiteten Text und dann durch die oft einen Kommentar ersetzende Ubertra- gung, so daB ich nur in ganz seltenen Fallen, die ich in den Anmerkungen bezeichnet habe, AnlaB hatte, vom Dielsschen Texte abzuweichen. Andererseits war es nicht leicht, neben eine so vortreffliche Ubersetzung wie die von Diels eine eigene, womdoglich gleichwertige zu stellen. Manchmal war ein Zusammentreffen in einzelnen Ausdriicken unvermeid- lich; doch glaube ich, daB meine Arbeit der Priifung auf ihre Selbstandigkeit jederzeit standhalten kann. Die poetischen Stiicke, die Diels in Prosa wiedergibt, habe ich in Verse zu bringen versucht und auBerdem auch die Reste der Sophisten tibertragen, die Diels uniibersetzt lie8. Die Anordnung der Bruchstiicke traf ich nach dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Zusammengeh6rigkeit, ohne damit irgendwie den Anspruch auf eine auch nur annahernde Rekonstruktion des Gedanken- gangs der Urschriften zu erheben, wenn ich auch da und dort vorhandene Spuren desselben beniitzt habe. Eine Tabelle zeigt das Verhaltnis meiner Anordnung zu der von Diels. Was die Auswahl betrifft, so suchte ich iiberall das Wesentliche und Charakteristische zu geben. Wenn ich mit Alkidamas noch iiber den Tod des Sokrates herabgegangen bin, so geschah es, um das Bild der Wirksamkeit des Gorgias zu vervollstandigen. 1 Vorsokratiker 1 Das doxographische Material muBte ganz ausscheiden und konnte nur in der Einleitung zur Erganzung der erhaltenen Bruchstiicke herangezogen werden. Denn da die vorsokratische Philosophie ein Triimmerfeld darstellt, so bedarf zumal der Laie, an den sich diese Ausgabe in erster Linie wendet, eines Fiihrers durch dasselbe. Dies — und nicht mehr — méchte die Einleitung sein. Sie will die Liicken der Uberlieferung, so- weit es zu deren Verstandlichkeit notwendig ist, ausfiillen, die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Gedankentriimmern ziehen und endlich wenigstens eine Skizze der Persénlichkei- ten der vorsokratischen Denker geben. Dagegen kann und will sie keine erschépfende Darstellung der vorsokratischen Philosophie sein. DaB ich die einschlagige Literatur, sowohl die zusammenfassenden Darstellungen bis auf die neuesten von Déring und Kinkel, sowie die zahlreichen Abhandlungen, so- weit sie fiir den vorliegenden Zweck in Betracht kommen konnten, gewissenhaft beniitzt habe, wird dem Kundigen nicht entgehen. Dagegen war zur Auseinandersetzung mit anderen Ansichten hier nicht der Ort. Mége es dem Buche gelingen, der vorsokratischen Philo- sophie zu ihren alten Freunden neue zu gewinnen, besonders in Laienkreisen, die sich fiir das Studium der Philosophie und ihrer Geschichte interessieren! Dann ware sein Zweck erreicht. SCHONTAL (WURTTEMBERG) IM DEZEMBER 1907 PROFESSOR DR. WILHELM NESTLE EINLEITUNG ENN wir von den Griechen reden, reden wir unwillkirlich zugleich von heute und gestern: ihre allbekannte Geschichte ist ein blanker Spiegel, der immer etwas wi- derstrahit, das nicht im Spiegel selbst ist.“ Mit diesen Worten charakterisiert Fr. Nietzsche ,,die Griechen als Dolmetscher“, als das Volk, aus dessen Kultur auch der moderne Mensch, wenn er sich nur die Miihe des Nachdenkens nimmt, fiir das Versténdnis der Gegenwart noch wertvolle Erkenntnis schoépfen kann. Die darin ausgesprochene Wahrheit ist der Freibrief fiir die Be- schaftigung unserer Zeit mit dem Griechentum, und wenn von irgendeinem der mannigfaltigen Erzeugnisse hellenischen Geistes, so gelten sie von der griechischen Philosophie. Schon die Tatsache, daf die Griechen philosophiert haben, hebt sie iiber viele, die Art, wie sie es getan haben, iiber alle Volker des Altertums empor. Wohl gab es auch in Indien und China eine philosophische Spekulation, aber sie verlieB nie den Boden der Religion, sondern hielt sich stets innerhalb der Grenzen des Dogmas. Persien begniigte sich mit Zarathustras religidser Reform, und das israelitisch-jiidische Volk in seiner groBartigen religidsen Einseitigkeit dachte nie daran, an die Stelle der géttlichen Offenbarung die menschliche Erkenntnis zu setzen, Die einzige Schrift, die sich einigermaBen in dieser Richtung bewegt, das Buch Hiob mit seiner Erérterung des 1* 3 Leidens des Frommen in seinem Verhaltnis zur géttlichen Ge- rechtigkeit, stellt gerade einen solchen Versuch als eine Uber- hebung und Auflehnung des Menschen gegen Gott dar und endet mit der Unterwerfung des trotzigen Dulders unter die iiberlegene gottliche Weisheit. Der Orientale kennt zwar Heilige und Propheten, aber keine ,,Weisen“ wie der Grieche. Die Rémer aber sind in der Philosophie lediglich die Schiiler der Griechen und entbehren selbst jeglicher originaler Ge- danken. Kurz, keines der antiken V6lker auBer den Griechen hat es iiber eine mittelalterliche Halbkultur hinausgebracht. Einzig und allein die Griechen haben diese Linie iiberschritten und eine Neuzeit erlebt mit allen Vorziigen und Nachteilen einer zu hellem SelbstbewuBtsein erwachten Vollkultur, in der neben Politik und Religion, Poesie und Kunst eine auf selb- standige Erkenntnis gerichtete Philosophie und Wissenschaft tritt. Nur sie waren so genial veranlagt, daB ihr Geist sich nicht verzehrte in der Lésung der praktischen Lebensaufgaben son- dern die edle MuBe fand, den héchsten Fragen nachzuden- ken. Nur sie haben eine Philosophie im modernen Sinne ge- schaffen. Dies erklart sich aus dem eigentiimlichen Doppelcharakter des hellenischen Geistes. Wir finden hier kein Uberwuchern der Phantasie iiber den Intellekt wie in Indien und kein Zuriick- treten des Gemiits hinter den niichternen Verstand wie in China, Instinktive und rationale Krafte haben im griechischen Wesen eine wunderbar harmonische Verbindung eingegangen. Hellenische Religion, Dichtung und Kunst bergen ohne Zwei- fel ein enthusiastisches Element, aber es wird durch eine rationale Strémung geklart; und in den Schépfungen des Ver- standes, der Philosophie und Wissenschaft, klingt umgekehrt ein Ton der Begeisterung mit. 4 Um die Entstehung der griechischen Philosophie zu be- greifen, miissen wir versuchen, den ersten Spuren und dem allmahlichen Fortschritt der intellektualistischen Geistesrich- tung in Hellas nachzugehen. Ihre Vorboten zeigen sich schon im Homerischen Epos. Es ist gewiB eine unbewuBte, aber eben darum um so bezeichnendere AuBerung intellektualisti- scher Denkweise, wenn das, was wir Gesinnung nennen, bei Homer als ein Wissen erscheint: ein gnadiger und gerechter Konig ,,weiB Gnadiges und Billiges“, eine sittsame Frau ,,weiB Ziichtiges“, der menschenfressende Kyklope ,,wei8 Frevel- haftes“, und ein Greis von reicher Lebenserfahrung ,,wei8 Un- zahliges“. Es ist dieselbe Anschauung, zu der sich ein halbes Jahrtausend spater Sokrates bekannte mit seiner Lehre, daB die Tugend im Wissen des Guten bestehe. Aber auch in be- wuBter Weise tritt der Intellektualismus hervor: die home- rischen Dichter nehmen zu der Volksreligion selbstandig Stellung. Nicht nur da8 alle vor dem Anthropomorphismus liegenden Stufen der Religion bei Homer iiberwunden sind, schon die Auswahl der im olympischen Gotterstaat mit Zeus an der Spitze vereinigten Gottheiten aus der Unzahl der lokalen Kulte hat eine kritisch sichtende Tatigkeit zur Voraussetzung. In diesem Sinne verstanden bleibt das Wort Herodots, da8 Homer und Hesiod den Griechen ihre Theogonie gemacht hatten, durchaus in Kraft. Und wenn diese Gdtter nur gestei- gerte Menschen sind und ihr Leben nur das Treiben ihrer Verehrer, des ritterlichen jonischen Adels, in einer von der Verganglichkeit des Irdischen befreiten Gestalt widerspiegelt, so ist dafiir diese homerische Welt frei von jedem beangstigen- den Druck, den abergliubischer Wahn auf das Gemiit des Menschen ausiibt: da herrscht keine Damonenfurcht, kein Geisterspuk, kein Zauberbann. Selbst der Tod ist von keinem 5 andern Schrecken umgeben als dem BewuBtsein eines unent- rinnbaren, aber bei seiner Allgemeinheit ertraglichen Geschicks. Kaum zeugen einige wenige Rudimente von dem in den unte- ren Volksschichten verbreiteten und noch lange Zeit machtigen Glauben an das Hereinwirken der Seelen der Abgeschiedenen in das diesseitige Leben. Herrschend ist die Vorstellung, daB sie unschadlich und freudlos im dumpfen Hause des Hades wohnen. Und die ,,leicht lebenden* Gotter sind viel mehr Ge- bilde einer reifen Kunst, Erzeugnisse einer keineswegs mehr naiven sondern ,,im Rationellen lebenden“ dichterischen Ge- staltungskraft als AusfluB religidsen Lebensernstes oder Gegen- stand frommer Andacht. Ja mitunter scheinen dies die recht weltlich gesinnten Sanger selbst zu empfinden, so daB sie in absichtlich burlesker Weise das Allzumenschliche an diesen Gdttern dem Gelachter preisgeben und zur Travestie der Reli- gion iibergehen wie z. B. in jenem in die Phaakenepisode ein- gelegten Liede von der Liebe des Ares und der Aphrodite (Od. 8, 266 ff.). Ernsthafter als zu den olympischen Gédttern schaut der homerische Mensch zu der Macht empor, der er die Unsterblichen ebenso wie die Sterblichen unterworfen glaubt: zur Moira, in der das Bediirfnis nach einer einheit- lichen Zusammenfassung des Weltregiments Befriedigung sucht und in der sich ,,eine erste dimmerhafte Ahnung der GesetzmaBigkeit alles Geschehens“ ankiindigt. Schon regen sich auch leise Zweifel, z. B. an der Unfehl- barkeit der Mantik. Wichtiger aber ist die uns schon in dieser friihen Zeit entgegentretende tiefe Empfindung des Griechen fiir die Hinfalligkeit und Verganglichkeit alles irdischen und menschlichen Wesens trotz aufrichtiger Freude an dem Leben im Lichte, das auch im Dasein des armen Tageléhners dem K6nigtum im Reich der Schatten vorzuziehen ist: 6 »Gleich wie die Blatter im Walde so sind die Geschlechter der Menschen; Einige streuet der Wind auf die Erd’ hin, andere wieder Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Friihlinges Warme: So der Menschen Geschlecht, dies wachst und jenes verschwin- det.“ Dies ist das Los der ,armen Sterblichen“, die von vielen Ubeln heimgesucht sind. Und schon erwacht auch das Nach- denken iiber den Ursprung dieser Ubel: kommen sie von den GGttern oder von den Menschen? Stehen sie mit dem Bésen m Zusammenhang? Woher siammt dies, und wie verhalt sich das menschliche Handeln zum Schicksal? Noch hat man keine oder doch nur eine sehr kindliche Antwort auf solche Fragen, und mit einer neuen Wendung, das Bose und seine Folgen geschehen ,,wider das Schicksal“, glaubt man das Problem der Willensfreiheit und der Theodizee gelést zu haben (Od. 1, 32 ff.). Zeigt sich schon darin, daB diese Fragen iiberhaupt gestellt werden, der Beginn einer Reflexion iiber den Zusam- menhang des Weltprozesses, so 148t sich auch sonst bei einer Vergleichung der Ilias und der Odyssee ein Fortschritt auf der Bahn der Vergeistigung des Lebens nicht verkennen: wahrend dort der ,,schnellfiiBige“ Achilleus der gefeiertste Held ist und der Ruhm noch durchaus auf Taten beruht, deren Vorausset- zung physische Starke ist, erscheint hier der ,,vielgewandte“ Odysseus, wenn er auch noch nicht so heiBt, schon als das Prototyp des ,Weisen‘, der durch seinen iiberlegenen Geist auch die schwierigsten Lebenslagen beherrscht und iiber- windet. Wenn schon in der Odyssee neben den adeligen Kreisen auch das biirgerliche Bevélkerungselement, die arbeitenden Stinde (dnuoeoyol), ja selbst die Geringen und Gedriickten, ys Sklaven wie Eumaios und Eurykleia, zum Worte kommen und mit sichtlicher Liebe gezeichnet sind, so versetzt uns vollends das Epos des Hesiod, dessen Vater aus dem dolischen Kyme nach Askra in Béotien eingewandert war, in eine ganz andere Welt. Der Unterschied zwischen dem homerischen und hesio- dischen Epos ist viel weniger ein zeitlicher als ein solcher der Lebens- und Gefiihlssphare. Unter dem Druck des harten bauerlichen Lebens und einer selbstsiichtigen, das Volk aus- beutenden adeligen Willkiirherrschaft kann die Phantasie des Dichters nicht den freien Flug zu den sonnigen Héhen des Olympos nehmen. Dafiir ist sein Sinn fiir die Wirklichkeit und besonders fiir die Not des Lebens noch scharfer als der der homerischen Dichter: er ist durch und durch Realist. Nicht »Liigen“, wie Homer, sondern die Wahrheit will er verkiinden; er will nicht unterhalten sondern belehren. Die Reflexion, die bei Homer nur gelegentlich hervortritt, wird hier zum be- herrschenden Motiv der Dichtung. Hesiod ist der erste grie- chische Theologe. In der ,,Theogonie“ sucht er die mannig- faltigen Uberlieferungen iiber die griechischen Gétter in ein geordnetes genealogisches System zu bringen. Dabei beginnt er zu spekulieren und, indem er die Vorstellungen vom Chaos, vom weltbildenden Eros, von Eris, dem Prinzip des Streites, u. dergl. eingefiihrt, droht sich ihm die Theogonie unvermerkt in eine Kosmogonie zu verwandeln. Doch ist er nichts weniger als ein Freigeist. So triib auch seine Lebensauffassung ist, so pessimistisch seine primitive Geschichtsphilosophie, die in seiner vom goldenen zum eisernen Zeitalter fiihrenden Ent- wicklung eine fortschreitende Verschlimmerung der Mensch- heit sieht, so daB, nachdem Scham und Zucht zum Olymp entflohen sind, dem sterblichen Geschlecht in seinem Jammer nur noch die Hoffnung bleibt, dennoch klammert er sich, so 8 schwer es ihm zuweilen wird, an den Gdtterglauben. Eine Uberzeugung bleibt ihm unerschiittert: daB nur auf der Arbeit der Segen der Gotter liege. Davon sucht er in dem den ,,Wer-. ken und Tagen“ einverleibten Riigegedicht auch seinen leicht- sinnigen Bruder Perses zu iiberzeugen. So nimmt er eine Wen- dung zur Moral, der bei ihm auch erstmals die Tierfabel (Ha- bicht und Nachtigall) dient. Er ist der erste Herold der Arbeit, die als banausisch zu verachten der Grieche nur zu sehr ge- neigt war. Nicht mehr die ritterliche Tapferkeit sondern die biirgerliche Tiichtigkeit ist ihm die ,Tugend‘ (é4ger7) und der Glaube, daB sie zu einem leidlich befriedigenden Dasein fiihre, gibt seiner Lebensanschauung ihren Halt. So mahnt er den Bruder: »Gut nur mein’ ich’s mit dir und sage dir, torichter Perses: Laster kannst du dir ohne Bemiih’n in Menge erwerben; Kurz ist der Weg dahin und nahe wohnen sie immer. Doch vor die Tugend setzten den Schwei8 die unsterblichen GOtter; Weit und steil ist der Pfad, der zu ihr fithret den Wand’rer Und gar rauh im Beginn; doch hat er die Héhe gewonnen, Geht es sich leicht darauf hin, war auch beschwerlich der Anfang.“ In ungleich héherem Ma8e als die nur selten hinter ihrem Stoff hervorblickenden Sanger des homerischen Epos steht Hesiod als individuelle Pers6nlichkeit vor uns. Und eben die Ausbildung der Persénlichkeit ist das Hauptergebnis des griechi- schen Geisteslebens in den drei Jahrhunderten von 800—500 v. Chr., yon denen die beiden ersten fiir uns leider in ziem- liches Dunkel gehiillt sind. Soviel aber ist deutlich, daB diese spatere Zeit des griechischen Mittelalters von einer gewaltigen Garung auf allen Gebieten des Volkslebens ergriffen war. Schon extensiv gewinnt das Griechentum in dieser Zeit, of- fenbar infolge starker Vermehrung der Bevélkerung und viel- facher innerer Wirren in den einzelnen Stadten, eine gewaltige Ausbreitung, indem es auBer den langst besetzten Kiisten des Agiischen auch die Gestade des Schwarzen Meeres und das westliche Becken des Mittelmeers, dazu die Nordkiiste Afrikas mit einem Kranz bliihender Kolonien umsaumt, die von Dios- kurias am Westabhang des Kaukasus bis Marseille und Empo- riae (in Spanien), von Pantikapaum auf der Halbinsel Krim bis Kyrene in Libyen und Naukratis im Nildelta reichen und deren Zentrum die zahlreichen hellenischen Stédte in Sizilien und Unteritalien bildeten, die man unter dem Namen,,GroBgriechen- land“ zusammenfaBte. Das Ergebnis war nicht nur die Zuriick- drangung des phénikisch-karthagischen Elements im Handel des Mittelmeergebiets sondern auch einerseits eine starke He- bung des nationalen Selbstgefiihls der sich als zusammenge- hérig fiihlenden Hellenen gegeniiber den ,,Barbaren“, wie es namentlich an den groBen panhellenischen Festen zum Aus- druck kam, andererseits eine bedeutende Erweiterung des geo- graphischen wie des geistigen Horizontes durch das Bekannt- werden mit andersartigen Vélkern, die teilweise, wie die Agyp- ter, eine den Griechen an Alter weit iiberlegene Kultur be- saBen. Mit dieser 4uBeren Ausdehnung des Griechentums gingen innere politische und soziale Umwdlzungen Hand in Hand. Das alte K6nigtum hatte sich langst aufgelést, aber auch die Adels- herrschaft kam jetzt ins Wanken. Denn die Landwirtschaft, wor- auf sie beruhte, begann hinter dem vorwiegend in biirgerlichen Handen liegenden Handel zuriickzutreten. An die Stelle der Naturalwirtschaft trat die Geldwirtschaft; mit der grundbesit- zenden Geburtsaristokratie trat das durch Handelsunterneh- 10 mungen wohlhabend gewordene Biirgertum in Konkurrenz. Aus der Giiterbeschaffung fiir den Unterhaltsbedarf wurde spe- kulativer Kapitalismus, und mancher vornehme Mann wie der Kodride Solon sah sich gendtigt, an der neuen Form des Geld- erwerbs durch Handel teilzunehmen. Gefliigelte Worte wie ,das Geld, das Geld macht den Mann“ oder ,, Werde Biirge und das Ungliick ist da“ sind fiir diesen Umschwung der Verhait- nisse bezeichnend. Die reichen Kreise treiben kostspieligen Luxus; Habsucht mit riicksichtsloser Ausbeutung der wirtschaft- lich Schwachen (xzAcoveéia) greift um sich. Durch die Zunahme der Sklavenarbeit sinkt die Arbeit des freien Tageléhners im Werte. Nicht selten erreichen die Verhaltnisse einen solchen Grad der Spannung, da8 Adel und Volk sich im beiderseitigen Interesse zu einem Kompromi8 gendtigt sehen, dessen Herbei- fiihrung man haufig in die Hande eines einzelnen von beiden Parteien hochgeachteten Mannes legt wie des Pittakos in Mity- lene, des Solon in Athen. Man verlangte von einem solchen Staatsmann, daB er die Gegensatze ausgleiche und der Wieder- holung leidenschaftlicher Kiampfe durch eine weitblickende Ge- setzgebung vorbeuge. In dieser Forderung nach ,,Gerechtig- keit“ und den Versuchen ihr zu geniigen durchdrangen sich politische und ethische Grundsiatze: eine Verbindung, die nicht nur fiir die Persénlichkeiten der sog. sieben Weisen und die ihnen zugeschriebenen kurzen Spriiche charakteristisch ist son- dern die bei den verschiedensten griechischen Denkern immer wieder hervortritt, bis sie in den Staatsidealen eines Plato und Aristoteles zu systematischer Darstellung gelangt. So entsteht, gegriindet auf den Glauben an die Allmacht des Gesetzes, der demokratische Stadtstaat, zunachst meist mit einer timokrati- schen Verfassung. Da und dort benutzt auch ein kluger Ari- stokrat die Zwistigkeiten zwischen Adel und Biirgertum und 11 schwingt sich, auf das letztere gestiitzt, zum Tyrannen auf wie Peisistratos in Athen. Im Interesse einer solchen Tyrannis liegt naturgemaB die Demiitigung des Adels und die Begiinstigung des ,, Volkes“. Verarmte Bauern erhalten Landanweisungen aus den Giitern der vertriebenen Edeln (xalouxdyadoi); die vom »Volk*“ besonders verehrten Gottheiten wie Dionysos bekom- men einen staatlich anerkannten Kultus; durch Auffiihrung um- fassender Bauten verschafft man dem Handwerk Verdienst; neben der Kunst erfreut sich die nationale Dichtung durch regelmaBige Vortrage von Rhapsoden an den stadtischen Festen eifriger Pflege, und die im Dionysoskult liegenden Keime der dramatischen Poesie bekommen Gelegenheit zu allmahlicher Entfaltung. Die Folge dieser Kampfe der verschiedenen Volksklassen um ihre politische und soziale Stellung war eine machtige Fér- derung der Selbstindigkeit des Individuums. Wie im festlichen Agon so konnte auch im wirklichen Kampf des Lebens nur der Leistungsfahigste den Preis gewinnen. Die Rechte der Uber- lieferung gehen groBenteils in die Briiche und viele bisher ab- hangige Personen emanzipieren sich und stellen sich auf eigene FiiBe. Die Aufwiihlung aller Leidenschaften, edler wie unedler, brachte eine heftige Steigerung des Gefiihislebens mit sich. Die Poesie verla8t die Bahn der objektiven epischen Erzahlung; der Einzelne mit allem, was er an Freud und Leid, Liebe und HaB erlebt, wird Subjekt und Objekt der Dichtung zugleich; es entstehen in wunderbarer Mannigfaltigkeit die kunstvollen Formen der griechischen Lyrik: Chorlied und Einzellied, Elegie und Jambus. Archilochos von Paros, den die Griechen dem Homer gleichstellten, als Sohn eines Adligen und einer Sklavin und in einem kampfereichen Leben viel umhergetriebener San- ger ein getreues Abbild seines ruhelosen Zeitalters, versendet 12 in seinen Jamben spitze, verletzende Geschosse gegen seine Feinde und ihm folgen Simonides von Amorgos mit seiner an die Tierfabel ankniipfenden Satire auf die Frauen und der Bet- telpoet Hipponax von Ephesos mit seinen Hinkjamben. Der Sizilianer Stesichoros versucht die alten Heroenmythen dem veranderten ethischen Empfinden der Zeit anzupassen. In einem an Goethes ,,Uber allen Gipfeln ist Ruh“ erinnernden Abend- lied Alkmans, der, aus Sardes gebiirtig nach Sparta tibersiedelte, tritt uns ein lebhaftes und tiefes Naturgefiihl als Vorbote der Naturforschung entgegen. Die Lesbierin Sappho singt von lei- denschaftlicher Liebessehnsucht und ihr Landsmann Alkdos von dem lecken Staatsschiff, das steuerlos und mit zerfetzten Segeln auf den sturmgepeitschten Wogen treibt. Anakreon von Teos, der Sanger der Lebensfreude, stimmt an den Fiirsten- hdfen eines Polykrates und Hipparch seine Leier zum Preis von Liebe und Wein, wahrend die Elegie des Kolophoniers Mimnermos in weichen Klangen die Verganglichkeit alles Sché- nen beklagt. Aber gerade die Elegie wuBte auch kraftigere Tone anzuschlagen: Kallinos von Ephesos ruft seine Mitbiirger zum Kampf gegen die wilden Kimmerier, Tyrtaios begeistert die Spartaner zum Krieg gegen Messenien, und bei Solon, Phoky- lides und Theognis stellt sich diese Dichtungsgattung in den Dienst der Sozialpolitik. Die Reflexion iiber das innere Recht der politischen und sozialen Zusténde nimmt hier einen so breiten Raum ein, daB aus der Elegie geradezu eine gromolo- gische Dichtung wird. Dabei vertritt Theognis aus Megara den Standpunkt des Junkers, fiir den die Tiichtigkeit (ager) durch die Abstammung aus adeligem Blute bedingt ist und der in der Vermischung des Adels mit dem Biirgertum nur einen, freilich unaufhaltsamen, DegenerationsprozeB erblicken kann, wahrend Phokylides im Mittelstande(uéoo:zodira:) den starksten 13 Pfeiler des Staates sieht und Solon sich riihmt, daB er ,,dem Grenzpfahl gleich auf strittigem Gebiet zwischen den Parteien stand“. Zieht man die Bilanz, so ergibt sich bei allem Fort- schritt der Kultur und bei aller Regsamkeit des Geisteslebens in dieser bewegten Zeit keine Hebung des Gliicksgefiihls. Im Gegenteil: Die Jagd nach dem Gliicke, die in den meisten Fal- len ihr Ziel nicht erreicht, verstarkt eher die schon vorher vor- handene Neigung zum Pessimismus. Im Liederbuch des Theo- gnis tritt uns erstmals die triibe Weisheit des gefangenen Silen entgegen: ,Nicht geboren sein ist das Beste und das Zweite in der Jugend zu sterben‘, und eine asopische Fabel erzahlte, Pro- metheus habe den Ton, woraus er die Menschen gebildet, nicht mit Wasser sondern mit Tranen befeuchtet. Der Einzelne hat es schwer, sich in der ihn umgebenden Welt zu behaupten. Trotz alles Strebens nach Gerechtigkeit empfindet man das Leben als hart und ungerecht: ungerecht die Menschen, unge- recht die Gétter! Dies gibt dem Denken einen neuen AnstoB und erweckt ein starkes Verlangen nach einem festen Halt. Immer dringender wird das Bediirfnis, Menschenleben, Welt und Gottheit in Einklang zu bringen. Dazu zeigt sich in dieser Zeit wie als Reaktion gegen die wilden Ausschreitungen leiden- schaftlicher und blutiger Parteikampfe ein weitverbreitetes und tiefgehendes religidses Angstgefiihl, das durch schwere Un- gliicksfalle wie den Ausbruch epidemischer Krankheiten noch gesteigert werden mochte. Man fiirchtete in den Augen der Gédtter eine Befleckung (uéacya) auf sich geladen zu haben, die »Reinigung‘ und Siihnung erheischte: mindestens die Vorstufe eines den homerischen Menschen noch ganz fremden Siinden- bewuBtseins. Propheten und Siihnpriester durchzogen die Lande, um an einzelnen Menschen und ganzen Bevélkerungen solche Reinigungen zu vollziehen. So lie8 man in Athen am 14 Ausgang des 7. Jahrhunderts, erschreckt durch eine Pest, die nach der unter Verletzung des Asylrechts erfolgten Ermordung der Anhanger des nach der Tyrannis strebenden Kylon ausge- brochen war, den Wundermann Epimenides von Kreta kommen, der die Stadt unter Zeremonien entstihnte, die eine merkwiir- dige Ahnlichkeit mit dem im Orient gebrauchlichen Opfer des »oundenbockes“ hatten (Lev. 16). Eine starke Bewegung, die auf die Beseitigung einer fiihlbar gewordenen Entzweiung zwi- schen Gottheit und Menschheit hinstrebt, bricht sich Bahn und erreicht ihr Ziel in den Lehren einer religidsen Mystik. Nur wenig beriihren sich mit diesen Tendenzen die My- sterien von Eleusis, wo indem Kultus der alten Bauerngottheiten, der Demeter mit ihrer Tochter Kore und des Dionysos-Jakchos die Gemeinde der Eingeweihten nicht in eine irgendwie dog- matisch formulierte Theologie eingefiihrt sondern durch dra- matisch-pantomimische Vorfiihrungen der besonderen Gnade dieser G6tter im irdischen wie im jenseitigen Leben versichert wurde. Dagegen erscheint die Mystik im Sinn eines Strebens nach Vereinigung des Menschen mit der Gottheit im Gefolge einer fremden Religion, des orgiastischen Dionysoskultes, der aus dem thrakischen Norden einer Sturmflut gleich tiber Hellas dahinbrauste und selbst das Orakel des Apollo in Delphi er- oberte, wo an die Stelle der alten Zeichendeutung die Inspi- rationsmantik trat. Im wilden Taumel seiner rauschenden Feste glaubten Verehrer und Verehrerinnen des Gottes — denn be- sonders auch Frauen nahmen daran teil — selbst zu ,Bacchen‘ zu werden. Was hier einzelne Gottbegnadete in Augenblicken der Ekstase erlebten, das gewann in den Lehren der an den Namen des zuerst von Ibykos erwahnten sagenhaften Sangers Orpheus sich kniipfenden Sekte eine gedankenmaBige Aus- 15 gestaltung. Im Anschlu8 an den Mythus von dem durch die Titanen zerrissenen und durch Zeus zu neuem Leben umge- schaffenen Dionysos-Zagreus verkiindigten die Orphischen My- sterien die Lehre von der durch Schuld herbeigefiihrten Zer- teilung des Einen Gottwesens in die Vielheiten der Gestalten dieser Welt. Auch die menschliche Seele ist durch eine Art Siindenfall ihres géttlichen Daseins verlustig gegangen und in die ,Haft‘ oder das ,Grab‘ des Leibes (o@a-o7jjua) gebannt worden. Die Sinnlichkeit ist das Prinzip des Bésen, und daher ist die Aufgabe, die Seele von der Gebundenheit an den Leib zu erlésen. Der Weg dazu ist die Askese, besonders die Ent- haltung von jeglichem BlutvergieBen, also auch von Fleisch- nahrung. Aber das Ziel kann erst nach einer langen Reihe von Geburten erreicht werden, welche die Seele durch Menschen- und Tierleiber fiihrt mit lauternden Zwischenstufen im Hades, wo sie, je nach ihrem Verhalten auf der Oberwelt, durch Strafen im Tartarus ihre Vergehen biiBen muB oder an dem beseli- genden ,,Mahl der Frommen* teilnehmen darf. ,,Was du getan, erleide“ — das ist der strenge Spruch der orphischen Heils- lehre. Endlich aber werden die wirklichen ,Bakchen‘, die nicht bloB ,Narthexschwinger‘ waren, aus dem Kreise der Geburten entrinnen und die selige Wiedervereinigung mit der Gottheit erlangen. : Es tritt uns hier zum erstenmal in der griechischen und europaischen Geistesgeschichte eine ausgesprochen du alistische Weltanschauung entgegen, deren eindrucksvolle Gegensatz- paare Gott und Welt, Seele und Leib, Reinheit und Siinde, Himmel und Holle sind. Aber in den beiden Halften, in die er das All zerlegt, sucht der Orphismus je eine Einheit herzu- stellen. Die G6tter des Polytheismus werden ihm zu personi- fizierten Begriffen, und obwohl er von dem Versuch Theogonien 16 zu bilden nicht ganz loskommt und von der Gottervermischung nicht vollstindig zu einer einheitlichen und einzigen Gottheit durchdringt, sind ihm doch die Namen der Gotter im Grunde nur verschiedene Bezeichnungen der mannigfaltigen Krafte des die Welt durchwaltenden gottlichen Wesens: »Eins ist Hades und Zeus und Helios und Dionysos; Ein Gott wohnet in allen,“ Und besonders hat der orphische Zeus mit dem homerischen ,Vater der GOtter und Menschen‘ fast nichts mehr gemein. Er ist zum Allgott geworden: »Anfang Zeus, Zeus Mitte, in Zeus ist alles vollendet.“ So tritt der Orphismus bis an die Schwelle des Pantheismus . heran, ohne sie doch zu iiberschreiten. Und wie die Gottheit so sucht er auch die Welt der Erscheinung einheitlich zu be- greifen. Der Ansatz zu einer gesetzmaBigen Auffassung alles Geschehens, der in der homerischen Moira liegt, erscheint hier bewuBt fortgebildet zu dem allerdings auch noch in mythischer Personifikation verhiillten Begriff des Weltgesetzes ?Avdyxm, Adpdoteia, Minn, Nouos), das gleichermaBen das physikalische wie das moralische Gesetz in sich faBt, flieBen doch den Or- phikern beide Gebiete ineinander, indem sie auch das natiir- liche Werden und Vergehen der Einzelwesen als Schuld und BuBe zu verstehen suchen. Wahrscheinlich sind sie es gewesen, die zuerst den bildlichen Ausdruck Kosmos fiir das geordnete und nach festen Gesetzen sich bewegende Weltall verwen- det haben. Diese orphische Lehre war um die Mitte des 6. Jahrhunderts bis nach Athen vorgedrungen, wo am Hof der Peisistratiden Onomakritos als ihr Hauptvertreter erscheint; aber auch iiber 2 Vorsokratiker 1 7 GroBgriechenland muB sie sich friihe verbreitet haben. In den unteren Volksschichten verlor sie sich in ein von viel Aber- glauben erfiilltes Konventikelwesen. Aber wie sie in ihrem Streben nach Einheit sowohl in der Auffassung der Gottheit als der Welt unverkennbare rationale Elemente enthalt, so haben auch ihre mystischen Ideen auf viele der vorsokratischen Denker und dann namentlich auf Plato mehr oder minder stark einge- wirkt. Und dies ist nicht zu verwundern; denn beide Geistes- richtungen, Mystik und Philosophie, sind insofern verwandt, als die eine wie die andere aus dem Ungeniigen der iiber- lieferten Religion entspringt, hier des griechischen Polytheis- mus, tiber den die edelsten Geister der hellenischen Welt um diese Zeit intellektuell und moralisch hinausgewachsen waren. Eine eigentiimliche Mittelstellung zwischen dem Orphismus und der Philosophie nimmt Pherekydes von Syros ein, der, halb Theologe und halb Naturforscher, um die Mitte des 6. Jahrhunderts eine prosaische Schrift mit dem Titel ,,Fiinf- schluft* (zevtéuvyoc) verfaBte. Er trug darin eine noch recht phantastische Weltbildungslehre vor, an der aber bemerkens- wert ist, daB zu den weltbildenden Gottheiten, deren oberste Zas (statt ,Zeus‘: der Lebendige von (dw) heiBt, fiinf Ele- mente treten, wahrscheinlich Feuer, Luft, Wasser, Erde und Tartarus. Auch die Seelenwanderung soll er gelehrt haben. Seine Sternwarte wurde noch in spater Zeit gezeigt, und eine Delische Legende erzahlte, Apollo habe ihn an einer schreck- lichen Krankheit sterben lassen, weil er sich geriihmt habe, gliicklich zu leben, obwohl er nie einem Gotte geopfert habe. Der letzte entscheidende Schritt von der Theologie zur Philo- sophie wurde in Jonien getan, in den kleinasiatischen See- stadten, wo das ritterliche Epos und die Lyrik erbliiht war und wo bald auch die geographisch-geschichtliche Forschung sich 18 zu entfalten begann. Manches begiinstigte hier, ganz abgesehen von der verstandesmaBigen Klarheit, der raschen Beweglich- keit und dem starken Drang nach individueller Auspragung der Persénlichkeit, wie sie im jonischen Wesen lag, die Eman- zipation des Geistes aus den Fesseln der Uberlieferung. Die lydische Herrschaft war nie driickend gewesen, und auch die persische, die 545 an ihre Stelle trat, engte wenigstens das geistige Leben in keiner Weise ein. Dagegen war das klein- asiatische Hinterland nicht nur fiir den Handel von Stadten wie Milet und Ephesos von gré8ter Bedeutung, sondern durch dasselbe drangen iiber Sardes auch geistige Anregungen aus dem alten orientalischen Kulturzentrum Babylon an die Kiiste. Dazu kam der Verkehr mit dem seit der Mitte des 7. Jahr- hunderts den Fremden erschlossenen Agypten, zu dessen ur- alter Kunst, Religion und Wissenschaft die dorthin reisenden Griechen, wie Hekataios von Milet, mit staunender Ehrfurcht emporsahen. So sah man Neues und verwunderte sich dariiber, und solches Verwundern ist ja nach Aristoteles die Quelle alles Philosophierens. Dazu kam noch, daB die praktischen Bediirf- nisse der Schiffahrt nicht nur zur aufmerksamen Beobachtung der Lander und Meere sondern auch der Sterne am Himmel anregten, nach denen der Schiffer bei nachtlicher Fahrt seinen Weg richten muBte. Schon die Odyssee kennt die Sternbilder des Orion und des groBen Baren; an die Namen eines Phokos von Samos und Kéeostratos von Tenedos kniipft sich die Uber- lieferung von alter astrologischer Dichtung, und bezeichnen- derweise wurde auch dem ersten griechischen Philosophen, Thales von Milet, eine ,,nautische Astrologie“ zugeschrieben. Nimmt man diese besonders giinstigen Bedingungen mit dem allgemeinen Charakter des griechischen Geisteslebens im Be- ginn des 6. Jahrhunderts zusammen, so wird es begreiflich, 2° 19 daB gerade Jonien die Wiege der griechischen Philosophie wurde, Man pflegt die vorsokratische Philosophie in der Regel als Naturphilosophie zu bezeichnen und nicht ohne ein gewisses Recht. ,Physiker‘ wollen diese Denker sein, und ,,Von der Natur“ ist der stets wiederkehrende Titel ihrer Schriften. Die Beobachtung und Anschauung (@ewgeeiv) der Natur bildet den Ausgangspunkt ihres Denkens und, da Sokrates von der Natur- betrachtung sich grundsatzlich abwandte und die Spekulation iiber das Wesen der Sittlichkeit in den Mittelpunkt der Philo- sophie riickte, ist es durchaus berechtigt, hier einen Einschnitt zu machen. Nur darf die vorsokratische Philosophie nicht als ein bloBes Vorspiel der von Sokrates, Plato und Aristoteles ge- schaffenen philosophischen Trilogie betrachtet werden. Schon die Tatsache, daB die Stoa auf Heraklit, der Epikureismus auf Demokrit, die Skepsis auf die Eleaten und Sophisten zuriick- griff, widerlegt die Meinung, als ob mit der Aufstellung des platonischen und aristotelischen Systems die vorsokratischen Denker ein fiir allemal widerlegt und abgetan gewesen waren. Vielmehr handelt es sich um zwei verschiedene Arten zu philo- sophieren, von denen die eine die Anschauung der Natur, die andere die Bildung von Begriffen zugrunde legt. Ubrigens ist es ebenso schief, die vorsokratische Philosophie nur aus Einer Quelle, etwa dem rationalistischen oder dem mystischen Drange der Zeit oder gar nur aus den wirtschaft- lichen Verhaltnissen herleiten als sie auf ein einziges Ziel, etwa die Ergriindung des Ursprungs alles Seins zumal in der Formu- lierung des Stoffproblems, festlegen zu wollen. Vielmehr sind es eine ganze Reihe von Fragen, die sie beschaftigen. Im Mittel- punkte steht allerdings diejenige nach dem Wesen der ,Natur*. Aber der Grieche fand in dem Worte gvcic nicht die Bezeich- 20 nung eines abgeschlossenen Zustands, eine ,,natura naturata“, sondern er hérte vielmehr die Bedeutung des Naturprozesses, einer ,,natura naturans“ heraus, und so wird ihm die Frage nach dem Wesen der Natur zum Problem des Werdens und Ver- gehens. Was dabei den ,Grundstoff* bilde, ist nur eine der sich dabei erhebenden Fragen. Dazu kommt ferner das Problem der Zweckmabigkeit in der Natur, nicht zum wenigsten im tierischen und menschlichen K6rper, die tief in die ganze Weltanschauung eingreifenden astronomischen Fragen und schlieBlich die Unter- suchung des menschlichen Erkenntnisvermégens. Schon da- mit ist angedeutet, daB der Mensch aus dem Gedankenkreis der vorsokratischen Philosophie keineswegs ausgeschlossen ist. Aber auBerdem werden da, wo die Mystik einwirkt, sowie bei Demokrit und den Sophisten auch die ethischen Fragen be- riihrt; ja es finden sich sogar sehr bemerkenswerte Versuche zu einer psychologischen Erklarung der Entstehung der Reli- gion im Zusammenhang mit der Entwicklung der mensch- lichen Kultur. So diirfen die vorsokratischen Philosophen einschlieBlich der Sophisten durchaus nicht als durch die nachfolgende Ent- wicklung schlechthin iiberwunden betrachtet werden. Diese vornehmen, groBen Personlichkeiten, deren jede aus innerstem Drange sich ihre Gedankenwelt schafft, haben ihre selbstan- dige Bedeutung. Manche unter ihnen stehen dem mit so gro- Bem Interesse naturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Forschung sich zuwendenden modernen Denken und Emp- finden naher als Plato und Aristoteles, und von ihren Ideen hat die eine und andere, wie z. B. die Atomtheorie, die neu- zeitliche Wissenschaft und Philosophie direkt befruchtet. Wenn wir in andern Fallen iiber die naive Losung der Probleme zu lacheln geneigt sind, die in der Neigung der Griechen zu ver- 21 friihtem Systematisieren ihren Grund hat, so diirfen wir nicht vergessen, da8 in diesen Dingen die Fragestellung fast ebenso wichtig ist wie die Beantwortung. Und wenn es wahr ist, daB bei allem menschlichen Tun der Anfang das Schwerste und das Entscheidende ist, so gebiihrt diesen ehrwiirdigen Mannern, die zuerst den entscheidenden Schritt vom Mythus zum Logos getan haben, das grdBte Verdienst: sie sind nicht mehr und nicht weniger als die Begriinder der europadischen Philosophie und Wissenschaft. wggen Reigen der griechischen Philosophen fiihrt \ Thales von Milet an, der Sohn eines karischen Vaters und einer griechischen Mutter. Er gehdort izum Kreis der 7 Weisen, unter denen ihm das Altertum den Preis der Weisheit zuerkannte. Den jonischen Stadten gab er den Rat, sich gegen die drohende persische Ge- fahr zu straffer politischer Einheit zusammenzuschlieBen. In Agypten, wohin ihn vielleicht seine Handelsunternehmungen fiihrten, soll er sich insbesondere mathematische Kenntnisse er- worben haben, worauf man die ihm zugeschriebenen Elemen- tarsatze der Geometrie zuriickfiihrte. Seinerseits lehrte er die Einheimischen die Héhe der Pyramiden an deren Schatten messen und versuchte sich an einer allerdings verfehlten Er- klarung der Nilschwelle. In Milet konstruierte er einen Distanz- messer zur Bestimmung der Entfernung der an Land in Sicht kommenden Schiffe. Nautische Bediirfnisse waren es jedenfalls auch, die ihn zur Himmelsbeobachtung anregten und zu der Erkenntnis fiihrten, daB die Sterne des kleinen Baren am sichersten dem Schiffer die nérdliche Richtung wei- sen. Am meisten Aufsehen erregte seine Vorhersage der Sonnen- finsternis vom 28. Mai 585, deren Schrecknis die am Halys 22 einander gegeniiberstehenden Heere der Meder und Lyder zur friedlichen Beilegung ihres Streites bewog. Er muB sie mittels der babylonischen Sarosperiode berechnet haben, die ihm tiber Sardes oder Agypten bekannt geworden sein mag. Denn sein eigenes Weltbild war noch ganz primitiv: er dachte sich die Erde wie ein Stiick Holz auf dem Wasser schwimmend, von dessen Bewegung er auch die Erdbeben ableitete. Als sein philosophischer Hauptsatz gilt die wohl mit Riicksicht auf die Feuchtigkeit des animalischen Samens und der Nahrung von Tieren und Pflanzen aufgestellte Behauptung, alles sei aus Wasser geworden, eine Lehre, die Paracelsus im 16. Jahrhun- dert wiederholte. Mit der Aufstellung dieses Prinzips eilt die philosophische Idee in ihrem Streben die Welt als Einheit zu erfassen der physikalischen Erkenntnis, die noch ganz mangel- haft ist, voraus, Wenn Thales, veranlaBt durch die Beobachtung der Anziehungskraft des Magnets und verwandter Eigenschaf- ten des Bernsteins (Elektron) auch das ,,Seelenlose fiir beseelt“ erklarte und sagte, ,,alles sei voll von Damonen“, so ist dieser »Panentheismus‘ nicht sowohl ein Rest von altem Fetischismus sondern nur ein Beweis, daB Thales allerdings nicht Materialist sondern Hylopsychist war: die ganze Natur erscheint ihm durch alle Stufen und Formen der Wesen, organischer wie an- organischer, von gleichartigen Kraften beherrscht. Aber die mythische Denkweise ist abgestreift, ein einheitliches Prinzip gewonnen. Geschrieben hat Thales noch nichts, auch keine mautische Astrologie‘, wie man spater meinte. Doch gab es vielleicht ein altes Verzeichnis von Spriichen des Milesiers, das schon der Sophist Hippias benutzt zu haben scheint. Einen gewaltigen Fortschritt iiber Thales hinaus bedeutet die Gedankenschépfung seines jiingeren Mitbiirgers Azaxi- mander, der, als Begriinder der milesischen Kolonie Apollonia ba: am Schwarzen Meer wie jener politisch tatig, zuerst ,den Mut fand“ als philosophischer Schriftsteller aufzutreten. Nur ein einziger Satz (fr. 1) ist uns aus seiner Schrift erhalten, der uns zweierlei zeigt: einmal da8 er unter dem Einflu8 orphischer Mystik die Existenz der Einzelwesen als eine unrechtmaBige Emanzipation vom ewigen Sein auffaBte und damit die Not- wendigkeit ihres Untergangs begriindete (ahnlich wie Schopen- hauer wenigstens iiber das menschliche Dasein dachte) und ferner, daB er bei der Kosmogonie der Orphiker sich nicht be- ruhigte sondern die Entstehung der Welt in eigenartiger Weise zu erklaren suchte. Sein ,,Apeiron“ ist nicht nur zeitlich (und vielleicht auch raumlich) grenzenlos sondern zugleich unbe- stimmt, qualitaitslos etwa wie das Kantische ,Ding an sich‘ oder, da doch der Charakter des Stoffes festgehalten wird, noch eher wie unser moderner Begriff der Materie. Nur dies Grenzenlose und Unbestimmte ist ewig, zugleich MutterschoB und Grab alles individuell Begrenzten und Bestimmten. In diesem Sinne ist das Apeiron das ,Prinzip‘ (4977) des in einem unendlichen Kreislauf des Entstehens und Vergehens sich vollziehenden Weltprozesses, und Anaximander hat wahrscheinlich zuerst diesen Terminus in die Philosophie eingefiihrt. AuBer diesen hohen Grundgedanken weist aber seine Weltanschauung noch eine Reihe fruchtbarer Ideen im einzelnen auf. Die Entstehung der Gestirne dachte er sich durch Abschleuderung von einem geborstenen Feuerkreis entstanden, womit man die Kant-La- placesche Theorie vergleichen mag. Er zuerst faBte den kiihnen Gedanken, daB die Erde, die er sich tamburinférmig vorstellte, frei in der Mitte des Weltraumes schwebe (wovon vielleicht ein fernes Echo Hiob 26, 7). Die Annahme, da8 Tiere und Men- schen, durch die Einwirkung der Warme im feuchten Erd- schlamm entstanden, zuerst fischartige Gestalt gehabt hatten und 24 zu ihrem Schutz mit einem stachligen Panzer umgeben gewesen seien: Formen, die dann spater untergegangen seien, reiht ihn trotz der barocken Ausfiihrung des Gedankens unter die grie- chischen Vorganger Darwins ein. Er war es auch, der den ersten Himmelsglobus anfertigte, die erste Erdkarte entwarf, zu der spater sein Landsmann Hekataeos in seiner Erdbeschreibung (megiodos yijs) einen Text verfaBte, und die den Babyloniern langst bekannte Sonnenuhr (yy@uwy) bei den Hellenen ein- fiihrte. So hat schon in seiner Person die Philosophie die Schale der Mystik mit machtigem Drucke gesprengt und ist aus mystischem Dunkel an das Tageslicht selbstandigen For- schens und Denkens herausgetreten. Der dritte ebenfalls noch dem 6. Jahrhundert angehdrige milesische Philosoph Anzaximenes, der als Schiiler Anaximan- ders gilt, ging mit seiner Grundanschauung wieder hinter die groBe Errungenschaft seines Meisters zuriick, indem er alles Gewordene aus dem bestimmten sinnlich wahrnehmbaren Stoff der Luft ableitete. Doch bringt er etwas Neues bei, indem er auch die Art und Weise des Werdens naher zu bestimmen suchte: durch Verdiinnung der Luft sollte das Warme, also Feuer, entstehen, durch Verdichtung das Kalte (fr. 1), genauer: Wind, Gewdlke, Wasser, Erde, Steine. Die ganze Anschauung des Anaximenes erscheint als ein groSartiger Anthropomor- phismus: die Wahrnehmung, da8 das menschliche Leben auf der Atmung beruhe, und die den uralten schon in den sprach- lichen Bezeichnungen der Seele (xvedua, wvy7, Pvudc, anima, spiritus) ausgedriickten Glauben hervorrief, diese bestehe aus Luft, wurde auf das Weltganze iibertragen (fr. 2. 3). Anaxime- nes ist der erste Philosoph, der, vielleicht im AnschluB an or- phische Terminologie, die Welt ,Kosmos‘ nennt. Sein astro- nomisches Weltbild ist als Ganzes ohne bleibende Bedeutung; 2) doch soll er erkannt haben, daB der Mond sein Licht von der Sonne habe. Auch beobachtete er erstmals den Mondregen- bogen und das Meerleuchten. Von der Stellung der milesischen Denker zur Religion wissen wir nichts Sicheres. Jedenfalls haben sie sich noch aller Polemik enthalten. Aber es kenn- zeichnet den Umschwung der Weltanschauung seit der Home- rischen Zeit, daB Iris in der Ilias die Botin der Gdtter, bei Anaximenes eine physikalisch deutbare atmospharische Er- scheinung ist. In neue Bahnen lenkte die Philosophie Pythagoras von Sa- mos, der sich zuerst, ,piAdoogos‘ genannt haben soll. Nachdem er von weiten Reisen, auf denen er auch nach Agypten kam, zuriickgekehrt war, soll die Tyrannis des Polykrates fiir ihn der AnlaB geworden sein, die Heimat zu verlassen und nach Kro- ton in Unteritalien auszuwandern. Er selbst hat nichts geschrie- ben; nur in miindlicher Uberlieferung (,abrd¢ pa‘) lebten seine Lehren fort. Die Nachrichten iiber ihn lassen uns kaum mehr als den gigantischen Schatten einer machtvollen Persénlichkeit erkennen, die eher den Eindruck eines religidsen Reformators als eines Philosophen macht. GewiB ist, daB er mit den Or- phikern die Lehre von der Seelenwanderung teilte, auf die sich das den Mitgliedern des von ihm gestifteten Ordens vorge- schriebene ,Pythagoreische Leben‘ griindete. Das Ziel desselben, »die vollkommenste Frucht der Philosophie“, war die Erlésung aus dem Kreis der Geburten. Recht wohl lassen sich damit die aristokratischen Tendenzen des pythagoreischen Bundes ver- einigen; denn vornehme Stellung in der Welt galt als ein Zei- chen dafiir, daB ihr Inhaber auf der hdchsten Stufe seiner ir- dischen Daseinsformen angelangt sei. Und die Rolle, welche die Frauen von Anfang an in den pythagoreischen Kreisen spie- len, hat sicher ihren Grund nicht blo8 in der héheren Schat- 26 zung des Weibes bei den Doriern sondern mehr noch in der von der Seelenwanderungslehre vorausgesetzten Wesensgleich- heit aller organischen Geschépfe. Obgleich die Lehre des Py- thagoras einen vorwiegend religidés-ethischen Charakter getra- gen haben muB8, so hat sie doch jedenfalls auch einen Keim wissenschaftlicher Forschung in sich geborgen. Da8 Pythagoras ein umfassendes auf Erkundung (fotogin) beruhendes Wissen besaB, bezeugt Heraklit, und miiBte auch ohnedies aus der Ent- wicklung seiner Schule geschlossen werden. Diese scheint sich jn zwei Richtungen gespalten zu haben: eine religidse, welche die asketischen Lebensregeln des Meisters peinlichst beobach- tete und sich bald in aberglaubischen Wahn verlor (die ,Akus- matiker‘), und eine wissenschaftliche, welche die vorhandenen Ansatze zu philosophischem Denken weiterbildete (die ,Mathe- matiker‘). Die Grenze zwischen dem geistigen Eigentum des Lehrers und der Schiiler zu ziehen ist nicht mehr mdglich. Sicherlich hat jedoch zu den 4ltesten Bestandteilen pythago- reischer Philosophie die Erkenntnis gehért, daB die Hohe der Tone von der Lange der Saiten des musikalischen Instruments abhangig ist und daB der musikalischen Harmonie bestimmte mathematische Verhaltnisse zugrunde liegen. Von da aus ge- langte man zu der in der pythagoreischen Zentrallehre formu- lierten Verallgemeinerung, daB das Wesen aller Dinge die Zahl sei. Vielleicht tragt auch der nach Pythagoras benannte geo- metrische Lehrsatz, der ibrigens auch den Indern bekannt war, nicht ohne Grund seinen Namen. Den héchsten Ruhm der py- thagoreischen Schule bildet aber die jedenfalls schon sehr friihe gemachte Entdeckung der Kugelgestalt der Erde und der tib- rigen Weltkérper, mag der Satz, die Kugel sei der vollkom- menste K6rper, Grund oder Folge dieser Erkenntnis sein. End- lich scheint die in ihrem Alter unbestimmbare, aus einer ,Hades- 27 fahrt‘ stammende Legende, Pythagoras habe den Homer und Hesiod in der Unterwelt Strafen erleiden sehen ,,fiir das, was sie fiber die Gotter gesagt hatten“, auf ein bei den Pythagoreern vorhandenes Streben nach Lauterung der Volksreligion zu deuten. So sah die Nachwelt in Pythagoras teils einen Denker und Forscher von iiberragender Bedeutung teils einen Wunder- mann, den die tippig wuchernde Sage schlieBlich zum ,,GroB- meister des Aberglaubens“ werden lieB. GroBen Ansehens erfreute sich bei den Pythagoreern die mit der Athletik verwandte Heilkunde. Demokedes von Kroton, der im Dienst der Stadte Athen und Agina, des Tyrannen Poly- krates und des Perserkénigs Darius mit groBem Erfolg tatig war, begriindete den Weltruf der griechischen Arzte, die ihre agyptischen Kollegen allmahlich in den Schatten stellten. Der bedeutendste Vorganger des Hippokrates aber war der Pytha- goreer A/kmaeon von Kroton, der als junger Mann den greisen Pythagoras noch gekannt haben soll, Arzt und Philosoph in Einer Person. Er ist der Begriinder der Physiologie. Auf Tier- sektionen gestiitzt fand erim Gehirn das Zentralorgan der Geistestatigkeit. Als Chirurg wagte er zuerst die Operation, ein Auge auszunehmen. Die Gesundheit schien ihm in der gleich- maBigen Verteilung der Stoffqualitaten im KOrper zu bestehen, Krankheit in der Strung dieses Gleichgewichts (fr. 4). Die kér- perliche Entwicklung des Menschen ist kein Kreislauf sondern geradlinig und zwar schlieBlich eine fortschreitende Abnahme: dies ist der Sinn des merkwiirdigen dritten Bruchstiicks (fr. 3). Auch auf dem schwierigen Gebiet der Psychologie tat er die er- sten Schritte, indem er sinnliche Wahrnehmung (aio#naic), Ge- dachtnis (un), Vorstellung (ddéa), Erkenntnis (éot7n) unterschied und nur dem Menschen die Fahigkeit des Denkens (vévax)zuschrieb (fr. 2). Der Grenzen menschlichen Wissens ist 28 er sich wohl bewuBt: nur die Gotter besitzen Gewi8heit, die Men- schen miissen sich bei der Wahrscheinlichkeit bescheiden (fr. 1). Der GrdBten einer unter den jonischen Denkern war Xeno- phanes von Kolophon. Mit 25 Jahren verlieB er, vielleicht um sich der Herrschaft der Perser zu entziehen, seine Vaterstadt, durchwanderte fast 70 Jahre lang (fr. 5) die hellenischen Lande und sah wohl auch manche aufergriechische Gegend. Beson- ders Sizilien bereiste er: Messana, Catania, Syrakus, wo er am Musenhof des Kénigs Hieron noch Simonides und Pindar, Epicharm und Aschylos kennen gelernt haben wird. In Elea in Unteritalien fand er schlieBlich eine neue Heimat. Sein nahezu hundertjahriges Leben (c.570 — 475) umschloB eine Reihe welt- umgestaltender Ereignisse: den Sturz der Lyderherrschaft durch Kyros, den miBgliickten jonischen Aufstand, die siegreichen Kampfe der Hellenen im Osten gegen Persien, im Westen gegen Karthago. Seines Berufs Rhapsode wurde er selbst Dichter und besang in verlorenen Epen die Griindungsgeschichte von Ko- lophon und Elea. In seinen kleineren Gedichten, namentlich den Elegien, zeigt er eine gesunde Lebensfreude, die auf ernstem Grunde ruht, und Sinn fiir behagliche Gemiitlichkeit (fr. 1. 6). Seine satirische Ader zeigte sich in den ,Sillen‘ betitelten Spott- gedichten. Er ist kein Freund der Stille und Zuriickgezogenheit sondern eine kampfesfrohe Natur. Von einem starken Selbst- bewuBtsein getragen macht er fiir die neue Geistesbildung (cogin), als deren Herold er auftritt, Propaganda und erklart gerade dem spezifisch hellenischen Schénheitskultus, wie er in dem von Pindar noch gleichzeitig verherrlichten ritterlich athletischen Sport zum Ausdruck kam, den Krieg (fr. 2), wahr- scheinlich keineswegs bloB theoretisch sondern mit der Absicht auf die Politik Einflu8 zu gewinnen, in der Pythagoreer wie Milon von Kroton die entgegengesetzte Auffassung vertraten. 29 Das kiihnste aber war, da8 er sich nicht scheute, an das Heilig- tum der Hellenen, das nationale Epos des Homer und Hesiod, mit kecker Hand zu riihren (fr. 7—9; 1 am Ende). Mochte Hie- ron dariiber spotten, fiir ihn war diese Polemik eine unausweich- liche Notwendigkeit: sie brach aus dem innersten Heiligtum seines Herzens, aus seiner philosophischen Gottesanschauung hervor. Ausgegangen vom MiBtrauen gegen die Sinneswahrnehmung (fr. 14), womit er den ersten Schritt auf der Bahn zur Erkennt- niskritik tat, und wenigstens in jiingeren Jahren nicht frei von skeptischen Anwandlungen (fr. 15. 16), muB er im Lauf seines langen Lebens doch im folgerichtigen Denken ein sicheres Prin- zip gefunden und darauf eine feste philosophische Uberzeugung gegriindet haben. Denn eben dies macht ihm der Skeptiker Ti- mon von Phlius zum Vorwurf. Den Mittelpunkt derselben bil- dete sein pantheistischer Gottesbegriff. Er entkleidet die Gottheit aller anthropomorphistischen und individualisierenden Ver- hillungen: Gott ist ihm unpers6nlich in der kugelférmig ge- dachten Welt, die seine 4uBere Erscheinungsform ist, mit ,dem All verwachsen‘. Nur eine ganzliche Verkennung der Tragweite dieser Grundanschauung konnte den Monotheismus des Xeno- phanes bezweifeln und ihm, dem ,Homerzerstampfer‘, der auch die Mantik grundsatzlich und ohne jeden KompromiB verwarf, neben seiner Allgottheit noch die Anerkennung der Volksgét- ter zuschreiben: eine Ansicht, die durch das vollwichtige Zeug- nis, Xenophanes habe jede Art von Herrschaft der Gotter iiber- einander bestritten und die absolute Bediirfnislosigkeit gétt- lichen Wesens hervorgehoben, sowie durch seine miBbilligen- den AuBerungen iiber bestehende Kulte als ausgeschlossen er- scheint. Im Vergleich mit seiner Theologie ist die Physik des Xe- 30 nophanes, deren astronomische Theorien in der Uberlieferung durch MiBverstandnisse entstellt zu sein scheinen, von geringe- rem Belang. Die kugelférmige Erde wurzelt im Unendlichen (fr. 21). Urspriinglich war sie von Wasser bedeckt, dessen Rest das durch Verdunstung immer weiter zuriickgegangene Meer ist (fr. 25). Von dessen fritherer Ausdehnung zeugen ihm fossile Tier- und Pflanzenreste, die er auf Paros und Malta und bei Syrakus beobachtete: ein erster Ansatz zu geologischer For- schung. Die Organismen lie er wie Anaximander aus dem Erdschlamm hervorgehen (fr. 22—24). Im Regenbogen (fr. 27) und St. Elmsfeuer, das der Volksglaube auf die Dioskuren zu- riickfiihrte, erkannte er atmospharische Erscheinungen. Originaler als in diesen physikalischen Theorien zeigt sich Xenophanes in seinem Interesse fiir den Menschen und seine Kultur. Von seiner Psychologie wissen wir zwar nichts als da8 er die Seele fiir Luft (zveda) erklart haben soll, und auch von einer Ethik ist, abgesehen von dem allgemeinen Grundsatz ge- recht zu handeln (fr. 1), einer sehr verstandigen Bemerkung iiber den Eid, dessen Garantie nur in der Gewissenhaftigkeit des Schworenden liege, und einer das Wiirfelspiel verurteilenden AuBerung noch keine Rede. Dagegen zeigt ihn die Schilderung seiner ippigen Landsleute (fr. 4) als aufmerksamen Beobachter, und eine Notiz iiber die Erfindung des Geldes durch die Lyder spricht fiir kulturgeschichtliche Kenntnisse. Wichtiger aber als diese Einzelheiten ist der Gedanke, daB die menschliche Kultur allmahlich fortschreite und die eigene Tat des Menschen sei (fr. 13), womit offenbar die Mythen von den kulturférdernden G6ttern (Prometheus, Hephastos, Athene) abgelehnt werden. Auch seine psychologische Erklarung des Wesens des anthro- pomorphistischen Polytheismus (fr. 10—-12) gehdrt in diesen Zusammenhang. Schillers Wort: ,,In seinen Géttern malt sich 31 der Mensch“ hat Xenophanes 2300 Jahre friither vorwegge- nommen. Er ist der erste Philosoph, der sich iiber das Verhalt- nis des Mythus zum Logos theoretisch klar wurde und sich selbst bewuBt in die Kulturentwicklung einordnete. Das gab ihm auch die Sicherheit und den Mut zu seinen Angriffen auf alles Konventionelle, das er innerlich itiberwunden hatte. Sein Wissen, das ihm Heraklit zum Vorwurf machte, war fiir ihn nichts AuBerliches und Zufalliges, sondern er setzte es mit seinen tiefsten Gedanken und seinen praktischen Zielen in or- ganische Verbindung. Man hat den Xenophanes fiir die Mystik in Anspruch ge- nommen, und wenn Pantheismus, ,,das Wunderkind des Ge- dankens und der Phantasie“, Mystik ware, so ware er aller- dings Mystiker. Aber dies ist eine unzulassige Erweiterung des Begriffs. Das eigentliche Kennzeichen des Mystikers, das eksta- tische Wesen, fehlt bei ihm vdllig. Er bekampfte ausdriicklich die pythagoreische Seelenwanderungslehre (fr. 3) und den Epi- menides. Seine Betonung der Einheit und Unteilbarkeit Gottes nimmt sich ebenfalls wie ein bewuBter Gegensatz gegen die Zerlegung der Gottheit in mit verschiedenen Namen benannte Teile bei den Orphikern aus. Seine Polemik gegen Homer be- riihrt sich zwar mit diesen, geht aber weit iiber sie hinaus. Xenophanes hat den Polytheismus durchschaut, und darum ist er fiir ihn tot. Die Mystik sucht ihn umzudeuten, und die am Ende des 6. Jahrhunderts auftretende allegorische Homerer- klarung des Theagenes von Rhegion erscheint wie eine durch die Angriffe des Kolophoniers hervorgerufene apologetische Reaktion des alten Glaubens. Xenophanes ist vielmehr ein Mann der Aufklarung und Kritik. Sein Durst nach Wahrheit paralysiert die einseitige Schatzung der Schénheit im helle- nischen Wesen. Homer und Xenophanes, der Gdttergestalter 32 und der Gdttervernichter sind beide gleich notwendige Er- scheinungen Eines Volksgeistes, Bliite und Frucht desselben Baums, erbliiht und gereift in der Fiille der Zeiten. In mancher Hinsicht ein Geistesverwandter, in anderer ein Gegner des Kolophoniers war sein um ein Menschenalter jiin- gerer Zeitgenosse Heraklit (c. 535—475). Er war aus Ephe- sus, der neben Milet machtigsten Handelsstadt Kleinasiens, deren weltberiihmtes Artemisheiligtum ein Wahrzeichen der Kreuzung orientalischer und griechischer Kultur war. Hier hatte hundert Jahre zuvor Kallinos seine kriegerischen Elegien gedichtet, hier hatte noch kurz vorher der zur Auswanderung nach Klazomenae genOdtigte Hipponax seine bitterbésen Jam- ben verfaBt. Heraklit entstammte der vornehmsten Familie der Stadt, in der sich das k6nigliche Amt eines Opferpriesters der Eleusinischen Demeter forterbte. So atmete er von Kindheit an aristokratische Luft, und im Offentlichen Leben trat er als ent- schiedener Gegner der demokratischen Partei auf: er zwang den adelsfeindlichen Tyrannen Melankomas zur Niederlegung seiner Herrschaft, und wie Hekataios von Milet und sein eigener deshalb aus der Heimat verbannter Freund Hermodor (fr. 118) widerriet er, wie es scheint, die namentlich von der demokra- tischen Partei betriebene Erhebung Joniens gegen Persien als aussichtslos, worin ihm der Erfolg recht gab. Aber nicht au- Bere Ehren lockten ihn: sein Priesteramt legte er nieder, und eine Einladung des K6nigs Darius an seinen Hof lehnte er ab. Angewidert vom politischen Leben zog er sich in die Einsam- keit des Artemistempels zuriick und lebte hier, am liebsten noch mit Kindern sich abgebend, seinen hohen Gedanken. Die Schrift, worin er sie niederlegte und die er dem Heiligtum in Verwahrung gab, fand das Altertum ,,dunkel“, und Sokrates gab sie, nachdem er sie gelesen, dem Dichter Euripides mit 3 Vorsokratiker 33 den Worten zuriick: ,,Was ich verstanden habe, ist edel ge- dacht, und, ich glaube, auch das, was ich nicht verstand. Man miiBte dazu ein Delischer Taucher sein.“ Heraklit ist ein einsamer Wahrheitssucher, vor allem dadurch merkwiirdig, daB er vom Wissen fiir seine Weltanschauung sich nichts verspricht. Stolz sieht der ,,Pébelschmaher“ auf »die Vielen“, die Menge, herab, die nach seiner Meinung nur eine Art Traumleben fiihrt, ohne jemals zum bewuBten Den- ken und Handeln zu erwachen, ohne sich selbst als einen Teil der ewigen Weltvernunft (Logos) zu erfassen (fr. 1—17). An- ders Heraklit: er erfiillt im héchsten Sinne die Forderung des _. Delphischen Gottes: ,,Erkenne dich selbst!“ Sein eigenes Ich ist der Ausgangspunkt seines Denkens (fr. 18). Nicht von auBen will er seine Weisheit empfangen. Er lehnt alle vulgaren Bil- dungsmittel ab (fr. 19—34). Mit grimmigem Hohn eifert er gegen die nationalen Dichter Homer, Hesiod, Archilochos — hierin mit Xenophanes einig —als gegen blinde Blindenleiter. Aber auch die geschichtlich-geographische oder mathematisch- naturwissenschaftliche Forschung (iorogin) eines Hekataios, Pythagoras, Xenophanes erscheint ihm wertlos. Dasselbe gilt von der praktischen Unterweisung in der Redekunst. Und die Religion zeigt sich vollends als unbrauchbar: wie Xenophanes die Mythen so greift Heraklit den 6ffentlichen Kultus, Bilder- dienst, Prozessionen und Opfer an, und atich die ekstatischen Orgien der orphischen Mystiker erregen seinen Zorn. Aller- dings verwirft er so wenig wie Xenophanes die Religion selbst, nur an ihrer Form nimmt er AnstoB. Denn er ist kein kiihler Logiker und Rationalist sondern eine religidse Feuerseele mit tiefem Verstandnis fiir die instinktiven und mystischen Ele- mente der Religion, wie sie in gdttlicher Inspiration hervor- brechen (fr. 35—36). 34 Heraklit weiB, daB die Wahrheit in der Tiefe liegt. Weder die sinnliche Wahrnehmung, wenn sie gleich unentbehrlich ist, noch Fiille des Wissens reicht aus, um sie zu ergriinden. Nur Glaube und Hoffnung verleihen die starken Schwingen, die ins Reich der Erkenntnis erheben (fr. 37—45). Drei Ideen schaut hier der staunende Geist: die Einheit der Welt, das ewige Werden und die unverbriichliche GesetzmaBigkeit alles Geschehens. Diese drei Gedanken sind es, die der Weltan- schauung Heraklits ihre groBartige Konsequenz und Geschlos- senheit geben. Die Welt ist eine Finheit. Die vielen Dinge, die unsere Sinne wahrnehmen, sind nur Verwandlungsformen einer ein- zigen Grundsubstanz. Heraklit nennt sie Feuer, vielleicht an- geregt durch den Lichtkultus der persischen Religion, die ihm ohne Zweifel bekannt war, deren Dualismus er aber vollstan- dig iiberwand. In diesem ,,ewiglebendigen“, vernunftbegabten Feuer bilden Stoff und Geist eine Einheit. Es ist die Weisheit, das Weltgesetz und Zeus selbst, dessen Name (Znvdc-Cqr, vgl. den ,,Zas“ des Pherekydes!) nichts anderes bedeutet als der Lebendige‘. Es differenziert sich in ewig wiederkehrenden Weltperioden, mit deren Annahme Heraklit einem Gedanken Anaximanders zu folgen scheint, im ,,Weg abwarts“ zu Luft, Wasser und Erde, um im ,,Weg aufwarts“ die umgekehrte Ent- wicklung durchzumachen (fr. 46—57). So ist alles in ewigem Wechsel begriffen. Heraklit ging die groBe Erkenntnis auf, die von der modernen Naturwissenschaft ihre vollkommene Be- statigung erhalt, daB das starre Sein eine Tauschung ist, daB vielmehr alles einem fortwahrenden VerwandlungsprozeB un- terliegt: alles ist Werden (fr. 58—59). Das Erschreckende die- ser Entdeckung, nach der wie bei einem Erdbeben alles rings- um zu wanken scheint, weiB Heraklit durch den groBen Ge- 3° 35 danken der Gesetzmafigkeit der Natur zu bannen. Alles beruht zwar auf Gegensatzen: der Krieg, der Streit (die Eris des grie- chischen Agons) ist der Vater aller Dinge. Aber sie gehen mit Notwendigkeit auseinander hervor, sie schlieBen sich harmo- nisch zusammen, sie ermdglichen allein Erkenntnis, und sie lésen sich auf in Gott, der, heiBe er nun Feuer oder Zeus, Dike oder Nomos, Vernunft oder Weisheit, Schicksal oder Notwen- digkeit, die Welt, die nur sein sichtbares Kleid ist, im Innersten zusammenhalt. Nicht nach Absichten und Zwecken regiert er von auBen die Welt, sondern er ist selbst der WeltprozeB, den Heraklit unter dem Gesichtspunkt der Zeit Aion nennt und, eine Homerstelle (0 361 ff.) umdeutend, einem spielenden Kinde vergleicht (fr. 60—82). Gegeniiber dieser auf dem Weg der Intuition gewonnenen kiinstlerisch-dsthetischen Weltanschauung ist das Weltbild He- raklits im astronomischen Sinn ganz nebensdchlich und ge- radezu kindlich (fr. 83—-86). Wichtiger ist seine Meinung vom Menschen. Er denkt nicht hoch von ihm, obwohl er ihn vom Tiere unterscheidet (fr. 88 —92). Die Seele, individuell verschieden nach der Menge des in ihr vorhandenen Feuers, gliedert sich mit ihrem Geschick fest ein in den allgemeinen Weltverlauf: nach dem Tod kehrt sie aus der Individualexistenz in das Allfeuer zuriick. Von einer personlichen Unsterblichkeit ist keine Rede, woriiber die sym- bolische, der Mysteriensprache nachgebildete Ausdrucksweise Heraklits nicht tauschen darf (fr. 93104). Gott ist alles, der Mensch nichts. Darum kann Heraklit auch keine imperativische Ethik haben. Er unterscheidet wohl edle, hochstrebende Seelen von niedrig gesinnten, deren Sinnlich- keit und geistige Verstandnislosigkeit er sarkastisch kennzeich- net: es gibt Helden und Herdentiere, aber beide gehéren zum 36 Weltlauf, Heraklit selbst ist ein Freund der groBen Einzelnen; auch als Herrscher sind sie zu begriiBen. Doch sind alle Ge- setze AusfluB des ewigen Weltgesetzes. Man kann nur ,,auf die Natur hinhorchend“ leben (fr. 105—120. 49. 15). Das spatere Altertum hat in Heraklit einen Pessimisten ge- sehen und ihn den ,,weinenden Philosophen“ genannt. Seine niedrige Einschatzung der Menschheit und drastische Gleich- nisse wie ,,Die Welt sei ein Kehrichthaufen“ (fr. 87), womit nur eine teleologische Auffassung des Weltverlaufs abgelehnt werden sollte (wie in fr. 80), schienen dazu eine gewisse Be- rechtigung zu geben. In Wirklichkeit ist er zwar kein Op- timist, aber der erste Denker, der den Versuch einer 7heodizee oder besser ,Kosmodizee‘, einer Rechtfertigung des Weltlaufs macht. Er mache die Physik zur Theologie (#eodoyet ta —uorxd), meinten schon die Alten. Dabei diente ihm die Sprache, insbesondere die von den Orphikern tibernommene allegori- sierende Etymologie der Gétternamen (fr. 48), um von seiner Philosophie eine Briicke zur Volksreligion zu schlagen: eine Bahn, die seine Schiiler, wie Kratylos, und spater die Stoiker eifrig beschritten. Andererseits leistete seine Beseitigung des Seinsbegriffes der Skepsis der Sophisten wesentlichen Vorschub. Aber alles in allem genommen darf er als der tiefsinnigste der vorsokratischen Denker bezeichnet werden, Pythagoras und Xenophanes hatten die Philosophie in den griechischen Westen getragen. An Xenophanes schloB sich in Elea Parmenides an, ein junger Mann (fr. 1,24) aus vor- nehmem und reichem Hause, der durch den von ihm pietatvoll verehrten Pythagoreer Ameinias veranlaBt worden war, sich aus dem bewegten Leben der Politik in die Stille philoso- phischer Betrachtung zuriickzuziehen, und sich auBer den pythagoreischen Lehren namentlich in das System Anaximanders af versenkt hatte. Angeregt durch die Gedanken des Xenophanes iiber die Gottheit wurde er zum Antipoden Heraklits, den er aufs heftigste bekampfte (fr. 6, 4ff.; vgl. Herakl. fr. 94. 58. 64). Scharfsichtig erspahte er den schwachen Punkt der herakli- tischen Lehre, den Mangel einer Begriindung, warum derfn das Allfeuer in andere Daseinsformen iibergehe, und seine uner- bittliche Logik wies dies als unbegreiflich nach. In der fir ihn selbstverstandlichen Voraussetzung, daB wir in der Vernunft (Logos fr. 1, 36) ein Organ haben, das unabhangig von der Er- fahrung das Wesen der Dinge erfasse, verwarf Parmenides mit riicksichtsloser Folgerichtigkeit nicht nur das Zeugnis der Sinne sondern die ganze Erscheinungswelt und gestand nur dem vom Denken erkannten und mit diesem identischen Sein (fr. 5) wirkliche Existenz zu. Dies sein Seiendes oder All-Eines ist un- beweglich, liickenlos, nur sich selbst gleich, unteilbar, zeitlich ohne Anfang und Ende, ohne Vergangenheit und Zukunft, nur Gegenwart, aber raumlich begrenzt, Er vergleicht es mit einer Kugel, vielleicht in Erinnerung an die pythagoreische Lehre, daB dies die vollkommenste Gestalt sei. Mehr laBt sich iiber das Seiende nicht aussagen. Werden und Vergehen sind unmdglich, da sie den Widerspruch von Sein und Nichtsein in sich schlieBen wiirden (fr. 2—4; 7—8). Diese Erkenntnis der Wahrheit kleidet Parmenides in die dichterische Form einer ihm gewordenen gé6ttlichen Offenbarung (fr. 1). Im zweiten Teil seines Gedichts gab Parmenides schwerlich, wie vielfach angenommen wird, eine hypothetische Welterklarung, sondern er musterte die bisherigen theologischen und philo- sophischen Systeme durch, von Hesiod und den Orphikern an bis herab auf seine Zeit mit ihren sémtlichen Lehren (ddéaz), von der Kosmogonie und der Sternenwelt an bis zur Physio- logie des Menschen, um sie samt und sonders als triigerische 38 Deutung einer nicht wirklich existierenden Scheinwelt zu ver- werfen (fr. 8, 50ff.—16). In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist der Philosophie des - Parmenides als einem energischen Versuch, dem Denken gegen- iiber der sinnlichen Wahrnehmung zu seinem Recht zu ver- helfen, ein Verdienst nicht abzusprechen. Aber sie inauguriert zugleich eine bedenkliche Z erreiBung des einheitlichen mensch- - lichen Intellekts in zweierlei Organe, deren einem auf Kosten des andern die Alleinherrschaft zugesprochen wird. Die lo- gische Verwerfung der Sinnenwelt durch Parmenides ist das Seitenstiick zur ethischen Verwerfung der Sinnlichkeit in den orphisch-pythagoreischen Kreisen. Obwohl selbst extremster Monist, bereitet doch gerade Parmenides das Eindringen einer dualistischen Weltanschauung in die Philosophie, wie sie im Platonismus gipfelt, vor. Denn seine véllige Negierung der Erscheinungswelt, die er an die Stelle ihrer Erklarung setzte, erwies sich bald genug als unhaltbar. Plato, der ihm eine ,,edle Tiefe“ zuschreibt und dem er ,,ehrwiirdig und gewaltig“ er- scheint, nannte doch ihn und seine Jiinger die ,,Weltlaufan- halter“ (otaciwtat tod xdopov), und Aristoteles bezeichnete sie als ,,Unnaturforscher“ (4qvouxor). Alles Leben erstarrt hier in der eisigen Abstraktion des absoluten Seins. V6llig unfrucht- bar fiir die Deutung der wirklichen Welt, ist dieses System ein lehrreiches Beispiel dafiir, daB sich auf bloBe Begriffsspeku- lation unter volliger Abkehr von der Erfahrung und Anschau- ung der Natur keine Philosophie begriinden la8t. Wenn sich in Sokrates die Philosophie grundsatzlich von der Natur abwen- det und Plato die sichtbare Natur der intelligiblen Welt der Ideen unterordnet, so wirkt hier das Denken des Parmenides nach, und es hat jedenfalls einen guten Sinn, wenn Plato den jungen Sokrates noch mit dem greisen Eleaten zusammentreffen laBt. 39 Zeno, der Schiiler des Parmenides, der nach einem verun- gliickten Attentat auf den Tyrannen seiner Vaterstadt Elea mit eiserner Energie den Qualen der Folter getrotzt haben soll, wird von Plato seines Scharfsinns und seiner Findigkeit wegen der ,,eleatische Palamedes“ genannt. Er hat die Lehre seines Meisters nicht um neue Gedanken bereichert, sondern durch eine Reihe sinnreicher Beweise zu stiitzen gesucht, welche die in der Annahme der Vielheit (fr. 1), der raumlichen Ausdehnung (fr. 2—3) und der Bewegung (fr. 4) liegenden Widerspriiche aufdecken sollten, wobei er trotz manchen mitunterlaufenden Trugschlusses an die Probleme der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, des unendlich Kleinen und unendlich GroBen riihrte. Er galt den Alten als Begriinder der Dialektik und bahnte mit seinen Zweifeln gleichermaBen der Erkenntniskritik gegen- iiber dem herrschenden philosophischen Dogmatismus wie der grundsatzlichen Skepsis den Weg. Melissos von Samos, der im Kriege seiner Heimat gegen Athen (442—440) als ihr Feldherr gegen Perikles und Sopho- kles kampfte, verpflanzte die eleatische Philosophie wieder in den Osten. Positiv unterscheidet er sich von Parmenides nur dadurch, daB er dem All-Einen auBer der zeitlichen auch raum- liche Unendlichkeit beilegte (fr. 3—6). Im iibrigen bemithte auch er sich wie Zeno, die These des Parmenides durch neue Beweise zu bekraftigen, die sich gegen die Vielheit, die Ver- anderlichkeit, die Kérperlichkeit und die Bewegung des Sei- enden richteten (fr. 7—10) und worunter namentlich seine Kritik der Sinneswahrnehmung (fr. 8) bemerkenswert ist. Xenophanes hatte der eleatischen Philosophie ihre Seele, den Geist der Kritik, eingehaucht, sich aber dabei einen offenen Sinn fiir die Welt der Erfahrung bewahrt; Parmenides stellte das starre metaphysische Zentraldogma der Schule auf; mit 40 Zeno und Melissos verlor sie sich unbeschadet ihrer Verdienste um die Anbahnung einer Erkenntnistheorie in unfruchtbare Eristik und wurde so zur Vorlauferin der Sophistik, ohne doch deren Interesse fiir die praktischen Aufgaben des Lebens zu teilen. Einen héchst merkwiirdigen Bund schloB die jonische Phy- sik, wie sie sich von Thales bis auf Parmenides entwickelt hatte, mit orphisch-pythagoreischer Mystik in der Person und dem System des Empedokles von Agrigent um die Mitte des 5. Jahrhunderts, so merkwiirdig, daB man seine Physik und seine Mystik verschiedenen Perioden seines Lebens zuweisen zu miissen glaubte, womit man sich freilich den Weg zum richtigen Verstandnis des wunderbaren Mannes geradezu ver- baut hat, Als Glied einer der vornehmsten Familien seiner blii- henden Vaterstadt beteiligte sich Empedokles mit dem ganzen Feuer seiner starken Seele an den politischen Kampfen seiner Heimat und zwar mit solchem Erfolg, daB ihm die K6nigs- krone angeboten wurde. Er schlug sie aus; denn er kannte hdhere Ziele: er fiihlte sich als einen Fiirsten im Reiche des Geistes, als einen Herrscher iiber die Krafte der Natur und als einen Trager hoher Offenbarungen, fiir die er in den Menschen »Glauben* (xiowe fr. 25,11. 26. 56) erwecken wollte. Das Wissen ist fiir ihn nicht Selbstzweck, sondern das letzte Ziel der Naturerkenntnis ist die Naturbeherrschung und das letzte Ziel des Denkens die Einsicht in den Sinn und die Gewinnung einer Norm des Lebens. Deshalb ist auch sein erkenntnistheo- retisches Prinzip der halb philosophische, halb religidse Grenz- begriff des ,,Glaubens“, der hier zum erstenmal im griechi- schen Geistesleben deutlich faBbar ist und der zu den Voraus- setzungen der Erkenntnis neben der kritischen Sichtung der Sinneseindriicke und dem Denken auch die ,,Frémmigkeit 41 und ,,Reinheit* der Gesinnung zahlt. Wer diesen Glauben hat, kann geradezu Wunder tun (fr. 1—7). So zog Empedokles im Purpurgewande, mit Siegerbinden und Kranzen geschmiickt, von Stadt zu Stadt, Krankheiten des Leibes und der Seele hei- lend, gefolgt und verehrt von Tausenden, denen er verkiindigt, »wo die StraBe zum Heil fihrt“, in einer bei tiefreligidsen Naturen nicht seltenen Mischung eines zu stolzer Hoheit ge- steigerten Selbstgefiihls und tiefer Demut (fr. 54. 55. 57). Wunderbare Maren erzahite sich die jedenfalls auch von seiner sprachgewaltigen Rede hingerissene Menge von ihm: nicht nur da8 er die Stadt Selinunt durch Kanalisierung der Sumpf- wasser in ihrer Umgebung von einer Epidemie befreit habe, sondern auch daB er dem Allbezwinger Tod seine Opfer ab- zuringen vermdge, sollte er doch eine in dreiBigtagigem Starr- krampf liegende Scheintote zu neuem Leben erweckt haben. Und als er ferne der Heimat im Peloponnes starb, umwob die Legende in mannigfachen Formen seinen Tod: der Uber- winder des Todes sollte nicht gestorben, sondern auf geheim- nisvolle Weise entriickt worden sein. Dieser Wundermann, »eine Mischung von Newton und Cagliostro,“ wie ihn Renan nannte, hat aber zugleich in niichterner physikalischer und physiologischer Forschung die Wissenschaft auf Jahrhun- derte und Jahrtausende um eine Reihe fruchtbarer Ideen be- reichert. Seine Physik und Mystik, die er in zwei sich gegen- seitig voraussetzenden und erganzenden Gedichten (,,Uber die Natur“ und ,,Reinigungslied“) niedergelegt hat, schlieBen sich ihm zu einer durchaus folgerichtigen dualistischen Weltan- schauung zusammen, die einerseits zwischen dem Reich der Materie und des Geistes oder vielmehr der Geister eine scharfe Grenzlinie zieht und die andererseits doch das Ineinander- wirken beider gewahr wird. 42 Das Reich der Materie erklart Empedokles in seiner Physik durchaus mechanisch. Mit Parmenides leugnet er Werden und Vergehen, aber freilich nur im absoluten Sinn; es ist ihm in Wirklichkeit Verbindung und Lésung der Stoffe. Dieser Grund- stoffe sind es vier: Wasser, Feuer, Erde, Luft, deren Wahl deutlich die Anlehnung an die alte jonische Physik bezeugt (fr. 8—12). AuBer ihnen gibt es nichts Stoffliches und auch keinen leeren Raum (fr. 13. 14). Hatte Heraklit alles Werden aus dem Streit erklart, so fiigt Empedokles dazu als Gegenstiick die Liebe, die zuerst als kosmische Kraft erkannt zu haben er sich riihmt: Liebe und Ha8, Anziehung und AbstoBung, sind die Krafte, welche die Verbindung der Elemente zu Einzel- wesen und ihre Auflésung in die Grundstoffe bewirken. So entsteht und vergeht in ewigem Kreislauf, in dem bald die Liebe, bald der HaB die Vorherrschaft hat, die bunte Mannig- faltigkeit der Welt, aus der Einheit des Sphairos heraustretend, um wieder in diesen zuriickzukehren (fr. 15—-32). Aus dem verschiedenen quantitativen Verhaltnis, in dem die Zusammen- setzung der Einzeldinge aus den Grundstoffen stattfindet, er- klaren sich die verschiedenen Qualitéten der ersteren (fr. 33). Die Organismen verdanken ihre Entstehung nicht einem zweck- maBig handelnden verniinftigen Willen sondern dem rein mechanischen Gesetz, daB nur das Taugliche Bestand hat, das Nichtlebensfahige dagegen zugrunde geht (fr. 34—46). Der Mensch ist ein Mikrokosmos im Makrokosmos: durch die in ihm enthaltenen Stoffe erkennt er die entsprechenden Stoffe auBer ihm, von denen ihm Abfliisse (4zoggoai) zustrémen. Die Denkkraft liegt im Blut, und die Erkenntnisfahigkeit ist ab- hangig von den wechselnden Dispositionen des K6rpers (fr. 47 bis 51). Ubrigens ist alles Organische, Menschen, Tiere und Pflanzen, deren Doppelgeschlechtigkeit Empedokles entdeckt 43 hat, beseelt, und sowohl die Stoffe als die Seelen sind unver- ganglich (fr. 52. 2,10. 53). Dieser groBe Gedanke der Einheit alles Lebendigen ruht nun bei Empedokles auf mystischer Grundlage. Uber und hinter dem Reich der Materie und der Verganglichkeit schaut sein Auge ein Reich héherer Ordnung: ein Reich des Geistes und der Geister (Saivorves), die frei von Erdenschwere ein Leben in gottlicher Seligkeit fiihren, im Vergleich mit dem das Leben hienieden im irdischen Jammertal eigentlich gar kein rechtes Leben ist. Aber die Geister knnen sich beflecken, durch Mein- eid oder den Genu8 blutiger Opfer. Dann miissen sie 30000 Jahre lang eine Seelenwanderung durch alle méglichen Ge- stalten von Pflanzen, Tieren und Menschen durchmachen. Empedokles selbst ist jetzt auf der héchsten irdischen Stufe der Seher, Sanger, Arzte und Fiirsten angelangt und, wenn er das ,,Kleid des Fleisches“ abgestreift hat, wird er wieder zur Seligkeit der andern Unsterblichen eingehen (fr. 57—69). Der Weg, der zu diesem Ziele fiihrt, ist die Askese, wie sie Pytha- goras (fr. 71) gelehrt hat: nichts Lebendes darf getdtet und verzehrt werden, weil in allem ein Seelengeist wohnt. Bei den Pflanzen wird die Enthaltung auf Bohnen und Lorbeer be- schrankt. Verwerflich sind daher auch die blutigen Opfer und der ganze ,,finstre Wahn“ der polytheistischen Religion, zu deren Kultus diese gehdren. Die Gdtter des Volksglaubens sind nur Allegorien fiir die Grundstoffe und Grundkrdafte des Weltalls. In Wahrheit durchwaltet ein einziger heiliger Gottes- geist die Welt, als dessen Emanationen wohl die Seelengeister zu denken sind. In den organischen Wesen, als deren irdischer Verkleidung, verbindet sich die Geisterwelt zeitweilig mit der Welt der Materie. Das ideale Leben scheint in einem Bild des goldenen Zeitalters geschildert gewesen zu sein (fr. 70—83). 44 Dies ist der seltsame Dualismus des Empedokles. Sein System enthalt trotz seines eklektischen Charakters schdpfe- rische Gedanken. Er ist der Begriinder der Chemie geworden durch seine Zuriickfiihrung der stofflichen Welt auf eine be- schrankte Zahl von Elementen und deren in bestimmten Pro- portionen erfolgende Verbindung, und er hat, einen Gedanken Anaximanders weiter verfolgend, ahnlich wie Darwin versucht die organische Welt unter Ausscheidung einer teleologischen Betrachtung auf rein mechanische Weise zu erklaren durch die Herleitung der ZweckmaBigkeit des Bestehenden aus dem Be- stand des ZweckmaBigen, wenn auch die Ausfiihrung des Ge- dankens noch primitiv war. Empedokles hatte keinen eigent- lichen Philosophen zum Schiiler. Seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse pflanzten sich fort auf Arzte wie Pausanias (fr. 1) und Akron; seiner Mystik verwandte Klange ténen uns aus einigen Liedern Pindars entgegen; der Erbe seiner sprachge- waltigen Redekunst aber wurde der Sophist Gorgias. Ungefahr ein Zeitgenosse des Empedokles war Anaxagoras von Klazomenae (500—428). Obwohl vornehm und reich, hielt er sich dem politischen Treiben ginzlich ferne und ver- nachlassigte sogar die Verwaltung seines Vermégens. Er ist der erste Vertreter des mit vollem BewuBtsein weltabgekehrten kontemplativen Lebens, des fiog dewontixdc, freilich nicht im Sinn mystischer Frommigkeit sondern rastlosen wissenschaft- lichen Forschens und Denkens. Den Anblick der Sternenwelt, die ,,Betrachtung des Géttlichen“, bezeichnete er geradezu als Lebenszweck. Diese Versenkung in die GréBe der Natur, die sein ganzes Gliick ausmachte, gab ihm auch die Kraft, schwere Schicksalsschlage wie den Verlust seines einzigen Sohnes auf- rechten Sinnes zu tragen, sie erhob ihn iiber die nationalen Schranken der Staaten und machte ihn zum ersten Weltbiirger, 45 der den Himmel, den sichtbaren und erforschbaren, als seine Heimat ansah und in der Uberzeugung, da8 der Weg zum Hades iiberall derselbe sei, es nicht schwer nahm, in der Fremde zu leben und zu sterben. Denn Anaxagoras war es, der die Philosophie nach Athen trug. Durch ihren in den Perserkriegen bewiesenen Opfer- und Heldenmut war diese Stadt die machtigste in Hellas geworden, und auch zum geistigen Leben Griechenlands hatte sie einen wertvollen Beitrag geleistet: hier war die Tragédie erbliiht, die Aschylos zum Kunstwerk gestaltete und in der er sich zu- gleich ein Mittel schuf, die tiefsten Fragen des Menschenlebens nach Schuld und Schicksal, gdttlichem und menschlichem Handeln, individuellem und allgemeinem Leben zu ergreifen- der Darstellung zu bringen. Eben war die Komddie, die sich schon friiher im dorischen Westen entwickelt und in dem phi- losophisch gebildeten Sizilianer Epicharm einen ebenso geist- vollen als witzigen Dichter hervorgebracht hatte, im Begriff, sich in Attika der ernsteren Schwester an die Seite zu stellen, und die reichen Geldmittel, iiber die Athen verfiigte, ermdg- lichten es dem weitblickenden Geiste des Perikles, auch ein bliihendes Kunstleben in der Stadt der Pallas sich entfalten zu lassen. Nur von der Philosophie war Athen bis jetzt so gut wie unberihrt geblieben. Diese Liicke fiillte Anaxagoras aus, der reichlich ein Vierteljahrhundert (c. 456—430) in Athen lebte und sich der Freundschaft des groBen Staatsmanns, auf den er einen tiefgreifenden EinfluB ausiibte, seiner hochgebildeten Ge- mahlin Aspasia und anderer erlesener Geister, wie des Tragikers Euripides, erfreute. Freilich muBte er zuletzt, nachdem er mit seinen Lehren in einer Schrift ,,Uber die Natur“, dem ersten mit Diagrammen versehenen griechischen Buche, an die Offent- lichkeit getreten war, die bittere Erfahrung machen, daB die 46 groBe Menge in Athen ,,die Naturforscher und Astronomen nicht ertrug“. Er wurde in den Sturz des Perikles verwickelt und auf Grund des im Jahr 432 von dem Orakelpriester Dio- peithes beim Volke durchgebrachten Gesetzes, laut dessen ,,die Leute vor Gericht gezogen werden sollten, die die Religion nicht gelten lassen und astronomische Lehren verbreiten‘, wegen Religionsfrevels in Anklagezustand versetzt und verur- teilt. Aber er wuBte sich trotz der Niederlage vor Gericht als Sieger: ,,die Natur habe schon langst zwischen ihm und seinen Anklagern entschieden“, war der stolze Bescheid, womit er das Mitleid teilnehmender Freunde abwies. Er zog sich, sei’s vor oder nach erfolgtem Richterspruch, nach Lampsakos zu- riick, wo er zwei Jahre spater starb, nachdem er, der kinder- lose Greis, angeordnet hatte, daB im Monat seines Todes alljahr- lich ein Kinderfest stattfinden sollte. In der Gedankenwelt des Anaxagoras verbinden sich Induk- tion und Spekulation in gliicklichster Weise. Obwohl iiber- zeugt, daB die Sinneswahrnehmung uns nicht die wirkliche Beschaffenheit der Natur kennen lehre und daB auch die Ver- nunft nicht imstande sei, die Welt in ihrer ganzen GrdBe zu fassen (fr. 5. 6), bewahrt er sich doch immer ein offenes Auge fiir die Naturvorgange, und die Anschauung bildet fiir ihn ge- radezu den Ausgangspunkt seines Denkens. So diente ihm ein ums Jahr 467 bei Agospotamoi niedergegangenes Meteor, dem die Umwohner, uralten Fetischismus erneuernd, gottliche Ver- ehrung erwiesen, als Beweis dafiir, daB auch die iibrigen Him- melsk6rper in ihrer Zusammensetzung der Erde ahnlich sein miBten und daB die Sonne eine gliihende Steinmasse sei; ja er wagte die Vermutung, daB auch andere Gestirne bewohnt sein kénnten (fr. 9). DaB die Sterne nicht herabstiirzen, sah er als eine Wirkung der Zentrifugalkraft an: sie bewegen sich 47 »wie man einen Stein in der Schleuder schwingt* (wie Plutarch sich ausdriickt). Er erkannte, daB der Mond sein Licht von der Sonne habe (fr. 19) und erklarte die von so viel Aberglauben umgebenen Sonnenfinsternisse natiirlich, wovon Perikles ein- mal in einem kritischen Augenblick der athenischen Ge- schichte eine praktische Anwendung zur Beruhigung des eben eingeschifften und durch eine solche Erscheinung in Angst versetzten Heeres machte. Und wenn Anaxagoras auch eine falsche Vorstellung von der Gestalt der Erde hatte, die er sich noch wie Anaximander zylinderférmig dachte, so hat er doch manche Ejinzelerscheinung richtig gedeutet: so erkannte er z. B. die wahre Ursache der periodischen Nilschwelle in Agyp- ten, iiber die man sich seit Thales viel den Kopf zerbrach, in der Schneeschmelze der athiopischen Gebirge, ohne freilich damit bei Herodot Glauben zu finden. Die Uberlegenheit des Menschen iiber die Tiere fand er in-dem Gebrauch der Hand begriindet, der nur verniinftigen Wesen mdglich sei. Und selbst seine originellste und epochemachendste Idee, die Aufstellung des Geistes (votc) als das Prinzip der Bewegung in der Welt beruht offenbar auf der erfahrungsmaBigen Beobachtung, da8 die Glieder des materiellen menschlichen Leibes den Gedanken und dem Willen des menschlichen Geistes gehorchen. Im spekulativen Teil seiner Philosophie leugnet Anaxagoras mit Parmenides und Empedokles ein absolutes Werden und setzt mit letzterem an die Stelle von Entstehen und Vergehen Verbindung und Auflésung (fr. 2). Aber statt einer beschrank- ten Zahl von Elementen nimmt er eine unendliche Zahl von Keimen an, in deren jedem Teile von allem sind und nur eine bestimmte Qualitat, z. B. Gold, vorwiegt, die dann in der Er- scheinungsform des Dings am deutlichsten hervortritt. Diese Keime, die Aristoteles und Lukrez spater ,Homoeomerien‘ 48 \ nannten, waren urspriinglich alle beisammen (fr. 1), Die Aus- scheidung der Einzeldinge aus diesem Chaos vom Ather und den Gestirnen an bis zur Erde und allem, was darauf ist, wird bewirkt durch eine Kreisbewegung, die an einem bestimmten Punkt im kleinen begann und immer gréBere Dimensionen annahm (fr. 3. 4. 7—12. 17. 18). Wahrend nun Empedokles die Verbindung und Auflésung der Elemente durch die in jLiebe‘ und ,Ha8‘ symbolisierten Krafte der Anziehung und AbstoBung bewirkt werden lieB, setzte Anaxagoras als Ursache der Bewegung den ,Geist‘ (vodc), der ,,alles ordnete“, der selbst sich mit nichts vermengt, aber als ,,das feinste und reinste“ in verschiedener Abstufung in den Organismen wohnt (fr. 13 bis 16). Trotz seines Bestrebens, den Geist von der Materie még- lichst abzusondern, gelingt es Anaxagoras doch nicht ganz, ihn von jeder Stofflichkeit zu befreien. Auch ist er ihm nur, wie der Gott des Aristoteles, das zo@tov xivody, ein ,Urbe- weger*, wie Leonardo da Vinci, ein ,,Gott, der nur von auSen st6Bt“, wie Goethe sagt. Denn nachdem einmal die Kreisbe- wegung von ihm veranlaBt ist, verlauft weiterhin alles mecha- nisch. Sokrates, Plato und Aristoteles haben es getadelt, daB Anaxagoras die Aufstellung seines Vernunftprinzips nicht zur Durchfiihrung einer teleologischen Weltanschauung im ein- zelnen benutzt habe. Aber man kann diese Zuriickhaltung des Anaxagoras auch als einen Vorzug betrachten: er wollte die bestehende Welt soweit als nur irgend méglich physikalisch erklaren und jede iiberfliissige Annahme einer in den mecha- nischen Verlauf der Natur eingreifenden Macht vermeiden. So beschrankte er die Wirksamkeit seines ,Geistes‘ auf die erste Bewegung, wodurch der AnstoB zur Bildung des Kosmos ge- geben wird, und auf die Beseelung der Organismen. Auch so ist er der Begriinder des philosophischen Theismus geworden, 4 Vorsokratiker 49 und er erscheint als solcher dem Aristoteles im Verhaltnis zu seinen Vorgangern ,,wie ein Niichterner unter lauter willkir- lich redenden Leuten“. Trotzdem oder vielmehr eben deswegen wurde Anaxagoras, der die Mantik verwarf, der Sonne und Mond und Regenbo- gen (fr. 20) nicht als géttliche Wesen anerkannte und der zu be- haupten wagte, daB der blitzeschleudernde Zeus oft genug die schuldigen Frevler verfehle und unschuldige Menschen und Dinge, sogar Tempel der Gotter selbst treffe, geradezu zum Typus des ,gottlosen Naturforschers‘, wie er ja denn auch das Opfer des ersten Ketzerprozesses in Athen wurde. Es konnte seine wahre Anschauung kaum verhiillen, wenn er etwa Zeus mit seinem ,Nus‘ identifizierte, Athene als Personifikation der Kunst (zéyvn) bezeichnete und die Mythologie Homers in ethi- schem Sinne umzudeuten suchte. Wer aber bei dem Konflikt mit der iiberlieferten Religion zu Schaden kam, das war schlieBlich doch nicht Anaxagoras sondern die Religion, und Lukian konnte mit Recht spotten, auch nach Anaxagoras habe Zeus seinen Blitz vergeblich geschleudert, dieser habe vielmehr einen Tempel getroffen und dabei seine scharfsten Zacken ab- gebrochen. Von den Schiilern des Anaxagoras trieb Metrodor von Lamp- sakos die rationalistische Methode der allegorischen Mythen- deutung bis zur geschmacklosesten Absurditat, wahrend Ar- chelaos von Athen, der Freund des Kimon und Sophokles, die bestehende Welt aus den beiden Prinzipien des Warmen und Kalten ableitete, womit er die anaxagorische Lehre vom Geist in unklarer Weise verquickte. Er scheint auch iiber die An- fange der Menschheit und ihrer Kultur nachgedacht zu haben und, wenn wir recht berichtet sind, hat er zuerst die Behaup- tung aufgestellt, die Gegensatze von Gut und Bése, Recht und 50 Unrecht (6éavov—aiozodyv) wurzeln nicht in der Natur (pdce:) sondern nur im Brauche (vduq), d. h. die Moral habe keine absolute sondern nur relative Giiltigkeit und sei von der je- weiligen Héhe der Kulturentwicklung abhangig, die Sittlich- keit sei im Grunde nichts anderes als die Sitte. Damit ware er, der auch der Lehrer des Sokrates gewesen sein soll, ein Vor- laufer der Sophistik. Die zweite Halfte des 5. Jahrhunderts brachte auBerdem verschiedene Versuche hervor, auf den alten jonischen Hylo- zoismus zuriickzugreifen. So erneuerte Hippo von Samos, der jedoch in Athen lebte, als Atheist galt und in den ,,Allsehern“ des Komikers Kratinos verspottet wurde, die Lehre des Thales vom Ursprung der Welt aus dem Wasser. Die Philosophie Heraklits wurde von einem nicht naher bekannten Antisthenes sowie von dem Athener Kratylos vertreten, der vor Sokrates Platons Lehrer war und nach dem dieser sein groBer Schiiler einen Dialog benannte, worin er die Sprachtheorien und die allegorische, namentlich auf der Etymologie der Gétternamen fuBende Mythendeutung dieser Jungherakliteer persiflierte. Durch seine Beschaftigung mit der Sprache und ebenso durch seine Uberspannung der heraklitischen Lehre vom Werden, die ihn zum AuBersten Skeptizismus fiihrte, leiten auch die Gedankengange des Kratylos zur Sophistik iiber. Am popularsten aber wurde um die Zeit des Archidamischen Krieges die Auffrischung des Systems des Anaximenes durch Diogenes von Apollonia, einen geborenen Krater, der aber wie Hippo in Athen eine stadtbekannte Persénlichkeit war, was noch deutlicher als seine Einwirkung auf Euripides seine Ver- héhnung in den ,Wolken‘ des Aristophanes (423 v. Chr.) be- weist. Seine eingehende Beschaftigung mit physischer Anthro- pologie, der ein besonderes Buch seiner Schrift ,Uber die 4° 51 Natur‘ gewidmet war und von der das Bruchstiick iiber das menschliche Adernsystem (fr. 8), das vor allem noch die Unter- scheidung von Arterien und Venen vermissen la4Bt, eine Probe gibt, legt die Vermutung nahe, daB er den Beruf des Arztes ausiibte. Auch hat er nachweislich auf die um diese Zeit auf- kommende medizinische Schriftstellerei stark eingewirkt. Wenn er sich im Beginn seiner Schrift (fr. 1) iiber die formalen Er- fordernisse wissenschaftlicher Darstellung ausspricht, so er- innert uns dies daran, daB wir uns in einem Zeitalter befinden, das schon eine starke literarische Produktivitat auf gelehrtem Gebiet entfaltete, sah sich doch der Mathematiker Oinopides von Chios bereits veranlaBt, einem jungen Bibliophilen eine ahnliche Warnung zu erteilen wie Mephistopheles dem Schii- ler: ,,Nicht im Biicherstéander, sondern im Kopfe soll man’s haben !“ Zugleich weist die bei Diogenes sich mehrfach (fr. 1. 2. 4. 7) wiederholende Redewendung ,,mir scheint“ auf einen NachlaB der Sicherheit im spekulativen Denken hin und nimmt sich wie ein leichter Anflug von Skepsis aus. Doch entwickelt allerdings Diogenes, der von verschiedenen Seiten Anregungen empfangen hat, sein monistisches System mit groBer Bestimmt- heit und, wie man zu spiiren meint, im bewuBten Gegensatz zum Dualismus des Anaxagoras. Denn den Mittelpunkt seines Denkens bildet die Uberzeugung von der Einheit der Welt im stofflichen Sinn. Ohne diese Annahme lieBe sich keine Wir- kung der Dinge aufeinander erklaren (fr. 2). Der Stoff, der allem zugrunde liegt, ist ewig und unverganglich (fr. 3), aber auch ver- nunftbegabt; denn sonst ware die zweckmaBige Einrichtung der Welt unbegreiflich (fr. 4. 5). Dieser Stoff kann nichts an- deres sein als die Luft, das Lebenselement aller Organismen, die in den verschiedenen Einzeldingen in unendlich vielen Ab- stufungen und Formen verkdrpert ist. Nichts anderes als Luft 52 ist auch die Seele, die nach dem Tode wieder in den gdttlichen Ather zuriickflutet, aus dem sie herstammt: eine Vorstellung, die so verbreitet war, daB sie uns sogar in der Grabschrift der im Jahr 432 vor Potidaa gefallenen Athener entgegentritt. So erscheint Diogenes als letzter Auslaufer der alten jonischen Naturphilosophie, wenig originell, aber leicht verstandlich und darum von nicht zu unterschatzender Wirkung auf seine Zeit. Die Katastrophe, welche um 440 v. Chr. im Zusammenhang mit den demokratischen UmwaAlzungen in den Griechenstaidten Unteritaliens den Pythagoreischen Bund daselbst betraf und seine Mitglieder, soweit sie nicht einen gewaltsamen Tod fan- den, in alle Winde zerstreute, versprengte die Pythagoreer Ly- sis und Philolaos nach Theben. Der erstere wurde dort der Lehrer des Epaminondas, wahrend Philolaos, der aus Tarent oder Kroton stammte und, wie sein medizinischer Eklektizis- mus vermuten 1aBt, vielleicht Arzt von Beruf war, den Simmias und Kebes als Schiiler gewann, die, wie Platos Phadon zeigt, sich spater in Athen dem Sokrates anschlossen. Er war der erste, der die Grundgedanken der pythagoreischen Philosophie in einem Buch ver6ffentlichte, das wahrscheinlich den Titel ,Bacchen‘ fiihrte. Im Beginn des 4. Jahrhunderts muB er als alter Mann nach GroBgriechenland zuriickgekehrt sein, wo ihn Platon noch persénlich kennen gelernt haben soll. Philolaos bezeichnet fiir uns den Stand des wissenschaftlichen Pythago- reismus am Ausgang des 5. Jahrhunderts, ohne da8 wir noch nachweisen kénnten, welche Ideen des von ihm vertretenen Systems gerade auf ihn selbst zuriickgehen. Er legt seiner Welt- erklarung den Gegensatz des Unbestimmten und Bestimmten (fr. 1. 2) zugrunde, wobei wir unter ersterem die gestalt- und qualitatslose Masse, unter letzterem die Zahl als das substantiell 53 gedachte formende Prinzip zu verstehen haben werden, das gleichermaBen den WerdeprozeB wie die Erkenntnis ermég- licht (fr. 3—5). Das grundlegende Paar von Gegensatzen, zu dem die Tafel der Gegensatze in ziemlich willkiirlicher Aus- wahl noch 9 weitere fiigt, wird vereinigt durch die Harmonie, die von der Musik auf die Weltordnung iibertragen wird (fr. 6—7). Die schéne Entdeckung, da8 die Naturvorginge, we- nigstens auf dem Gebiet der Physik im engeren Sinne, sich auf bestimmte in mathematischen Proportionen formulierbare Gesetze zuriickfiihren lassen, entstellte nun aber der Pythago- reismus dadurch, da8 er die Zahlen als Substanzen ansah und ihnen bestimmte Funktionen im WeltprozeB zuwies. So ist die mit Hestia identifizierte Eins geradezu der Anfang und Mittel- punkt des Weltalls (fr. 8—9), die mit Athene gleichgesetzte Siebenzahl die gottliche Weltseele (fr. 10), die Zehnzahl ,,Ur- sprung und Leitstern des géttlichen, himmlischen und mensch- lichen Lebens“ (fr. 5). Ihr zuliebe muB es auch zehn Weltkér- per geben, die samtlich um das Zentralfeuer, den ,,Herd des Alls“, kreisen, namlich die Fixsternsphare, die 5 Planeten (Sa- turn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur), Sonne, Mond, Erde und Gegenerde, welch letztere sich zwischen der Erde und dem Zentralfeuer befindet und fiir uns unsichtbar ist, da wir auf der von beiden abgekehrten Seite der Erde wohnen. Ein Oben und Unten gibt es in dem kugelférmig gedachten Weltall nicht (fr. 11), dessen atherische Hiille als fiinftes zu den vier Ele- menten des Empedokles tritt (fr. 12). Die Einheit der Natur zeigt sich wie in den Gestirnen so auch in der trotz ihrer Ab- stufungen zusammengehérigen Welt der Organismen (fr. 13). In der Psychologie iibernahm Philolaos die orphisch-pytho- goreische Lehre von der Haft der Seele im Leibe (fr. 14—15) und also wohl auch die darauf beruhende asketische Ethik, die 54 bei ihm iibrigens einen ausgesprochen deterministischen Ein- schlag gehabt haben muB (fr. 16). In zwei Punkten ruht die dauernde Bedeutung des Pytha- goreismus: einmal in seinen Verdiensten um die Astronomie. Trotz der phantastischen Annahme der Gegenerde und des Zentralfeuers bedeutet das philolaische System einen gewalti- gen Fortschritt dadurch, daB es die Stellung der Erde im Mit- telpunkt des Weltalls und ihre Ruhelage aufgab. Die folgenden Generationen haben mit jenen Phantasiegebilden vollends auf- geraumt, und Aristarch von Samos ist um 280 v. Chr. zum heliozentrischen Weltsystem vorgedrungen: eine Entdeckung, die nur infolge der beherrschenden Autoritat des Aristoteles und spater der Bibel wieder in Vergessenheit geriet, bis Ko- pernikus durch die Nachrichten Ciceros und Plutarchs die Anregung zu der epochemachenden Aufstellung seines Systems empfing. Das zweite Gebiet, auf dem sich die Pythagoreer iiber den Durchschnitt der Griechen erhoben, ist die Ethik. Trotz seiner ausgesprochen aristokratischen Richtung in der Politik weist der Pythagoreismus in seinen sittlichen Anschauungen einen sozialen Zug auf. Wenigstens wollten die Pythagoreer unter sich gleichsam Eine groBe Familie bilden, in der die Alteren mit den Jiingeren verkehrten ,,wie ein ernster Vater mit seinen Kindern“. Es galt der Grundsatz, daB ,,Freunden alles gemein- sam“ sei, und es werden zahlreiche Beispiele gegenseitiger Hilfeleistung berichtet, die bis zur Einsetzung des Lebens eines Freundes fiir den andern geht, wie die durch Schillers ,Biirgschaft‘ beriihmt gewordene Geschichte von Damon und Phintias zeigt. An der Gemeinschaft des geistigen Lebens hatten auch die Frauen teil, die sich nirgends solcher Hochschatzung erfreuten wie in pythagoreischen Kreisen, und auch den Skla- 55 ven nicht nur eine humane Behandlung zuteil werden zu lassen sondern auch in persénlichem Umgang freundlich mit ihnen zu verkehren war pythagoreischer Grundsatz. Als der Ubel gr6Btes in Haus und Staat galt die Anarchie; um aber eine ge- ordnete Verwaltung zu gew4hrleisten, muBten die Beamten nach pythagoreischer Anschauung nicht nur wissenschaftlich gebildet sondern auch ,menschenfreundlich‘ sein. Allen diesen Ansichten liegt zugrunde die Hochschatzung der Persénlich- keit, zumal der intellektuell und sittlich durchgebildeten Per- s6nlichkeit. Solche Persénlichkeiten werden freilich immer nur eine Minoritét bilden, aber eben diese Geistesaristokratie ist zum Herrschen iiber die Menge berufen, die selbst nicht zur Wahrheit durchdringen kann sondern sich mit der popularen Weltansicht (ddéa) begniigen muB. In der Religion schlug der wissenschaftliche Teil der ,Pytha- goreer‘ die Richtung auf den Monotheismus ein, indem die einzelnen Gottergestalten in mathematisch-physikalische Sym- bole aufgelést wurden, wahrend im Anschlu8 an die in der Sekte nie ganz aufgegebene Mystik die ,Pythagoristen‘ sich dem Damonenglauben und der Zauberei ergaben und als land- fahrende Schwindler im Philosophenmantel den Hohn der Koméddie herausforderten. Mit den Pythagoreern bringt die Uberlieferung — und zwar, wie es scheint, nicht ohne Grund — den ersten Vertreter der politischen Theorie in der griechischen Literatur in Verbin- dung: Hippodamos von Milet. Von Beruf Architekt und in der Politik durchaus Dilettant, hatte er ein vielseitiges Interesse, das die gesamte Naturwissenschaft umfaBte, und ein starkes Selbst- bewuBtsein, das er auch in seinem 4uBeren Auftreten, in ori- gineller Kleidung und Haartracht, zur Schau trug. Er kam unter Perikles nach Athen und erbaute die Hafenstadt Piraus, betei- 56 ligte sich an der Kolonisation von Thurii (444) und wurde spater (408) nach Rhodus berufen, um die dortige Neustadt zu erbauen. Seine moderne Bauweise mit ihren sich rechtwinklig schneidenden StraBen und geraumigen Platzen trug unter Hintansetzung der Riicksicht auf die bisherige bauliche Ent- wicklung der Stadte und manche notwendige Erfordernisse wie z. B. die Schutzwehr fiir den Kriegsfall in erster Linie dem Zweck der Ubersichtlichkeit des Stadtplans und der Annehm- lichkeit des Wohnens Rechnung. Einen solch mathematisch- schematischen Charakter tragt auch der Entwurf seines Ideal- staats. Zugleich zeigt sich dieser ganz von dem Prinzip der Dreiteilung beherrscht, offenbar im AnschluB an die Hochhal- tung der Dreizahl bei den Pythagoreern, wie sie auch der _ ,Dreikampf* (Torayydc) betitelten Schrift seines Zeitgenossen Ton von Chios zugrunde lag. In drei Sténde, Handwerker, Bauern und Krieger, sollte sich die Biirgerschaft gliedern, als deren Normalzahl zehntausend angenommen war; in drei Teile sollte der Grund und Boden eingeteilt werden, wovon nur ein Drittel Privateigentum sein, das zweite zur Bestreitung des Kultus, das dritte als Staatsdomane zum Unterhalt der Krieger dienen sollte. Im Gerichtswesen wurden alle Vergehen unter die drei Klassen der Beleidigung, Beschadigung und Totung rubriziert. Von der Entscheidung des Einzelrichters war Be- rufung an einen Apellationsgerichtshof vorgesehen. Die Ver- waltung umfaBte ebenfalls drei Departements: Inneres, Aus- wartiges und Waisenfiirsorge, letzteres eine Einrichtung, die z. B. in Athen schon langst bestand. Biirger, die sich durch niitzliche Erfindungen um den Staat verdient machen, sollten Auszeichnungen erhalten und samtliche Beamte vom Volke gewahlit werden. Bemerkenswert ist an diesem Entwurf, dessen Doktrinarismus Aristoteles einer scharfen Kritik unterzieht, 57 besonders der starke Eingriff in die Erwerbsfreiheit durch die Beschrankung des Privateigentums an Grund und Boden. Noch weiter ging in dieser Hinsicht der etwas jiingere Phaleas von Chalkedon, der in der Uberzeugung, daB die Un- gleichheit des Vermégens die Ursache aller Revolutionen und eine Hauptquelle der Verbrechen bilde, vdllige Gleichheit des Eigentums an Grund und Boden einfiihren wollte, ferner Ver- staatlichung des gesamten Gewerbebetriebs und gleiche staat- liche Erziehung samtlicher Birger. So gewiB die Entwiirfe dieser Idealstaaten ihre Wurzel in der Unzufriedenheit mit den bestehenden politischen und wirt- schaftlichen Verhaltnissen haben, so erweisen sie sich doch durch ihre die geschichtliche Entwicklung einfach ignorierende Ver- nunftkonstruktion als Erzeugnisse eines vom Rationalismus beherrschten Zeitalters. Immerhin haben sie sich nach dem Zeugnis des Aristoteles von den Méglichkeiten des wirklichen Lebens noch erheblich weniger entfernt als ihr groBer Nach- folger, der Idealstaat Platos. Endlich sind sie Beispiele der um diese Zeit auf den verschiedensten Gebieten einsetzenden fach- wissenschaftlichen Schriftstellerei: so verfaBte damals der Bild- hauer Polyklet von Argos die erste kunsttheoretische Schrift, der er den Titel ,Kanon‘ (d. h. die Richtschnur) gab, eine Be- zeichnung, womit die bewundernden Zeitgenossen auch eine seiner beriihmtesten Statuen, den Speertrager, ehrten und die Demokrit auf seine erkenntnistheoretische Hauptschrift iibertrug. Es ist als ob die Naturphilosophie in ihrem jiingsten Ver- treter noch einen letzten gewaltigen Anlauf nahme, um ihr hohes Ziel, eine einheitliche Erklarung der Welt, auf ihre Weise zu erreichen, ehe sie von der ethisch-idealistischen Hochflut hinweggespiilt wird. Denn nicht als einer jener matten, epigo- 58 nenhaften Auslaufer der alten jonischen Physik wie Hippo, Diogenes von Apollonia, Kratylos, Archelaos steht Demokrit da in den Augen seiner eigenen Zeit so gut wie in denen der Nachwelt sondern als einer der schopferischen Geister, die in ihrer Art und auf ihrem Gebiet ein H6chstes geleistet haben. Allerdings soll ja nach der Uberlieferung Lewkipp sein Lehrer gewesen sein. Aber es erregt das starkste Befremden, daB De- mokrit selbst in seinen zahlreichen Schriften diesen seinen an- geblichen Meister nie erwahnt hat, daB er sein Alter zur Zeit der Abfassung seiner wichtigsten naturphilosophischen Schrift nicht mit dem des Leukipp sondern mit dem des Anaxagoras vergleicht (fr. 1), daB das ganze Altertum nur von ,Demokrite- ern‘, nie von ,Leukippeern‘ spricht, obgleich die Philosophie Demokrits in allen wesentlichen Gedanken der reinste Ab- klatsch von der des Leukipp gewesen sein miiBte, und daB endlich Epikur die Existenz des Leukipp rundweg geleugnet hat. Die zwei Schriften, die ein Teil der Uberlieferung ihm zu- schreibt, die ,,GroBe Weltordnung“ und ,,Uber den Geist“, aus welch letzterer der einzige vollstandig erhaltene und allerdings grundlegende Satz stammt (Leuk. fr. 1), werden anderweitig dem Demokrit zugewiesen. Kurz, wenn Leukipp je mehr als ein bloBer Name, etwa ein Pseudonym des jungen Demokrit, ge- wesen sein sollte, fiir uns ist er jedenfalls nichts weiter, da seine Person ganzlich unbekannt ist und seine Lehre sich mit der des Demokrit deckt. Demokrit stammte aus Abdera, das auch die Heimat des etwas Alteren Sophisten Protagoras war. Er machte groBe Rei- sen, die ihn nicht nur nach Athen (fr. 2) und Lampsakos, wo er vermutlich den greisen Anaxagoras kennen lernte (fr. 1), sondern auch nach Agypten und ins Innere von Asien fiihrten und die ihm einen grofen Teil seines Vermégens gekostet 59 haben sollen. Denn wie dem Anaxagoras so ging auch ihm die Befriedigung seines Forschungstriebs tiber alles (fr. 3), und ihr widmete er sein ganzes langes Leben, das nach der niedrig- sten Angabe 90 Jahre umfaBte (c. 460—370). Seine Schriften, die der Platoniker Thrasyllos unter Tiberius in 15 Tetralogien ordnete, umfaBten das ganze Wissen der damaligen Zeit, so daB ihn sein bewundernder Herausgeber einen geistigen fF infkampfer* (,Pentathlos‘) nannte nach den fiinf Hauptgrup- pen, in die er seine Werke einteilte, ndmlich in physikalische, mathematische, musikalische (im weitesten, auch Literatur und Asthetik umfassenden Sinn), technische und ethische Schriften. Demokrit teilt mit Empedokles und Anaxagoras die Uber- zeugung, daB es kein absolutes Werden gibt sondern nur Ver- anderungen in der Zusammensetzung des vorhandenen und in seiner Masse konstanten Stoffes. Aber er, der die Lehre des Anaxagoras vom ,Geiste‘ ausdriicklich bekampfte, beseitigte seinerseits den letzten Rest anthropomorphistischer Welter- klarung und suchte alles Geschehen auf rein mechanische Vorgange zuriickzufiihren. Das oberste Gesetz ist das der un- verbriichlichen Kausalitat (Leuk. fr. 1): irgendeinen ,Zufall‘ im Sinne der Ursachlosigkeit oder des Eingriffs einer iibernatiir- lichen Macht gibt es nicht. Die Welt besteht aus einer Unzahl nicht mehr weiter teilbarer KOrperchen, Atome genannt, die alle die Eigenschaft der Dichtigkeit besitzen, aber an Form, Lage, Anordnung, GrdBe und Schwere verschieden sind. Diese Atome und der leere Raum, dessen Existenz die Eleaten leug- neten, sind nach Demokrit das einzige, dem wirklich die Ei- genschaft des Seins im vollen Sinne zukommt. Infolge ihrer verschiedenen Schwere geraten die Atome im leeren Raum in eine fallende und wirbelnde Bewegung und ballen sich zu- sammen, indem immer gleichartige zu gleichartigen sich ord- 60 nen, woraus dann die unzahligen Weltkérper samt allem, was sie enthalten, entstehen (fr. 4—8). Das Himmelsbild des De- mokrit ist im ganzen das des Anaxagoras. Selbst die von der westgriechischen Philosophie gewonnene Erkenntnis der Ku- gelgestalt der Erde eignet er sich nicht an (fr.9—10). Doch ist dies nebensdchlich im Vergleich mit dem Grundgedanken, daB die ganze Welt lediglich durch mechanische Bewegung der Atome unter Ausschlu8 jeglicher Zwecksetzung entstanden sei und daB die verschiedenen Qualitéten der Dinge nur auf ver- schiedenartigen rein mechanisch bewirkten Atomverbindungen beruhen. Demgem4a8 unterscheidet Demokrit primare und sekundare Eigenschaften der Dinge: nur die ersteren (z. B. Schwere, Dichtigkeit, Harte) sind wirklich objektiv vorhanden, die letz- teren dagegen (z. B. Farbe, Geschmack, Temperatur) sind ab- geleitet und strenggenommen nur Eindriicke des empfindenden Subjekts, vermittelt durch ,Abfliisse‘ und ,Bilder‘, die sich von den Dingen lésen und in die wahrnehmenden Organe ein- dringen, ahnlich wie schon Empedokles lehrte. Demokrit be- zeichnet daher die gesamte Sinneswahrnehmung als ,unechte Erkenntnis‘, und die darauf beziiglichen AuSerungen héren sich z. T. an, als ob er dem vollkommensten Skeptizismus ver- fallen ware. Dem ist aber nicht so. Denn iiber der sinnlichen Wahrnehmung steht ihm das Denken, das die der ganzen Er- scheinungswelt zugrunde liegenden wirklichen Substanzen, die Atome und den leeren Raum erkennt und damit alles Ge- schehen erklart (fr. 11—21). Aber auch das Denken selbst ist ein materieller Vorgang; denn ,Seele‘ ist fiir Demokrit nur eine zusammenfassende Bezeichnung fiir die kugelférmigen Feuer- atome, die, zwischen die andern eingebettet, durch den ganzen KO6rper verteilt sind. Entweichen sie samtlich aus dem K6rper, 61 so tritt der Tod und damit das Ende der individuellen Exi- stenz ein. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist nur graduell; ja in mancher Beziehung scheinen die Tiere den Menschen iiberlegen zu sein und ihnen als Vorbild gedient zu haben (fr. 22—-24). Vielleicht liegt in dem letzteren Gedanken eine Polemik gegen Mythen wie den von Prometheus, welche die menschliche Kultur von der Hilfe gewisser Gotter ableiteten, und soll im Gegensatz dazu ihre natiirliche Entwicklung an- gedeutet werden. Ubrigens zeigt Demokrit ein tiefes Ver- standnis fiir das schépferische und geheimnisvolle Wesen des Genies (fr. 25—28), und die rein logische Dialektik, wie sie in manchen Kreisen der Sophisten betrieben wurde (fr. 29—30), ist ihm ebenso zuwider wie die Umdeutung der Gotter in physikalische Elemente z. B. bei Diogenes von Apollonia (fr. 31). Und doch wandelte Demokrit in seiner Stellung zur Religion ganz ahnliche Wege. Zwar ist er seit Xenophanes der erste Denker, der wieder den Versuch einer psychologischen Er- klarung der Religion macht: er fiihrt sie auf die Angst des primitiven Menschen vor schreckenden Naturerscheinungen wie dem Gewitter, Sonnen- und Mondfinsternissen u. dgl. zu- riick. Und so sind ihm denn auch die Gétter des Olymps keine Realitéten, sondern er deutet sie und andere Gestalten des Mythus ebenfalls um, freilich vorwiegend im ethischen Sinne, wie z. B. den homerischen Beinamen der Athene ,Tritogeneia‘, den er als Titel einer seiner Schriften benutzte (fr. 32—34). Auch zerstérte er riicksichtslos die Phantasmen von einem jenseitigen Leben im Hades, wie denn die Befreiung des Lebens von Angst ein Hauptziel seiner Philosophie war: denn nur diese Fabeln sind nach seiner Meinung der vdollig nichtige 62 Grund der Todesfurcht (fr. 36—40). Und nicht im Gebet, sondern in eigener Tatigkeit soll der Mensch Hilfe suchen gegen die Schwierigkeiten des Lebens: verstandig sein und recht tun ist der beste Gottesdienst (fr.41—42). Aber obwohl so Demokrit den spateren Zeiten geradezu als der Befreier von allem aberglaubischen Wahn galt, so schloB er doch noch einen seltsamen Kompromi8 mit der Volksreligion. Ahnlich wie von den Dingen sollte es auch von den Gdttern ,Bilder‘ geben, die zwar verganglich, aber teils gliickbringend teils schadlich sein sollten (fr. 35). Durch diese sonderbare Annahme leistete Demokrit der Damonologie des spateren Griechentums unfreiwilligen, aber entschiedenen Vorschub. Das merkwiirdigste ist jedoch, da8 der Begriinder des Mate- rialismus zugleich der Begriinder der philosophischen Ethik bei den Griechen wurde, ja daB ihm die Ethik eigentlich der letzte Zweck seiner Philosophie war (fr. 43). Bis jetzt waren ethische Gedanken im Griechentum nur kund geworden in der Poesie, besonders in der gnomologischen Dichtung und in der Tragédie, in den kurzen Kernspriichen der sog. Sieben Weisen und in den orphisch-pythagoreischen Kreisen ein- schlieBlich des Empedokles. Die asketisch gefarbte Ethik der letzteren Richtung kehrte die gewohnliche Weltbetrachtung um: ihr war die Erde ein Jammertal, und das wahre Leben lag ihr jenseits von Geburt und Tod. Die Verse der Dichter und die Spriiche der Weisen aber gingen iiber vereinzelte praktische Lebensregeln nicht hinaus. Wenn nun auch Demokrit in der Form, die er seinen ethischen Gedanken gab, unverkennbar an die Gnomologie in Dichtung und Prosa sich anschloB, so hat er doch das unbestreitbare Verdienst, erstmals zwar noch kein ethisches System, aber eine ethische Zentralidee aufgestellt und um diese eine Anzahl von Grundsatzen gruppiert zu haben, 63 mit denen er sich auf den festen Boden des diesseitigen Lebens stellt und eine ideale Gestaltung desselben anstrebt, ohne auch nur einen suchenden Blick iiber dessen Grenzen hinaus schweifen zu lassen. Dieses Verdienst bleibt ihm, auch wenn unter die Menge der unter seinem Namen iiberlieferten Spriiche eine grdBere oder geringere Zahl unechter sich eingeschlichen haben sollte. Jene Zentralidee ist die Gemiitsruhe (eddvpin), der Seelen- friede, der Zustand vollkommenen inneren Gleichgewichts, die Stille des in sich gesammelten Gemiits, die dem von keinem Wind erregten, in ruhiger, sonniger Klarheit daliegenden Meeresspiegel gleicht. Negativ ausgedriickt ist es die aus der forschenden und denkenden Betrachtung der Welt entsprin- gende Unempfanglichkeit und Unempfindlichkeit (40aufin) gegeniiber den GréfBen des Lebens, durch die der Alltags- mensch sich imponieren und verbliiffen 1aBt: seien es Gdtter- und Hadesfabeln, die ihm bange machen, seien es Reichtum, Ehre und Macht, die seine Gier und seinen Neid erregen (fr. 44—47). So wenig als die Seelenruhe (dtagaéia) Epikurs, kann das ,Nil admirari‘ des Horaz (Epist. I. 6,1 ff.) trotz seiner leichten stoischen Farbung seinen demokritischen Ursprung verleugnen. Dagegen lag dem Abderiten nichts ferner als die hochmiitige und blasierte Weltverachtung des ,lachenden Philo- sophen‘, zu dem ihn das Mifverstandnis spaterer Generationen als Gegenbild zu dem ebenso mifverstandenen ,weinenden‘ Heraklit karikiert hat. Voraussetzung fiir den Zustand der Gemiitsruhe ist vor allem das gute Gewissen. Bei dem Materialisten Demokrit erscheint dieser Begriff (ovyveidnoic fr. 36) zum erstenmal und, ohne die schlimmen Neigungen der Menschen zu verkennen (fr. 85), ver- kiindet Demokrit, freilich ohne jede Begriindung, die Autono- 64 mie des sittlichen BewuBtseins (fr. 89—91) und scharft wie niemand vor ihm die Pflichterfiillung ein (fr. 80. 81.83). Denn nach Demokrit ist der Mensch durchaus selbst fiir sein Handeln verantwortlich und hat kein Recht, etwaige Miferfolge dem ,Zu- fall‘ zuzuschreiben (fr. 50—54). Ein Hauptgrundsatz des rich- tigen Lebens muB die Uberordnung der geistigen Giiter iiber die materiellen (fr. 55—-66) und somit die Verwerfung aller Geld- gier (fr. 67—76) sein. GroBe Bedeutung kommt der Erziehung zu, die an geordnete und pflichtbewuBte Arbeit gewohnen und deren letztes Ziel die Umgestaltung der gegebenen zu einer hoheren sittlichen Natur sein soll (fr. 77—81;95—104). Dabei wird die Lebensfreude durchaus als berechtigt anerkannt, ja ein stark eudamonistischer Zug der demokritischen Ethik ist nicht abzuleugnen; aber sie unterscheidet zwischen harmloser und schadlicher Lust, unedler sinnlicher und edler auf das wahrhaft Schone gerichteter Liebe. Sie kennt also schon die Lehre vom doppelten Eros (fr. 110—113). Sehr hoch ge- schatzt wird die auf verwandter Gesinnung beruhende Freund- schaft (fr. 114—123), niedrig die Frauen und das Familien- leben (fr. 124—135). Auch der Staat (fr. 136—162) scheint von Demokrit nur als ein um der Masse der Menschen willen notwendiges Ubel angesehen worden zu sein. Obwohl er die Demokratie der Tyrannis vorzieht, ist Demokrit offenbar mit den geschichtlich gewordenen Republiken nicht zufrieden. Manche Bruchstiicke nehmen sich aus wie Reste eines mit aristokratischer Tendenz verfaBten Entwurfs eines Idealstaats, mindestens einer scharfen Kritik der bestehenden Zustande. Insofern kann man auch bei ihm wie bei Hippodamos und Phaleas von einer Abwendung vom konkreten Staat sprechen. Jedenfalls kann der Weise in die Lage kommen, sich seine per- sonliche Unabhangigkeit im Gegensatz zu dem geltenden Gesetz 5 Vorsokratiker 65 und Brauch wahren zu miissen, und auch die Grenzen der Staaten koénnen ihn nicht einschranken: er ist von Rechts wegen ein Weltbiirger. Die Atomistik ist das letzte Glied in der Kette naturphilo- sophischer Versuche, die mit Thales beginnt. Durch die Schiiler Demokrits leitete sein System teils zum Skeptizismus Pyrrhos iiber, teils wurde es die wissenschaftliche Grundlage der epi- kureischen Ethik. Ein letzter machtiger Widerhall seiner Lehren tént uns aus dem Gedicht des Lukrez entgegen, der diese seinem geistig miindig gewordenen Volke mit begeisterten Worten als Mittel zur Befreiung von allem aberglaubischen und beangstigenden Wahne preist. Unmittelbar hat die Atomistik als eine 4uBerst fruchtbare Hypothese vor allem auf die Naturwissenschaften belebend ge- wirkt, und es liegt zum mindesten eine innere Wahrheit in der Tradition, die den Begriinder der wissenschaftlichen Medizin, Hippokrates von Kos, mit Demokrit freundschaftlichen und wissenschaftlichen Verkehr pflegen 1a8t. Und ebenso hat die Atomistik bei der Neubegriindung der Naturwissenschaften in der modernen Zeit auf Manner wie Galilei, Descartes und Gassendi anregend und férdernd eingewirkt. Ii seiner Wertschatzung der Erziehung und Bildung steht Demokrit, ohne es zu wollen, unter dem EinfluB der von der Sophistik verfolgten Zeitrichtung. Seine ethische Lebensan- schauung endlich, in der ein heiterer und lebensfroher Opti- mismus sich mit ernster Gesinnung und humaner Empfindung verbindet, stellt den Ubergang zur ethischen Begriffsphilo- sophie des Sokrates dar, an die sich die Systeme des Plato und Aristoteles anschlieBen. Lange genug hatte das Auge der hellenischen Denker stau- nend auf der umgebenden Welt, zumal an den Sternen des 66 Himmels, gehangen. Nun wandte sich der Blick nach innen: der Gegenstand der Sophistik wie der Sokratik ist der Mensch selbst. DIE SOPHISTEN \ a des fiinften Jahrhunderts auf dem Gebiete der Yy Vi Naturphilosophie eine gewisse Ermiidung der 44 Spekulation eintritt und das Streben, Kenntnisse auf dem Wege der Induktion zu erwerben sich immer kraftiger Bahn bricht. Die Aufstellung der mannigfaltigen, in ihren Grundanschauungen sich widersprechenden Systeme konnte nicht verfehlen, MiBtrauen in die Haltbarkeit ihrer Grundlagen zu erwecken, und die frohe Zuversicht jugendfrischen Denker- muts machte gegeniiber den Fragen nach den letzten Griinden alles Seins einer skeptischen Zuriickhaltung Platz. Dazu kam, daB ein weites von der bisherigen Forschung kaum erst gestreiftes Gebiet zur Bearbeitung einlud. Nur als ein Teil der Natur, als ein animalisches Wesen, war, wenige Ausnahmen abgerechnet, der Mensch bis jetzt in den Kreis wissenschaftlicher Untersuchung gezogen worden. Aber das, was ihm im Unterschied von den iibrigen Lebewesen spezi- fisch eigen ist, die Erzeugnisse seines Geistes, alles das, was die Griechen ,Nomoi‘ nannten, die gesamte Kultur hatte bis jetzt nur den fliichtigen Blick einzelner Denker auf sich ge- zogen. Und doch hatte es die Hebung und Erweiterung des ganzen politischen und wirtschaftlichen Lebens seit den Per- serkriegen mit sich gebracht, daB in dieser Hinsicht der Hori- zont der Hellenen betrachtlich an Ausdehnung gewonnen hatte. Besonders im Verkehr mit dem Orient hatte man fremde . 67 Volker kennen gelernt, deren Sitte und Brauch man mit dem Heimischen verglich, und neben manchen Ahnlichkeiten be- merkte man mit Erstaunen, wie vieles ganz anders war als im eigenen Lande, ja daB mitunter, was dem einen Volke heilig war, bei dem andern als der gréBte Frevel angesehen wurde. Schon begann die geographische und geschichtliche Forschung, die mit Herodot ihren ersten groBen Aufschwung nahm, solche Beobachtungen zu verzeichnen, und es muBte sich die Frage erheben, ob denn die Sitten der Vater, die man bisher durchaus naiv als selbstverstandlich hingenommen hatte, wirklich so sein miiBten, wie sie waren, woher der Unterschied in den religidsen, rechtlichen, sittlichen Anschauungen, in Sprache und Lebens- weise der verschiedenen Vélker komme und welche objektive Geltung dies alles zu beanspruchen habe, ob es ,von Natur‘ (ydoe) oder ,durch Satzung‘ (vd uq@) so geworden sei. So wurde der Mensch und die menschliche Kultur Objekt der Forschung und des Nachdenkens. Aber nicht nur zur theoretischen Untersuchung forderte die Kultur heraus sondern auch zur praktischen Stellungnahme ihr gegeniiber. Neben dem Schénen und Guten, das sie darbot, empfand man auch ihre Harten und Ungerechtigkeiten. Mit der Mannigfaltigkeit und dem Reichtum des Lebensinhalts wuchsen auch die Lebensaufgaben, vor die sich der Einzelne in der ihn umgebenden Gesellschaft gestellt sah. Man muBte sich nach Mitteln umsehen, die es dem Individuum erméglichten, sich in dem immer komplizierter werdenden Leben zurechtzufinden und es so weit als méglich zu beherrschen. Dazu reichte die bisherige Erziehung nicht mehr aus. Das mittelalterliche Bil- dungsideal der aristokratischen Kreise, das bei seinem allmah- lichen Versinken Pindars Lieder noch mit einem goldenen Abendrot umwoben hatten, beruhte vorwiegend auf der Aus- 68 bildung der kérperlichen Tiichtigkeit (doet7#) durch gymna- stische und ritterliche Ubungen, wozu nurnoch ein wenig Musik, Dichterlektiire und die beim Grammatistes erworbenen elemen- taren Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens kamen. Jetzt, in der neuen Zeit, galt es sich mit den wissenschaftlichen Errungenschaften der Gegenwart bekannt zu machen und sich geistige Gewandtheit und Schlagfertigkeit anzueignen, zumal wenn man in dem bewegten Offentlichen Leben einer griechi- schen Demokratie eine Rolle spielen wollte. Das Ziel der neuen Erziehung konnte nur eine auf Wissen und Konnen gegriin- dete geistige Bildung (natéeia) sein. Je griindlicher diese war, je mehr man die im Leben wirksamen Krafte kannte und zu beherrschen verstand, um so besser gewappnet und mit um so mehr Aussicht auf Erfolg trat der Einzelne in den Kampf des Lebens ein, das man sich immer mehr nur in Beziehung auf sich selbst, nur sudbjektiv zu betrachten gewohnte. Die Waffen aber und die Kunst sie zu fiihren erwarb man in der Schule der Sophisten. Mit dem Worte ,Sophia‘ bezeichnete der Grieche urspriing- lich jede sachversténdig ausgeiibte Technik, mochte sie nun ein einfaches Handwerk wie das eines Schiffsbaumeisters (Il. XV. 412) sein oder eine geistige Tatigkeit wie Musik und Poesie oder Politik. Der gemeinsame Begriff liegt offenbar in der Be- deutung ,Kunst‘ im eigentlichen Sinn des Kénnens. Mit der zunehmenden Vergeistigung der Kultur schrankt sich der Be- griff der Sophia auf geistige Betaétigungen ein, und als die Phi- losophie aufkam, nahm ihn diese insonderheit fiir sich in An- spruch (Xenophanes fr. 2, 11 f.): Herodot nennt z. B. den Py- thagoras einen Sophisten. In Athen soll es auBerdem seit Solons Zeiten Leute gegeben haben, welche die jungen Athener auf den Eintritt in das 6ffentliche Leben vorbereiteten und die man 69 ebenfalls Sophisten hieB: zu ihnen gehdrte Mnesiphilos, der Lehrer des Themistokles. Das Wort hat also an sich keinerlei besondere Farbung, geschweige denn irgendeine ungiinstige oder tadelnde Bedeutung. Sophist ist, wer auf geistigem Gebiete etwas versteht und dieses sein theoretisches Wissen im Leben zu verwerten weiB. So war denn der Boden zubereitet fiir einen Stand von Leu- ten, der sich anheischig machte, die neue Erziehung zu geistiger Bildung, deren die Zeit bedurfte, in die Hand zu nehmen, und dies taten die Sophisten. Auch unter ihnen gibt es neben dem Gemeinsamen, was sie haben, verschiedene Richtungen gerade wie unter den Philosophen. Doch unterscheiden sie sich von den letzteren in dreifacher Hinsicht: 1. durch den Gegenstand der Untersuchungen, den bei den bisherigen Philosophen die Natur, bei den Sophisten die Kultur nach ihren verschiedenen Seiten bildet; 2. durch die Methode der Untersuchung, die bei den Philosophen spekulativ, bei den Sophisten induktiv ist; 3. durch den Zweck ihrer Tatigkeit: der Philosoph will in seinen Schiilern (falls er solche hat, was aber durchaus nicht notwendig ist) wieder Philosophen heranbilden, der Sophist will die Laien zur Bildung erziehen; jener verfolgt ein theoretisches Ziel, insofern ihm das Wissen Selbstzweck ist, dieser, wenigstens in letzter Linie, ein praktisches, insofern er belehren und erziehen will und ohne ZuhG6rer oder Schiiler gar nicht denkbar ist. Der Sophist ist also Kulturtheoretiker und Lebenskiinstler, die indi- viduelle und gesellschaftliche Kultur des Menschen ist sein Ge- biet, das er aber nicht um seiner selbst willen bearbeitet sondern mit der praktischen Absicht, Lebenskunst, Lebensbeherrschung zu lehren. Und dazu geh6rt nach griechischen Begriffen Ge- wandtheit im Denken, Reden und Handeln (qyooveiv, déyerr, apattey), woraus sich als Hauptlehrfacher der Sophisten erge- 70 ben: Dialektik, Grammatik und Rhetorik, Ethik und Politik. Dafiir, daB er anderen Leuten die hiezu gehdrigen Kenntnisse und Fertigkeiten beibrachte, lieB sich der Sophist bezahlen ge- rade so wie man den Arzt und auch den bestellten Festdichter zu honorieren pflegte. Da8B dadurch seine Tatigkeit im Vergleich zu dem auf pers6nlicher Freundschaft beruhenden Verhiltnis des Philosophen zu seinen etwaigen Schiilern an Vornehmheit und Innerlichkeit verlor, ist nicht zu leugnen; aber ebensowenig liegt darin an sich irgend etwas Verwerfliches. Die neue Bildung suchten nun die Sophisten auf doppeltem Weg zu verbreiten: einmal auf dem des Jugendunterrichts, den sie tiberall in den von ihnen besuchten Stadten in ihre Hande zu bringen wuBien und um dessen Hebung sie sich unstreitige Verdienste erwarben, wenn auch zuzugeben ist, daB dabei die formale dialektische und rhetorische Schulung, die auf das prak- tische Bediirfnis der politischen Tatigkeit (decvdtns moditix7) zugeschnitten war, meist zu sehr tiberwog. Doch darf man dar- iiber die ethisch-politischen Grundsatze, die sie ihren Schiilern einpflanzten und die nun freilich beiden Einzelnen sehr verschie- den waren, nicht vergessen. Fiir solche vollstandige Bildungs- kurse erhoben sie bedeutende Honorare, angeblich bis zu 7000 Mk., iibrigens unter Beriicksichtigung der pekuniaren Leistungsfahigkeit ihrer Schiiler. Die zweite Art der Verbreitung sophistischer Bildung bestand in populdrwissenschaftlichen Vortrigen, fiir die niedrigere Ein- trittspreise von */, bis zu 4 Drachmen (etwa 40 Pf. bis 3 Mk.) angesetzt wurden. Wenn einmal von 50 Drachmen die Rede ist, so war dies wohl der Preis fiir einen Vortragszyklus. Diese Vortrage (émdeiEec, Zupucdor Gxoodoetc) fanden teils in dffent- lichen Lokalen, wie die Gymnasien waren, teils in Privathau- sern, z. B. dem des reichen Sophistenfreundes Kallias in Athen, 71 vor einem engeren Kreise statt. Sie bestanden entweder in wohl vorbereiteten und mit allen Mitteln rhetorischer Kunst ausge- feilten Reden iiber die verschiedensten Gegenstainde oder in Improvisationen iiber jedes beliebige aus der Mitte des Zu- hérerkreises gestellte Thema, wobei es denn freilich unumgang- lich war, daB die glanzende rhetorische Hiille der dilettantischen Behandlung der Sache als Deckmantel dienen muBte. Wie man in alter Zeit dem wandernden Sanger gelauscht hatte, so strémte jetzt die bildungsdurstige Welt einer griechischen Stadt in den HOrsaal des Sophisten, der sie mit seiner Anwesenheit beehrte, und lieB sich bald, wie durch den ,Herakles‘ des Prodikos iiber die rechte sittliche Lebensfiihrung, bald, wie von dem unbe- kannten Verfasser der ,Verteidigung der Heilkunst‘ iiber die Vorziige der neu aufgekommenen wissenschaftlichen Medizin belehren, wobei man sich zugleich an der sch6nen stilistischen Form und dem rhythmischen Tonfall der Perioden erfreute. Jedenfalls haben die Sophisten zur Verbreitung geistiger Aujf- kidrung, ahnlich wie die franzdsischen Enzyklopadisten, viel beigetragen und einen Stand von Gebildeten im Gegensatz zu dem von ihnen verachteten Pébel herangezogen. Dadurch daB sie ihre Bildung in alle grdBeren griechischen Stadte trugen, leisteten sie einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Pflege pan- hellenischer Gesinnung und zur Uberwindung der Stammes- gegensatze. Am meisten Beifall und Erfolg aber winkte ihnen in der Stadt des Perikles, in Athen, dem einer von ihnen, Hip- pias, den Ehrennamen der ,Metropole der Bildung‘ (zgvtaveiov tis cogias) gegeben hat. Der Alteste unter den Sophisten, der sich selbst riihmte zu- erst sich ausdriicklich als solchen bekannt zu haben, war Pro- tagoras von Abdera, der altere Landsmann Demokrits (c.485 bis 415). Er durchreiste Griechenland, Sizilien und Unteritalien 72 und war mindestens zweimal auf langere Zeit in Athen. Das eine Mal, als er sich von dort aus mit noch zahlreichen andern bedeutenden Mannern wie Herodot und Hippodamos von Mi- let an der Kolonisation von Thurii beteiligte und von Perikles den Auftrag erhielt, die Gesetze des Charondas fiir die neue Stadt zeitgem48B umzugestalten (443), das andere Mal als er in den ersten Jahren des peloponnesischen Krieges die Sdhne des Perikles unterrichtete und bei deren friihem Tod die Fassung ihres Vaters bewunderte (fr.9). Ob er dann Athen vor seiner letzten Reise (415) nochmals verlassen hat, wei8 man nicht. In diesem Jahr wurde er von dem oligarchisch gesinnten Athener Pythodoros angeklagt wegen seiner Schrift ,Uber die Gotter‘, die er in einem Privathaus, wahrscheinlich bei Euripides, zum Vortrag gebracht hatte. Der siebzigjahrige Greis, der sich in den aufgeklarten Kreisen Athens der héchsten Achtung erfreute, entzog sich, wie einst Anaxagoras, den Folgen der Verurteilung durch freiwillige Abreise von Athen. Auf der Fahrt nach Sizi- lien soll er den Tod gefunden haben. Die eingeklagte Schrift wurde konfisziert und die vorhandenen Exemplare 6ffentlich verbrannt: ein Beweis, da8 die Gedankenfreiheit in der athe- nischen Demokratie noch immer nicht durchgedrungen war. Unter den zahlreichen Schriften des Protagoras steht obenan diejenige, welche unter dem aggressiven Titel ,Die Nieder- boxer‘ (KaraBdddortes sc. Adyou) seine Erkenntnistheorie enthielt und die gleich in ihrem ersten Satze (fr.1) die Losung einer subjektivistischen Weltanschauung auf sensualistischer Grund- lage ausgab. Der Mensch und zwar der einzelne in seiner je- weiligen Verfassung ist der MaB8stab fiir die Beurteilung der Dinge und ihrer Eigenschaften; eine objektive Erkenntnis gibt es nicht. Selbst vollstandig entgegengesetzte Auffassungen einer und derselben Sache sind gleich berechtigt (fr. 2), und in der a3 Praxis kommt es nur auf die gewandte Darstellung an, um auch die minder zutreffende Auffassung als die stichhaltigere er- scheinen zu lassen (fr.3). Aus der objektiven Vernunft (vvd¢ Adyos) des Heraklit ist die subjektive Auffassung (Adyos) ge- worden. Selbst auf die Mathematik dehnte Protagoras diesen seinen Skeptizismus aus (fr. 4). Kein Wunder, da8 Protagoras sich nicht verma8, iiber trans- zendente GrdBen wie die Gdtter ein positives Urteil abzugeben (fr.5). Aber hier empfand der Instinkt der Altglaubigen, daB schon das Aufwerfen der Frage, ob es Gétter gebe, und die bloBe Zulassung ihrer Verneinung im Sinne einer Méglichkeit eine grundsatzliche Erschiitterung der Volksreligion bedeutete. Und es war nicht grundlos, da8 das Altertum den Protagoras unter die kleine Zahl der ausgesprochenen Atheisten rechnete. Es drangt sich die Frage auf, wie Protagoras bei solchem Skeptizismus den Mut finden konnte als Lehrer aufzutreten. Dies erklart sich einmal aus dem durchaus praktischen Ziel, das er verfolgte, und dann aus seiner Auffassung der menschlichen Kultur. Bei Plato definiert Protagoras die Wissenschaft, die er lehre, als ,, Geschicklichkeit in der Verwaltung des eigenen Hauses und des Staates und méglichste Gewandtheit im Reden und Han- dein‘. Dazu gehdrt bei den Anspriichen, die das Offentliche Leben machte, in erster Linie der Unterricht in der Rhetorik und besonders in der Eristik, d.h. der Kunst, eine Debatte durch Schlagfertigkeit im Denken und Reden in die gewiinschte Rich- tung zu bringen. Protagoras gilt geradezu als Begriinder dieser von den Griechen sehr hochgeschatzten Fertigkeit, und er bil- deteseine Schiilersystematisch zurAusfechtung der ,Redekampfe‘ (ay@vec¢ Adywy) in der Volksversammlung und vor Gericht her- an. Aber er begniigte sich nicht mit dieser formalen Schulung sondern suchte ihnen auch die ndtigen sachlichen Kenntnisse 74 beizubringen. Er verglich Gebildete und Ungebildete mit Ge- sunden und Kranken, und wie der Arzt den Leidenden aus dem Zustand der Krankheit in den der Gesundheit zu versetzen sucht, so wollte er aus dem Ungebildeten einen Gebildeten machen; ja er behauptete geradezu, die Menschen durch seine Erziehung besser zu machen. Sein Ziel ist die geistige und sitt- liche Kultur des Individuums, wobei freilich eine gewisse natiir- liche Anlage und Empfanglichkeit sowie eigene Mitarbeit des Schiilers Voraussetzung ist (fr. 6—8). Die Kultur des Einzelnen hangt aber aufs engste zusammen mit der gesellschaftlichen Kultur. Seine Ansicht dariiber ist aus dem bei Plato ihm in den Mund gelegten Mythus (fr. 10) er- sichtlich. Entfernt man die mythische Hiille, so ergibt sich: die Annahme einer natiirlichen Entwicklung der Kultur in auf- steigender Linie im Gegensatz zu den gelaufigen Mythen vom goldenen Zeitalter und der wOrtlichen Auffassung der Prome- theussage, der Entstehung von Tieren und Menschen aus einer Mischung der Elemente, ihrer zweckmaBigen Ausstattung mit allerlei Fahigkeiten durch die Natur, der Uberlegenheit des Menschen iiber die Tierwelt durch seine geistige Begabung, die sich offenbart in der Schépfung der Technik, in der Aus- bildung der artikulierten Sprache sowie der religidsen Vor- stellungen und in der allmahlichen Ersetzung des Faustrechts durch die Einfiihrung einer gesellschaftlichen Ordnung, des Staates. Demnach sind allerdings Sprache, Religion, Sittlich- keit und Recht nur im Lauf der Geschichte entstandene, aus der Not des Lebens geborene Schépfungen der Menschen (vduq@), aber die ,Sitte‘ (yvéuoc) muB, zum wenigsten auf dem sittlich- rechtlichen Gebiet ,Geltung‘ haben, wenn nicht ein Krieg aller gegen alle entstehen soll. ,,.Ich wiirde mich schamen — so 1aBt Plato den Protagoras sagen — zuzugeben, daB, wer un- 1S recht tut, verstandig handelt, obwohl das eine weit verbreitete Meinung ist“. Protagoras gelangt also aus praktischen Griin- den doch zu einer Ethik und Politik, worin die Begriffe ,gut‘ und ,recht‘ allgemeine Verbindlichkeit haben, freilich nur fiir die Glieder eines und desselben Staates. Eine absolute Bedeu- tung haben sie nicht, und es bleibt unentschieden, ob die ,Sitte‘ des Hellenen oder des Persers oder des Agypters die richtige ist. Insofern bleibt Protagoras seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen treu. Aber innerhalb eines bestimmten Ge- meinwesens muB8 auf die Aufrechterhaltung der ,Sitte‘ gesehen werden, und Protagoras spricht dem Staate das Recht zu, ein scharfes Auge auf die sittliche Haltung seiner Biirger zu haben. Dahin gehdrt auch seine Theorie der Strafe, iiber die er ein- mal aus einem bestimmten Anla8 mit Perikles eine eingehende Unterhaltung gefiihrt haben soll. Ihr Zweck ist wie in der Er- ziehung des Einzelnen so auch im Staate nicht Siihnung des Vergehens, sondern Besserung des Taters und Abschreckung anderer von Verbrechen. Zur ,Sitte‘ gehdrt auch die Sprache. Um ihre Erforschung hat sich Protagoras groBe Verdienste erworben, und man kann ihn geradezu den Vater der Grammatik nennen, deren Grund- linien er gezogen hat durch die Benennung der drei Geschlech- ter, die Unterscheidung der Tempora und Modi und die Ein- teilung der Satze in vier Grundformen. Bei seinen Bemii- hungen um ,Sprachrichtigkeit* ist fiir den rationalistischen Geist seiner Forschung charakteristisch die gewaltsame Zurecht- riickung des Sprachgebrauchs durch Bildung kiinstlicher W ort- formen (z. B. des Femininums a@dextodawa zu Glextovedy, etwa wie ,Hahnin‘ zu Hahn) zugunsten seiner Theorie. Auch bei der Erklarung der Dichter und der sprachlich-dsthetischen Analyse ihrer Werke drangt die verstandesmaBige Unter- 76 suchung, ob das betreffende Gedicht ,,richtig gemacht“ sei, die Frage nach seiner Wirkung auf das Gemiit zuriick. Protagoras hat einen zahlreichen Jingerkreis um sich ver- sammelt, aus dem uns Antimoiros von Mende, Archagoras von Athen und der Mathematiker Theodoros von Kyrene genannt werden. Die a4ufersten Konsequenzen aus seiner Lehre zogen im Sinne eines vélligen Agnostizismus die Sophisten Xeniades von Korinth und Futhydem von Chios, Fast noch wichtiger aber ist der EinfluB, den Protagoras auf weite Kreise der ge- bildeten Laien ausiibte: nicht nur die Tragédien des Euripides mit ihren philosophischen Erérterungen (Gucddou Adyewy) ver- raten in Form und Inhalt oft die Einwirkung des dem Dichter befreundeten Sophisten, sondern auch ein so ganz anders ge- arteter Geist wie Sophokles zeigt sich mitunter von seinen Ideen befruchtet, so in dem Triumphlied auf die Kultur, das der Chor der ,Antigone‘ (334 ff.) anstimmt. Ferner ist es wenig- stens wahrscheinlich, daB Diagoras von Melos, ein lyrischer Dichter, der urspriinglich eine durchaus fromme Gesinnung hatte, aber durch eine eindrucksvolle Lebenserfahrung, das Ausbleiben der géttlichen Strafe bei einem meineidigen Men- schen, an seinem Glauben irre geworden war, mit dem Titel seiner Schrift ,Die vom Turm stiirzenden Reden‘ (;Azozvo- yilovtec’) die ,Niederboxer‘ des Protagoras iiberbieten wollte. Darin suchte der erklarte Atheist, der sich mit einem Holzbild des Herakles Gemiise kochte und dazu spottete, dies sei ,,die dreizehnte Arbeit“ des Heros, und auf dessen Kopf in Athen wegen Verspottung der Mysterien ein Preis von einem Talent gesetzt wurde, die Entstehung des G6tterglaubens in euheme- ristischer Weise zu erklaren. Endlich werden wir die Erkennt- nistheorie des Demokrit, der literarisch gegen Protagoras po- lemisierte, als eine Modifikation und Reaktion gegen des letz- i teren Lehre auffassen diirfen, wahrend seine mit dem atomisti schen System schwer vereinbaren ethisch-politischen Anschau- ungen als ein positiver Reflex der Ansichten des abderitischen Sophisten erscheinen. An Protagoras reiht sich wiirdig der um ein bis zwei Jahr- zehnte jiingere Prodikos aus der Stadt Julis auf Keos, jener Attika benachbarten Insel, deren Bewohner dafiir bekannt waren, daB sie einer ernsten, ja sogar zum Pessimismus neigen- den Lebensauffassung huldigten, die aber auch schon Dichter wie Simonides und Bacchylides hervorgebracht hatte, welche das Leben nicht nur zu genieBen sondern auch zu beherrschen verstanden. Obwohl k6rperlich leidend diente Prodikos mehr- fach seiner Vaterstadt als Gesandter nach Athen, wo er seinen Aufenthalt zu dffentlichen Vortragen beniitzte und mit Man- nern wie Euripides und dem mit Perikles befreundeten Musi- ker Damon in Verkehr trat. Um 423 war er dort schon so be- kannt, daB die Komédie ihm die Ehre ihres Spottes wider- fahren lie}. Den Sokrates, der annahernd gleich alt mit ihm war, hat er iiberlebt. Wie Protagoras befaBte sich auch Prodikos mit sprachlichen Studien und zwar besonders mit Synonymik: Studien, bei denen es zwar nicht ganz ohne Pedanterie abging, denen aber doch ein nicht zu unterschatzendes Verdienst um die Disziplin des Sprachgebrauchs und um die Ubung in klarer, scharf logischer Ausdrucksweise zukommt. Aber wie er selbst sagte, daB der Sophist ,,halb Philosoph, halb Politiker“ sei (fr. 1), so war er keineswegs nur Redner sondern auch Denker. Von seiner Schrift ,Uber die Natur‘ ist auBer einer Bemerkung iiber den Schleim im menschlischen Organismus nichts erhalten und die Vermutung, daB sie eine Kosmogonie und eine teleologische Betrachtung des menschlichen K6rpers enthalten habe, steht 78 auf schwachen FiiBen. Mehr wissen wir iiber seine ethischen Anschauungen. Da8B er dem Pessimismus zuneigte, bestatigt eine offenbar auf ihn zielende Anspielung des Euripides (Hik. 196f.), wenn auch die naheren Ausfiihrungen iiber die den verschiedenen Lebensaltern und Berufen anhaftenden Note (fr. 4), die ihm der pseudoplatonische Dialog ,Axiochos‘ in den Mund legt, erst ein Erzeugnis spaterer Zeit sein mégen. Jeden- falls hat sich aber Prodikos nicht bei sentimentalen Klagen iiber die Ubel des Lebens beruhigt, sondern den Kampf mit seinen Schwierigkeiten energisch aufgenommen. Dem erkennt- nistheoretischen Subjektivismus des Protagoras gab er die ethische Wendung, daB die Dinge nicht an sich gut oder schlimm seien, sondern es nur durch den Gebrauch werden, den der Einzelne davon macht (fr. 3). Dabei erscheinen ihm die Leidenschaften als héchst gefahrlich (fr. 2), und so appelliert er besonders in dem schénen Mythus von Herakles am Scheide- weg, der in seiner Schrift ,Die Lebensalter‘ stand, an den Wil- len der Jugend, sich der ,,.Tugend“ hinzugeben. Im Anschlu8 an Worte des Hesiod und Epicharm feiert er den Segen der Arbeit im Dienste des Gemeinwohls im Gegensatz zu einem verderblichen GenuBleben. Gegen das griechische National- laster der Paderastie findet er scharfe Worte, und die ,, Tugend“ ist ihm nicht mehr wie dem Junker Theognis ein an aristo- kratische Geburt gebundenes Geschenk der Gétter, sondern sie, die man lehren und lernen kann, ist jedermann, auch dem Sklaven, zuganglich. Ihren Lohn tragt sie in sich selbst und sucht ihn nicht in einer jenseitigen Vergeltung. Denn die leise Anspielung auf die schlieBliche Apotheose des Herakles ist wie der ganze Mythus symbolisch zu verstehen (fr. 5). Schon damit ist angedeutet, daB Prodikos kein Leben nach dem Tode erwartet. Dieser war fiir ihn nichts anderes als das 79 natiirliche Ende des Lebens und der Erléser von dessen Miihen, mag nun eine mit einem Worte Epikurs iibereinstimmende AuBerung dariiber (fr. 6) von ihm sein oder nicht. Auch die Gétter der Volksreligion \ehnte er ab und suchte nur die Ent- stehung der letzteren wie Xenophanes und Demokrit psycho- logisch zu erklaren. Aber er fiihrte sie nicht wie dieser auf die Angst vor unheimlichen Naturgewalten sondern, hier sich mit Goethe beriihrend, auf die Dankbarkeit des Menschen gegen die das Leben férdernden Machte zuriick. Nach einer Uber- lieferung scheint es sogar, als habe er zwei Stufen der Religion unterschieden: eine fetischistische, auf der die Dinge, z. B. Feldfriichte, Wasser, Wein, selbst als Gétter galten (fr. 7) und eine anthropomorphistische, auf der man ihre vermeintlichen »Lrfinder“ géttlich verehrte: eine Theorie, wie sie auch Dia- goras und spater namentlich Euhemeros vertrat. Der schon seit Homer tibliche metonymische Gebrauch der Gétternamen und die Dionysos- und Demeterfeste des Offentlichen Kultus waren geeignet, diesen Gedankengangen Vorschub zu leisten. Selbstverstandlich ist fiir diese ,atheistische‘ Anschauung auch das Gebet iiberfliissig. Bei einer durch einen jungen Menschen veranlaBten Auseinandersetzung hieriiber nach einem Vortrag im Gymnasium Lykeion in Athen wurde Prodikos von dem Gymnasiarchen aus dem Lokal ausgewiesen, weil er ,,mit der Jugend iiber unpassende Dinge rede“. Doch kam es zu keinem ernsteren Konflikt. Prodikos erfreute sich nach Platos Zeugnis ebenso groBer Beliebtheit bei seinen Schiilern wie Protagoras. Doch kennen wir mit Namen von solchen nur den Staatsmann Theramenes und den Redner Isokrates. AuBerdem bildete Thukydides seinen Stil wie an Gorgias so auch an Prodikos. Erwagt man, daB bei ihm die Rhetorik nicht die beherrschende Stellung 80 einnahm wie bei manchen andern Sophisten und daB er, wenn er auch kein ethisches System aufgestellt hat, doch sich zu einer auf ernste Ziele gerichteten Lebensauffassung bekannte, so kann man diesen ,,anthropologischen Moralisten“ wohl einen ,,Vorganger des Sokrates“ im besonderen Sinne nennen. Sein ,Herakles‘ ist weltberiihmt geworden. Seine erste und wohl bedeutendste Nachahmung war die des Antisthenes. Urspriing- lich ein argivischer Heros, bei Prodikos ein panhellenisches Tugendideal, wurde Herakles durch ihn der Schutzheilige der weltbiirgerlichen Zyniker. Und selbst in der spatjiidischen (Spriiche 8 f.) und der friihchristlichen Literatur, im ,Hirten des Hermas‘ glaubt man noch einen fernen Nachhall von dem paranetischen Meisterwerk des Prodikos zu vernehmen, das in seiner Form schon den Keim des von Plato zur kiinstle- rischen Vollendung gefithrten philosophischen Dialogs tragt. Etwa ein Altersgenosse des Prodikos war Hippias von Elis, der als staatlicher Gesandter seiner Heimat haufiger nach Sparta als nach Athen kam, aber auch sonst Griechenland und nament- lich Sizilien durchreiste, von vielen hellenischen Stadten das Ehrenbiirgerrecht erhielt und sich besonders gern an der pan- hellenischen Feststatte zu Olympia als Redner h6ren lieB. Hier war es auch, wo er sich einmal seiner Vielseitigkeit riihmte, indem er erklarte, alles was er an und bei sich trage, Gewand, Giirtel und Schuhe, Siegelring, Salbflasche und Schabeisen, habe er selbst verfertigt: eine Art Vorlaéufer des kynisch-stoi- schen Ideals der Autarkie. Wie Sokrates kniipfte er auch auf der StraBe und ,,selbst auf dem Markt an den Tischen“ mit den Leuten Gesprache an. Am meisten aber tat er sich auf seine Fertigkeit in improvisierter Rede zu gut, wobei ihn sein vor- ziigliches durch eine von ihm erfundene mnemotechnische Methode geschultes Gedachtnis unterstiitzte. Hippias ist der 6 Vorsokratiker 81 gelehrteste (,z10Avpadjc) unter den Sophisten, ein Polyhistor, in dem sich schon einigermaBen der registrierende und rubri- zierende Gelehrtentypus des hellenistischen Zeitalters ankiindigt und wie er sich dann wieder zwei Jahrtausende spater in der Renaissance findet. Abgesehen davon, daB er sich in samtlichen Gattungen der Poesie versuchte, befaBte er sich mit Astrono- mie und Mathematik, Grammatik und Rhetorik, Rhythmik und Harmonik, Asthetik der Poesie und bildenden Kunst, Mytho- logie und Literatur und vornehmlich Geschichte. Mit diesen seinen geschichtlichen Studien, die sich auf Genealogie, Chro- nologie, V6lkernamen, Griindung von Stadten und Ausfiih- rung von Kolonien erstreckten, fand er auch in dem sonst der neuen sophistischen Bildung abgeneigten Sparta Anklang. Er benutzte dazu nicht nur griechische sondern auch auslandi- sche Schriften, wie er selbst in seinem groBen Sammelwerk (2vvaywyn') bezeugt (fr. 1), das etwas wie ein Konversations- lexikon gewesen zu sein scheint. Neben Kuriositaten, wie der Notiz iiber die vierzehnmal verheiratete Thargelia (fr. 2, wozu vergl. Demokrit fr. 129) verdanken wir ihm auch kulturge- schichtlich interessante Nachrichten, und er scheint u. a. den Anfangen der Philosophie und Mathematik nachgeforscht zu haben (fr. 3—6). Sicherlich ging sein Wissen viel mehr in die Breite als in die Tiefe: es war gerade die Art von ,Vielwisserei‘, die Heraklit in seiner charaktervollen Einseitigkeit haBte, wes- halb denn auch Hippias seinerseits die alten Philosophen ver- achtete, die sich nach seiner Meinung zu den sophistischen Vertretern der modernen Bildung verhielten wie Dadalos zu Phidias. Natiirlich durfte die Erklarung der Dichter im Kreis seiner Tatigkeit nicht fehlen. So erdrterte er in Vortragen die Charakteristik der homerischen Helden und suchte an ihnen ethische Typen zu gewinnen: Achilles ist das Muster der Tap- 82 ferkeit, Nestor das der gereiftesten Weisheit, Odysseus das skrupelloser Verschlagenheit. In seinem ,Troischen Dialog‘, einer Art Ritterspiegel, lie8 er den alten Nestor dem jungen Neoptolemos Belehrung iiber ein auf eine ehrenvolle Tatigkeit gerichtetes Leben erteilen (fr. 7). Die wenigen sonst von ihm bekannten ethischen AuBerungen (fr. 8—9) sind ganz ehren- wert, aber von einer systematischen Weltanschauung findet sich bei ihm keine Spur. Und doch hat er sich um die Klarstellung eines ethisch- politischen Grenzbegriffes, der in der Sophistenzeit eine groBe Rolle spielte, entschieden verdient gemacht. War es die un- mittelbare Anschauung des konservativsten hellenischen Ge- meinwesens, Spartas, war es eine beriihmte Stelle in Pindars Gedichten, waren es seine ethnologischen Studien oder alles das zusammen, was ihn veranlaBte, das Wesen des Nomos (Brauch, Sitte, Gesetz)zum Gegenstand eifrigen Nachdenkens zu machen? Jedenfalls fiel ihm der widerspruchsvolle Unterschied in den Sitten der verschiedenen Volker und ferner die Tatsache auf, daB auch innerhalb eines Volkes Gesetz und Brauch mit der Zeit veralten. Bleiben sie dann dennoch in Geltung, so verge- waltigen sie die natiirliche Entwicklung der Verhaltnisse. So wurde Hippias an der unbedingt normativen Geltung des Nomos irre. Und wie in der Aufklaérung des 18. Jahrhunderts Rousseau die Menschenrechte proklamierte, Goethe nach dem »Rechte, das mit uns geboren ist,“ verlangte und Schiller durch den Zauber der Freude wieder binden lieB, ,,was die Mode streng geteilt, so stellte auch Hippias dem konventionellen Recht und Brauch das ungeschriebene Naturrecht gegeniiber. Es ist zu bedauern, daB wir nichts Naheres iiber die Ausge- staltung dieses Gedankens bei Hippias selbst wissen und nur so viel sehen, da8 er ahnlich wie Demokrit (fr. 161) eine die 6* 83 Schranken der Staaten iiberspringende weltbiirgerliche Ge- sinnung, wenigstens fiir die fiihrenden Geister, in Anspruch nimmt. Unter allen Umstinden war mit dieser Idee ein Prinzip des Fortschritts gegeben, und das Nachdenken iiber ethische, politische und soziale Begriffe erhielt dadurch eine machtige An- regung. Hippias, der keine bedeutenden unmittelbaren Schiiler hatte, hat mit dieser Idee aufs starkste auf Antisthenes, den Stifter der kynischen Schule, und mittelbar auch auf die Stoa eingewirkt. Das Leben des vierten unter den groBen Sophisten, Gorgias von Leontini, dehnte sich iiber mehr als ein Jahrhundert (483 bis 375) aus und begleitete die Geschicke Griechenlands von den Siegen iiber die Perser bis in die Zeiten des KOnigsfriedens, sein Geistesleben von der Bliitezeit des Aschylos und Pindar bis zu den Mannesjahren Platons. Auch Gorgias kam als Ge- sandter seiner Heimat im Jahr 427 nach Athen, um dessen Hilfe gegen Syrakus zu erbitten. Sein Auftreten versetzte die fiir die schéne Form der Rede so empfanglichen Herzen der Athener in helles Entziicken, und er gewann zahlreiche und hervor- ragende Schiiler. Er bereiste dann Mittel- und Nordgriechen- land, namentlich B6otien und Thessalien, kehrte wahrschein- lich um 405 nochmals nach Athen zuriick und brachte seine letzten Lebensjahre wieder in Thessalien am Hof des Tyrannen Jason von Pherae zu. Sein hohes Alter fiihrte er auf seine ein- fache Lebensweise zuriick, die er stets beibehielt, obwohl der Ertrag seines Berufes es ihm erméglichte, eine goldene Bild- saule von sich nach Delphi zu stiften, wo er ebenso wie in Athen und Olympia beriihmt gewordene, von panhellenischer Gesinnung zeugende Reden hielt (fr. 17—19). Mit den Worten: »schon beginnt der Schlaf mich seinem Bruder zu iiberant- worten“, schied der mehr als hundertjahrige Greis, der keine 84 Familie gegriindet hatte, aus einem an Erfolg und Ruhm reichen Leben. In Gorgias geistiger Entwicklung lassen sich drei Perioden unterscheiden. In der ersten widmete er sich im AnschluB an Empedokles der Naturphilosophie, und er hat vielleicht eine Jugendschrift iiber Optik verfaBt, aus der zwei genau die Theorie des Agrigentiners wiedergebende Bemerkungen iiber die Far- ben und iiber Versuche mit dem Brennspiegel zu stammen scheinen (fr. 1—2). Aber die Dialektik Zenos fiihrte ihn vom naturphilosophischen Dogmatismus zur kritischen Betrachtung der Erkenntnis und damit zu volliger Skepsis. Denn was er in der Schrift ,Uber das Nichtseiende oder iiber die Natur‘ aus- fiihrte (fr. 3), bezieht sich keineswegs bloB auf das hinter der Erscheinung liegende Wesen der Dinge, sondern auf diese selbst. Eher ware es bei der zweifellosen Polemik der Schrift gegen die eleatische Schule denkbar, daB Gorgias deren Lehre mit ihren eigenen Mitteln hatte ad absurdum fiihren wollen. Wie dem sei, jedenfalls bedeutete fiir ihn diese wahrscheinlich schon vor 440 verfaBte Schrift die Absage an die Philosophie. Er widmete sich von nun an ganz der Rhetorik. Die Wiege dieser Kunst war ja gerade seine Heimat Sizilien. Schon Empe- dokles war wegen seiner Redegewalt bewundert worden, die Syrakusaner Tisias und Korax aber hatten eine systematische Theorie der Beredsamkeit, besonders der Gerichtsrede, aus- gebildet. Gorgias schuf den pathetischen Stil der epideiktischen Rede, die er durch eine Menge von Kunstmitteln (Antithesen, Isokolen, Parisosen u. a.) verzierte. Gleichgro8 in der Impro- visation wie in der zum literarischen Kunstwerk ausgefeilten Rede ward er zum berufsmaBigen Redekiinstler (Aoyodaidaios), aber auch zum Schépfer der attischen Kunstprosa. Gorgias wollte nichts weiter sein als Redner und Lehrer der 85 Rhetorik. Er begniigte sich an Stelle der Wahrheit mit der Wahrscheinlichkeit (fr. 4) und machte sich nicht einmal, wie die anderen Sophisten, anheischig, die ,Tugend‘ (doer) zu lehren, von der er gar keinen einheitlichen Begriff anerkannte und in deren Beurteilung er sich ganz der popularen Auf- fassung anschloB (fr. 5—9). Aber wenn auch die Rhetorik lediglich eine formale Kunst war (fr. 13), so setzte ihre Hand- habung doch eine umfassende Bildung voraus. Dazu gehdrte die Beschaftigung mit den Dichtern (fr. 10—12), wobei z. B. die Erérterung iiber die Illusion in der Tragédie gewiB auch den Zweck verfolgte, zu zeigen, da8 ,Tauschung‘ (4xdtn) unter Umstanden nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten sei (vgl. Dialexeis 3, 10). In einem rhetorischen Handbuch (téz»n) gab er Anleitung zum Studium seiner Kunst, und in diesem standen wohl auch die beiden vollstandig erhaltenen Muster- reden, die ,Rettung der Helena‘ und die ,Verteidigung des Palamedes‘ (fr. 14—16). Obwohl diese also Schulbeispiele sind und der Verfasser die erstere sogar selbst als einen ,,Scherz“ bezeichnet, so hat doch Gorgias offenbar einige seiner Lieb- lingsideen in diese Stiicke verwoben. Danach muB sich der Redner nicht nur auf die Fiihrung einer politischen Debatte und einer philosophischen Unterhaltung, d. h. auf die Dialektik ver- stehen, sondern er muB auch in der Astronomie bewandert sein, und wir wissen, daB Gorgias auf dem Grabmal seines Schillers Isokrates in die Betrachtung eines Himmelsglobus vertieft dar- gestellt war. Palamedes gibt ihm Gelegenheit, seine Ansicht iiber die Entstehung der menschlichen Kultur anzudeuten: es ist jene rationalistische Theorie, die jeden Kulturfortschritt von be- stimmten ,,Erfindungen“ einzelner bedeutender Persdénlich- keiten herleitet. Als solche figuriert hier Palamedes, der ganz die Rolle des mythischen Prometheus tibernommen hat. Dabei 86 ist zu beachten, daB die hellenische Kultur nicht mehr vom Ausland abhangig erscheint, sondern umgekehrt die Erfin- dungen des Griechen Palamedes der ganzen Menschheit zugute kommen. Auch die in einem sch6nen Bruchstiick des Euripides (fr. 910) ausgefiihrte Idee von der sittlichen Wirkung geistiger Tatigkeit wird gestreift. Besonders aber werden wir tiber Wesen und Zweck der Rhetorik belehrt. Die Wirkung der Redekunst wird mit der- jenigen offizineller Gifte verglichen, die heilen und téten kénnen. Und dies scheint wirklich die Ansicht des Gorgias ge- wesen zu sein; denn er vertritt sie auch bei Plato in dem nach ihm benannten Dialog (456E—457E; vgl. Theaet. 167A), worin auBer dem Begriff der Rhetorik auch der der Gerechtigkeit erdrtert wird und dessen satirische Scharfe trotz der achtungs- vollen Behandlung, die dem Sophisten selbst darin zuteil wird, diesen veranlaBte, den Plato einen neuen Archilochos zu nennen. Auch will Gorgias nach Plato (461 AB; 482D) den Unterschied zwischen Recht und Unrecht keineswegs aufgehoben wissen. Wenn nun Plato dennoch, wenigstens in der Person seiner Schiller, den Gorgias fiir die Lehre vom Recht des Starkeren verantwortlich macht, so lag der Ankniipfungspunkt offenbar in dessen Bestimmung von Wesen und Zweck der Rhetorik. Diese geht namlich auf die Beherrschung der Menschen aus, sei’s zu ihrem Wohle, um etwa einen Kranken zu einer ihm heilsamen Operation zu bestimmen, sei’s zum eigenen Vorteil, um Macht und Ruhm zu erlangen. Der psychologischen Wirkung der von einem tiberlegenen Redner regelrecht gehandhabten Kunst mu6 der Mensch unbedingt erliegen. Denn das Naturgesetz, daB das Schwachere dem Starkeren sich fiigen muB8, gilt auch vom Menschen: so unterlag Helena der starkeren Macht des Schick- sals oder der Liebe oder der Gewalt der Uberredungskunst des 87 Paris. Mit dieser Auffassung der Rhetorik war ein egoistisches Motiv fiir ihre Anwendung gegeben: durch die geistige Uber- legenheit den Schwacheren ohne Riicksicht auf irgendwelche sittliche Normen zu vergewaltigen. Mochte dies nicht nach dem Sinn des Gorgias selbst sein, in seiner Theorie lag der Keim zu dieser Lehre, den ein Teil seiner Schiiler zur Entfaltung brachte. Unter den Schiilern des Gorgias wurde der Haupterbe seines kunstvollen rhetorischen Stils und seiner panhellenischen Ge- sinnung /sokrates. Der Dichter Agathon iibertrug die blumen- reiche Sprache des Sophisten auf die Tragédie, und Thukydides hat fiir seine Schreibweise wie von Prodikos so auch von Gorgias Anregungen empfangen. Bei der Unbestimmtheit, in der Gorgias das Verhaltnis der Rhetorik zu Sitte und Sittlich- keit gelassen hatte, ist es nicht zu verwundern, da8 wir seine Schiiler in ethisch-politischer Hinsicht ganz verschiedene Wege einschlagen sehen. Gleich die beiden Gorgiasschiiler, die uns Xenophon im Gefolge des jiingeren Kyros vorfiihrt (Anab. II. 6, 16ff.), der B6otier Proxenos und der Thessalier Menon, be- zeichnen die Spaltung der Richtungen, die von der Lehre des Gorgias ihren Ausgangspunkt nehmen. Beide sind ehrgeizige politische Abenteurer, die nach Reichtum, Ehre und Macht streben, aber der erstere sucht sein Ziel wenigstens ohne Rechts- verletzungen zu erreichen, wahrend der zweite mit vollendeter Skrupellosigkeit und mit bewuBter Verdrehung aller sittlichen Begriffe vorgeht. Aber auch wenn man darin einig war, daB Gesetz und Brauch (vdyos) keine absolute Giiltigkeit bean- spruchen kénnen, erhob sich die Frage, in welchem Sinne man dariiber hinausgehen wolle. Ihre Verwerfung konnte entweder dazu fiihren, die Starrheit veralteter Sitten zu brechen und einen gesunden Fortschritt im sozialen und politischen Leben zu begriinden, oder sie konnte zur Proklamierung eines 88 schrankenlosen Individualismus dienen, der nur den Vorteil des Einzelnen im Auge hatte. Das eine wie das andere wurde in Ubereinstimmung mit der Lehre des Hippias als ,,Naturrecht“ dem konventionellen, geschichtlich gewordenen Recht und Brauch gegeniibergestellt, in dem die eine Richtung ein Mittel der Starken sah, um die Schwachen zu unterdriicken, die andere umgekehrt die Fessel, welche die Schwachen den starken Geistern angelegt haben, um sie an der unumschrankten Durchsetzung ihres Willens und ihrer Eigenart zu verhindern. In die Praxis des Lebens iibersetzt bedeutete die erstere Theorie eine demokratisch-sozialistische Revolution von unten, die zweite eine aristokratisch-reaktiondre Umwdlzung von oben. Zu der ersteren Auffassung bekannte sich der Sophist Ly- kophron, iiber dessen Persénlichkeit wir weiter nichts wissen, als daB er Schiiler des Gorgias war und in seiner Skepsis so weit ging, daB er es sogar vermied, das Wortchen ,,ist“ in einem Urteilssatze zu gebrauchen. Interessanter als diese Schrulle ist seine Ansicht iiber den Staat. Ahnlich wie Rousseau in seinem ,Contrat social‘ vertrat Lykophron die Lehre vom Staatsvertrag, wonach der Staat nur eine Vereinbarung ist, worin die Einzelnen sich gegenseitig Sicherheit verbiirgen und sich zu diesem Zweck einer Beschrankung ihres an sich unbe- schrankten Rechtes unterwerfen. Irgendwelche sittliche Auf- gaben hat der Staat nicht (fr. 1). Der Vertrag hat aber zur Vor- aussetzung die Selbstandigkeit und rechtliche Gleichstellung der Kontrahenten und tragt die Moglichkeit einer Abanderung in sich. Dahin gehdért es — und dies beweist die antiaristo- kratische Tendenz von Lykophrons Lehre —, daB er die Vor- rechte des Adels von seinem Vernunftstandpunkt aus als vollig unbegriindet bezeichnete (fr. 2). Ebenso betrachtete A/kidamas aus Elda in Aolien, der nach 89 Gorgias’ Tode die Leitung seiner Rednerschule iibernahm, da- bei aber philosophische Bildung besa8 und u. a. einen Dialog naturwissenschaftlichen Inhalts verfaBte, Gesetz und Brauch lediglich als konventionelle Einrichtungen (fr. 1), die ihre Be- rechtigung vor dem Richterstuhl der Vernunft zu erweisen haben und sich nétigenfalls von der Philosophie berichtigen lassen miissen (fr. 2). Sein Ideal sind daher philosophisch ge- bildete Staatsmanner wie Epaminondas (fr. 3). Die Ansiedlung spartanischer Heloten durch diesen in Messene und der Versuch Spartas, sich dem zu widersetzen, gab Alkidamas Veranlassung, in seiner ,Messenischen Rede‘ fiir sie einzutreten und hier zum erstenmal in der antiken Welt unumwunden den Grundsatz auszusprechen, daB die Sklaverei etwas Widernatiirliches und der Anspruch auf Freiheit ein Menschenrecht sei (fr. 4). Was das heiBen wollte, mag man daran ermessen, da8 selbst ein Mann wie Aristoteles noch durchaus an der Ansicht festhielt, ein Teil der Menschen sei von der Natur zur Freiheit, ein anderer zur Sklaverei bestimmt. Von dem besonderen Fall in Messene abgesehen kamen je- doch Forderungen wie die des Alkidamas nie iiber das Stadi- um der bloBen Theorie hinaus. Viel engere Fiihlung mit dem wirklichen politischen Leben hatte die andere an Gorgias sich anschlieBende Richtung, welche die Lehre vom Recht des Star- keren verkiindigte. In vielen griechischen Stadten und so auch seit dem Tod des Perikles in Athen drohte die Demokratie in Podbelherrschaft auszuarten, und dies begiinstigte die iiberall in den politischen Klubs in der Stille fortlebenden Tendenzen nach einer aristokratischen Reaktion, nach Herstellung des yalten guten Rechts“ (xdtovos azoditeia), wie das Schlagwort lautete. Solche Bestrebungen unterstiitzt z. B. der unbekannte Verfasser einer um 424 verfaBten ebensoviel Geist als Hab 90 gegen die Demokratie atmenden Schrift ,Uber den athenischen Staat‘. In Kerkyra machte sich die Spannung der Parteien in wilden Kampfen Luft. Alkibiades erklarte, allerdings in Sparta, in Offentlicher Rede, alle gescheiten Leute seien dariiber einig, daB die Demokratie ,,ein ausgemachter Unsinn“ sei (Thuk. VI. 89). Und in manchen Stadten legten die zur Herrschaft ge- langten Oligarchen einen férmlichen Eid ab des Inhalts: ,,Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und durch meinen Rat nach Kraften schaden“ (Arist. Pol. VIII. 9 p. 1310a). Auch Athen hatte im Jahre 411 seine oligarchische Revolution und auf einige Monate eine reaktionare Regierung. Solche Verhaltnisse boten fiir starke, ehrgeizige und riicksichtslose Naturen ein verlockendes Feld der Tatigkeit. In der rhetorisch-philosophi- schen Bildung suchten und fanden sie das Mittel, sich die gei- stige Uberlegenheit iiber die verachtete Masse zu verschaffen und weiterhin in irgendeiner Form von Herrschaft die ,,groBe Bestie“ des Demos zu bandigen und sie ihre Macht fiihlen zu lassen. Schon der Gorgiasschiiler Polos, ein Bewunderer des bil- dungsfreundlichen aber despotischen Kénigs Archelaos von Makedonien (413—399), bewegte sich einigermaBen in dieser Richtung; doch blieb er, der in einer Schrift den Kulturfort- schritt auf die ,,Erfindung“ der Kiinste (zéyvav) zu begriinden suchte, wie sein Meister noch ganz dem Beruf des Sophisten treu. Dagegen war nicht Sophist, sondern Politiker Kad/ikles aus Acharnae, ein Freund und Anhanger des Gorgias, die Haupt- person im dritten Teil des nach diesem benannten Platonischen Dialogs. Es ist nicht unmdglich, daB Plato in ihm mit durch- sichtiger Namensanderung den Charikles, den Genossen des Kritias, in der Oligarchie der sog. dreiBig Tyrannen, gezeich- 91 net hat. Trotz der ihm geliehenen individuellen Ziige des vor- nehmen, freimiitigen, héflichen und aufgeklarten Mannes hat Plato in ihm doch geradezu den Typus des Herrenmenschen gezeichnet. Die landlaufigen sittlichen Anschauungen und voll- ends die hdheren sittlichen Grundsatze eines Sokrates be- lachelt und verachtet er als Sklavenmoral und preist unter Be- rufung auf ein Wort Pindars mit fanatischer Begeisterung das Naturrecht des Starken, dessen einziger Grundsatz der ,Wille zur Macht‘ (zieovetia), dessen einzige Tugend skrupellose Energie (avdoeia), dessen einziges Ziel Herrschaft und Aus- leben seiner Eigenart ist und dem auf seiner stolzen Hohe die moralischen Knechtsseelen als Schwachlinge(&vaydgor), Dumm- képfe oder Heuchler erscheinen (fr. 1—2). Diese Konsequenzen aus seinem Begriff der Rhetorik als einer auf die Beherrschung der Menschen gerichteten Kunst hatte Gorgias nicht gezogen; dagegen tat dies ein anderer So- phist 7hrasymachos aus Chalkedon, der die Ansichten eines Kallikles und Menon auch theoretisch vertrat. Auch er lebte langere Zeit in Athen, wo Aristophanes 427 in seinen ,Schmaus- briidern‘ von ihm Notiz nimmt. Spater hielt er in Larisa in Thessalien eine Rede, worin er fiir die Selbsténdigkeit dieser Stadt gegeniiber den Annektierungsgeliisten des Archelaos ein- trat (fr. 1). Wahrscheinlich war er zur Zeit des Dekeleischen Krieges nochmals in Athen; denn die damaligen Verhaltnisse mit ihrem Kampf um die zdroio¢ zoduteia bilden den Hinter- grund einer z. T. erhaltenen symbuleutischen Musterrede (fr. 2). Die Religion verwarf er, da er eine gerechte Weltregierung vermiBte (fr. 3), und ebenso jede sittliche Norm. Macht man auch von der Karikatur des Mannes in Platos ,Staat‘ einige Ab- striche, so bleibt doch ein vergréberter Kallikles: statt des ur- banen Staatsmanns sehen wir einen von GréBenwahn toll ge- 92 wordenen Plebejer, der dazu ein leidenschaftlicher Streithahn war und, wie wir von anderer Seite héren, dem Namen eines ,groben Kampfers‘, den er trug, alle Ehre machte. Seine Lehre deckt sich in ethischer Hinsicht mit der des Kallikles: die wirk- liche Gerechtigkeit ist der Vorteil des Starkeren (fr. 4), Un- rechttun ist ,,verstandige Klugheit“ (edfovdia) und die land- laufige Vorstellung von Gerechtigkeit eine ,,gutmiitige Dumm- heit“ (xdvv yevvaia ety Fea). So haben wir denn hier eine vollige ,Umwertung aller Werte‘, und auch wenn Plato uns nicht sagen wiirde, daB diese Lebensanschauung damals von Tausenden geteilt wurde und diese Umkehrung des Begriffs der Gerechtigkeit eine ,,abge- droschene Redensart“ war, so wiirde uns das die gleichzeitige Geschichtschreibung und Dichtung beweisen. Nicht nur in den Kampfen der politischen Parteien innerhalb einzelner Stadte (Thuk. III. 82), sondern auch im Verhalten ganzer Staaten zueinander, wie in dem grausamen Verfahren Athens gegen Melos (Thuk. V. 85ff.) fanden diese Grundsatze riick- sichtslose Anwendung. Auch die Dichtung hat den Typus des gewalttatigen, ,jenseits von Gut und Bése‘ stehenden Herren- menschen in verschiedenen Formen festgehalten: in ernstem Kampf und auf den Hohen des Lebens stellt ihn der Eteokles in den ,Phoenissen‘ des Euripides dar, als den kleinen frechen GernegroB des Alltags fiihrt ihn Aristophanes in dem Phei- dippides seiner ,Wolken‘ vor, und das Satyrspiel beschwor so- gar den homerischen Kyklopen herauf, um diese Lebensauf- fassung als Kannibalenmoral zu persiflieren. Von den leiten- den Staatsmannern am Ausgang des fiinften Jahrhunderts aber hat trotz Alkibiades und Lysander vielleicht keiner mit so klarem BewuBtsein die Lehre vom Recht des Starkeren im Le- ben zu verwirklichen gesucht wie der Mann, in dem politischer 93 Ehrgeiz und sophistische Bildung sich zu einem machtigen Bund zusammenschlossen: Kritias. Unter die Sophisten rechnet den Kritias (c. 455—403) Phi- lostratos, obwohl er sicherlich niemals als Lehrer auftrat, son- dern, wie Kallikles, die sophistische Bildung nur‘als Mittel zu politischer Macht betrachtete. Treffender bezeichnet ihn daher die antike Uberlieferung als ,,den Laien unter den Philosophen und den Philosophen unter den Laien“. Mit Plato verwandt, der ihm zeitlebens seine Achtung bewahrte, wahrend ihn Xenophon und Lysias als den verworfensten Menschen dar- stellen, wuchs Kritias in einer der vornehmsten Familien Athens auf, fiir die Kunst und Wissenschaft zur Lebensluft gehérte. In seiner Jugend genoB er ohne Zweifel auBer dem Unterricht des Sokrates auch solchen von Sophisten, vielleicht von Pro- dikos und Gorgias. Als Politiker wird er zuerst im Zusammen- hang mit der oligarchischen Revolution des Jahres 411 ge- nannt, an der sein Vater Kallaschros beteiligt war. Deutlich tritt seine eigene politische Gesinnung erst bei der von ihm bewirkten Zuriickberufung des Alkibiades (fr. 3. 4) hervor. In dessen zweiten Sturz (407) scheint er verwickelt worden zu sein: er wurde verbannt und begab sich nach Thessalien. Dies ist der Wendepunkt in seinem Leben. Denn dort, wo damals auch Georgias, Thrasymachos und Menon weilten, so daB So- krates bei Plato scherzt, es sei in Athen eine ,,Bildungsdiirre“ ausgebrochen, wurde der Verbannte in der eigenen begreif-- lichen Verbitterung und unter dem EinfluB der in der Umge- bung der Aleuaden gelaufigen Lehre vom Recht des Starkeren aus dem vornehmen Aristokraten zum fanatischen Volksfeind, der auch die Verbindung mit dem Landesfeind nicht scheute, um den ,,verfluchten Demos“ zu stiirzen. Unter der Agide Ly- sanders kehrte Kritias nach der Katastrophe Athens in seine 04 Vaterstadt zuriick, um hier mit Charikles und bald im Kampf gegen die gemaBigtere Partei des Theramenes die bekannte Schreckensherrschaft der sog. dreiBig Tyrannen zu inszenieren, die aller Aufklarung zum Trotz sogar ein Verbot des Unter- richts in der Rhetorik erlie8 und der in acht Monaten 1500 Birger zum Opfer fielen. Beim Sturz der Oligarchie durch Thrasybul siihnte Kritias seine Vergehen, indem er im Kampf fiir die Sache starb, fiir die er gelebt hatte. Ein hervorragendes musikalisches und dichterisches Talent, versuchte sich Kritias als Schriftsteller in verschiedenen Gat- tungen der Poesie und verfaBte eine dramatische Tetralogie, die spater unter dem Namen des Euripides lief. Sein ausge- pragter Rationalismus auBert sich auch hier in einer starken Neigung zur Reflexion. Seine Verdienste um die griechische Prosa hat im Zeitalter der sog. zweiten Sophistik Herodes At- ticus gewiirdigt. Wie er sich nicht scheut, sich gelegentlich iiber die traditionelle Form der Poesie mit souveraner Willkiir hinwegzusetzen (fr. 3), so schuf er in der Prosa neue Formen der Literatur: z. B. mit seinen ,Aphorismen‘ und ,Homilien‘, welch letztere vielleicht eine Mittelstellung zwischen dem slroischen Dialog‘ des Hippias und den Platonischen Ge- sprachen einnahmen. Seine Beschreibung des Melancholikers (fr. 24) kiindigt Beobachtungen an, wie sie spaiter Theophrast in seinen ,Charakteren‘ verwertet hat. Von seinen literarischen Studien legt die verachtliche AuSerung iiber den gefeierten Dichter Archilochos (fr. 34) und das Gedicht auf Anakreon (fr. 1) Zeugnis ab. Mit seiner Untersuchung und Vergleichung verschiedener Staatsverfassungen endlich, deren Ergebnisse er teils in poetische teils in prosaische Form faBte und wobei seine Aufmerksamkeit sich ebenso auf die kleinen, aber charak- teristischen Eigentiimlichkeiten des taglichen Lebens wie auf 95 die Erscheinungen der groBen Politik richtete (fr. 5—7; 26 —33), wurde er ein Verlaufer des Aristoteles. In seiner Weltanschauung zeigt sich Kritias als Eklektiker. Er ist nicht Skeptiker wie Protagoras und Gorgias, sondern ahnlich wie Demokrit betrachtet er den Verstand (yyan) als Regulativ der sinnlichen Wahrnehmung und oberste Instanz der Erkenntnis, wobei freilich dessen systematische Schulung im Denken Voraussetzung ist (fr. 21—23). Sein physikalisches Weltbild ist durchaus mechanistisch (fr. 10. 11. 16, 35). Beim Menschen ist ihm die physiologische Grundlage seines Wesens von groBer Wichtigkeit (fr. 27), aber trotzdem spricht er der Erziehung eine noch entscheidendere Bedeutung zu (fr. 20; vgl. Demokr. fr. 96). Selbst eine stark sinnliche Natur, so daB er sich deshalb einen derben Tadel des Sokrates zuzog (fr. 25; Xen. Mem. I. 2, 29f.), ist er doch der Meinung, daB die sinn- liche Lust den Menschen nicht beherrschen diirfe, und bewun- dert wie den spartanischen Staat im ganzen so besonders seine auf Einfachheit und MaBigkeit gerichteten Sitten (fr. 5). Ein be- stimmtes ethisches Ziel stellt er nicht auf, es ware denn, seinem ehrgeizigen Charakter entsprechend, der Ruhm (fr. 8). Das maBgebende Prinzip im Leben ist der Egoismus, sogar in der Freundschaft (fr. 17). Der ideale Menschentypus ist ihm der »rechtschaffene“, d. h. konservativ aristokratische Charakter, der sein Gesetz in sich selbst tragt (fr. 14). Im vollsten Einklang mit seiner rationalistischen Weltan- schauung steht seine Auffassung der menschlichen Kultur. Wie Polos fiihrt Kritias dieselbe auf technische Erfindungen zuriick (fr. 2), die, wenn auch nicht an einzelne Personen, doch an bestimmte Volker oder Stadte gekniipft werden. Diese zwar ungeschichtliche, an sich aber harmlose Erfindungstheorie iibertrug nun Kritias auf das rechtliche, sittliche und religidse 96 Gebiet, wo sie geradezu grundstiirzend wirken muBte. Um das Naturrecht der Starke zu beschranken, stellte die Majoritat der Schwachen die Gesetze auf, freilich ohne durchgreifenden Erfolg. Dieser trat erst ein, als ein schlauer Kopf zur Bandigung der Masse die Religion ,,erfand“ (fr. 16). Die Theorien des De- mokrit und Prodikos iiber die psychologische Entstehung der Religion aus Angst und Dankbarkeit sind hier in Verbindung gebracht mit den Lehren des Hippias und Kallikles von der konventionellen Sitte in der Weise, daB die Religion als Er- findung eines Einzelnen unter Beniitzung der Instinkte der Masse und als Hauptmittel zur Befestigung der Herrschaft dieses Einzelnen, des Tyrannos, erscheint, der seinerseits wie iiber jede ,Sitte‘ so auch iiber die Religion erhaben ist. Dieser radi- kalsten religionsphilosophischen Theorie huldigte vielleicht auch Diagoras von Melos und nachmals der Kyrenaiker Theo- doros, die bei Sextus Empiricus neben Kritias als ,Atheisten‘ erscheinen. In der Renaissance hat Macchiavelli diese Anschau- ung zu neuem Leben erweckt, und auch in der franzdsischen, englischen und deutschen Literatur der Aufklarungszeit wurde sie viel erértert: Manner wie Jerusalem, Nicolai, Reimarus be- kannten sich zu ihr, wahrend sie z. B. Condorcet bekampfte. Der Rationalismus und ethisch-religidse Radikalismus des sophistischen Zeitalters tritt uns in keiner Persénlichkeit in solcher Reinheit und Folgerichtigkeit entgegen wie in Kritias, der noch dazu alles getan hat, um seine Ideen in Wirklichkeit umzusetzen. Mit vollem Recht galt er der Nachwelt nicht als der Typus des Aristokraten sondern des Tyrannen, der aber — und dies ist das Eigenartige an ihm — von dem natiirlichen Recht des Gewaltherrschers vollkommen iiberzeugt ist und dieses theoretisch beweisen zu kénnen glaubt: eine Pers6nlich- keit wie die Tyrannen der italienischen Renaissance, der riick- 7 Vorsokratiker O7 sichtsloseste und konsequenteste Vertreter des aufgeklarten Des- potismus. Man wiirde indessen fehlgehen, wenn man diese Lebensauf- fassung der Sophistik im ganzen zur Last legen wiirde: sie stellt nur ihren 4uBersten linken Fliigel dar. Es gab auch So- phisten, die der gew6hnlichen biirgerlichen Moral viel naher standen. So erwahnt sogar Plato einmal einen sonst ganz un- bekannten Mikkos, den er einen ,,Freund und Bewunderer des Sokrates, keinen tibeln Mann und einen tiichtigen Sophisten“ nennt (Lys. 204 A). Fiir uns ist der wichtigste Vertreter dieser sozusagen rechts stehenden Sophistik Antiphon von Athen, dessen Wirksamkeit etwa in das letzte Jahrzehnt des fiinften Jahrhunderts fallen wird. Er soll Traumdeuter gewesen sein und sogar ein Buch iiber diese Kunst verfaBt haben, mu8 dann aber diesen Beruf, dessen Fragwiirdigkeit ihm klar geworden zu sein scheint, mit dem des Sophisten vertauscht haben. Bei Xenophon (Mem.I.6) kommt er schlecht weg; er kann aber nicht so unbedeutend gewesen sein, da er schon im Altertum Gegenstand monographischer Behandlung wurde und Philo- stratos (Vit. Soph. I. 15 S. 212) seine ,,glanzenden philosophi- schen Sentenzen“ riihmt. Unter seinen Schriften erdffnet die ,Kunst der Tréstung‘ eine im spateren Altertum (u. a. auch von Plutarch) viel gepflegte Gattung der Literatur. Ob daraus, wie man vermutet hat, einige der erhaltenen Bruchstiicke (fr. 10—16) stammen, ist fraglich. Von seinen philosophischen Haupt- schriften trug die eine den Titel , Wahrheit‘, der offenbar an die entsprechenden Schriften des Parmenides und Protagoras erinnern sollte, die andere handelte ,Uber Gemeinsinn‘, wahrend eine dritte iiber ,Politik‘ zwischen dem Sophisten und dem Red- ner Antiphon von Rhamnus strittig ist. In den Bruchstiicken der erstgenannten Schrift sehen wir Antiphon in Beziehung auf 08 die Erkenntnistheorie (fr. 1—3) und den Gottesbegriff (fr. 4), aus dem er die Vorsehung ausschlo8, den Eleaten Parme- nides und Xenophanes folgen, wahrend seine physikalischen Theorien (fr. 5—8) den Einflu8 des Empedokles (fr. 31) verraten. Antiphon zeigt sich hier somit als unselbstiéndigen Eklektiker. Auch sein Versuch, unter den drei Hauptpro- blemen der damaligen Mathematik, der Verdoppelung des Wiirfels, der Trisektion des Winkels und der Quadratur des Kreises, das letztere durch fortschreitende Verdopplung der Seiten eines gleichseitigen Polygons zu lésen, erscheint durch- aus naiv. Eigenartiger war offenbar seine Schrift ,Uber Gemeinsinn‘, ein damals viel behandeltes Thema, auf das auch Demokrit (fr. 138.139), Hippias (Xen. Mem. IV. 4, 16) und Thrasymachos (fr. 2) zu sprechen kamen. Wenn darin von ,,SchattenfiiBlern“, »Langk6épfen* und ,,Troglodyten“ die Rede war, so versuchte Antiphon wohl an diesen fabelhaften und, wie man annahm, dem unschuldigen Naturzustand noch nahestehenden V6lkern seine politischen Ideale in romantischer Form als durchfiihrbar zu erweisen, ausgehend von dem Gegensatz von Natur (pivots) und Kultur (vduos, téyvn). Ubrigens betrachtete er das Leben des Menschen seiner vermeintlichen Gottahnlichkeit zum Trotz ziemlich pessimistisch, wofiir seine Erérterung des Familien- lebens, die mit den Ansichten des Demokrit (fr. 130—133) und Euripides (Alk. 238 ff. ; 882 ff.) iibereinstimmt, ein Beispiel bie- tet (fr. 9—12). Obwohl er einmal die orphisch-pythagoreische Seelenwanderungslehre streift (fr. 10), geht er doch in seinen ethischen Grundsatzen davon aus, daB8 man nur Einmal lebe und es daher um so wichtiger sei, das Leben richtig auszuniitzen, es weder durch Vielgeschaftigkeit noch durch Verzicht auf die Giiter, die es bietet — ,,leben wie ein Stein“ sagte dafiir ein 7 99 griechisches Sprichwort (Plato, Gorg. 494 A) —, sich zu ver- derben (fr. 13—16). Den Weg zur richtigen Lebensfihrung weist die Erziehung zur Bildung, auf die Antiphon wie alle Sophisten den gr6Bten Wert legt (fr. 17; vgl. Protag. fr. 8). Hier redet nun aber Antiphon nicht der Selbstherrlichkeit das Wort sondern dem Gehorsam (fr. 18), weist auf die Wichtigkeit des Umgangs fiir die Charakterbildung hin (fr. 19—21) und zeigt, daB, wer unrecht hat, in letzter Linienur sich selbstschadet (fr.22). Doch kann von wirklicher Tugend erst die Rede sein, wenn sie sich in der Versuchung bewdhrt hat, nicht, wenn eine solche gar nie an sie herangetreten ist (fr. 23). Trotz ihres eudaémoni- stischen Charakters betont diese Moral doch immer, daB ein gliickliches Leben nur bei gegenseitiger Riicksicht der Menschen auf einander mOéglich ist. Wie Antiphon seine politischen Theorien im einzelnen durch- gefiihrt hat, wissen wir nicht sicher. Es ist aber wahrscheinlich, daB er, wie Euripides, die Hauptstiitze des Staates in einem ge- sunden Mittelstand gesehen und den Ackerbau als wirtschaft- liche Grundlage eines gemaBigt demokratischen Gemeinwesens empfohlen hat. Vielleicht gehéren auch ihm die Bruchstiicke des sog. Anonymus Jamblichian, die in den ,Protreptikos‘ dieses Neuplatonikers und Pythagorasbiographen (um 330 n. Chr.) ver- woben sind und jedenfalls aus einer attischen Schrift des 5. Jahr- hunderts v. Chr. stammen. Unter den darin vorgetragenen Ge- danken, die teilweise auch an Protagoras, Gorgias und Demo- krit erinnern, verdient vor allem Beachtung die gegen die Lehre vom Recht des Starkeren gerichtete Ausfiihrung, die zu zeigen versucht, daB der feste und zielbewuBte ZusammenschluB loy- aler Birger das Aufkommen gewal tatiger Ubermenschen un- mOglich mache (fr. 5), sowie der Pre s einer geordneten Regie- rung und die mit Antiphon (fr 18) ganz iibereinstimmende 100 Verurteilung anarchischer Zustinde, die nur der Tyrannis den Weg bahnen (fr. 6). Von der Art der zahlreichen kleinen Geister, die sich an die groBen Meister anschlossen und die Plato besonders im ,Euthy- demos‘ verspottet, gibt uns einen Begriff die kleine Schrift, die, um 400 v.Chr. in dorischem Dialekt verfaBt, wahrscheinlich erst in der Zeit der sog. zweiten Sophistik den Titel ,Dialexeis‘ erhalten hat und die einige popularwissenschaftliche Vortrage eines unbekannten Sophisten wiedergibt. Sie ist in ihren wich- tigsten Abschnitten eine oberflachliche und schematische Aus- fiihrung der Relativitatslehre des Protagoras (fr. 2), nebst ganz schwachlichen, ebenso schablonenhaften Versuchen, diese zu widerlegen. In dem interessantesten Teil (fr. 2), wo der Verfasser mit Benutzung von Herodot die Sitten der verschiedenen V6I- ker vergleicht und ihre widerspruchsvolle Beurteilung erweist, hat er zugleich die Lehre des Hippias von der nur bedingten Giiltigkeit der Sitte (yduoc) beriicksichtigt, wobei freilich der Gegensatz dazu, das Naturgesetz und Naturrecht, ganz im Hin- tergrund bleibt. Endlich hat uns ein neuer Papyrusfund in Agypten einen iiberraschenden Einblick in die um die Wende des 5. zum 4. Jahrhundert v. Chr. gepflogenen Erérterungen iiber das Wesen und insbesondere iiber die angeblichen moralischen Wirkungen der Musik beschert. Der Verfasser des Bruchstiicks ist unbe- kannt. Man hat auf Hippias geraten und als Gegner des Red- ners sich Leute gedacht wie den Musiker Damon, den Freund des Perikles, der in seiner Person den Musiker und den So- phisten vereinigte (Plut. Per. 4). Es hat aber eher den Anschein, daB hier ein Musiker von Beruf sich gegen musikalische und doktrinare Dilettanten wendet. Wie dem sein mag, jedenfalls ist auch dieses Bruchstiick ein 101 Beweis fiir das rege geistige Leben, das die Sophistik auf allen Gebieten weckte. Das Bild davon ware aber unvollstindig, wenn wir zum Schlu8 nicht auch noch einer Theorie gedenken wiir- den, die das sophistische Zeitalter, wie so manche andere Ziige, mit der Aufklarungsperiode der Neuzeit gemein hat: der Phy- siognomik, die der Thraker Zopyros, ein Sklave des Perikles, aber als solcher Erzieher des Alkibiades, in Athen aufbrachte. Er glaubte im Angesicht des Sokrates die Neigung zu starken Leidenschaften zu erkennen, was ihm dieser zum Erstaunen seiner Schiiler als richtig bestatigte, allerdings mit dem Hinzu- fiigen, daB er ihrer durch die Vernunft Herr geworden sei. — Es ist eine Entwicklung von fast tropischer Raschheit und Uppigkeit, die das griechische Denken in kaum zwei Jahrhun- derten vom Auftreten des Thales bis zu dem des Sokrates zuriickgelegt hat. In dieser Zeit wurde nicht nur die Philoso- phie als Prinzipienwissenschaft in einer Reihe eigenartiger und geistvoller Systeme ausgebildet, sondern auch der Grund zu den wichtigsten Einzelwissenschaften gelegt. Die Mystik wurde aus der Enge des Konventikelwesens auf die freie Héhe des philosophischen Gedankens gehoben und hat erst durch ihre Verbindung mit der Philosophie ihren wahren Adel erhalten. Die Sophistik hat dann die Aufmerksamkeit auf die Fragen ge- lenkt, die das Wesen des Menschen, des Einzelnen wie der Ge- sellschaft, betreffen. Schon von diesen ,,Planklern einer neuen Philosophie“ gilt, was Cicero (Tusc. V. 4, 10) von Sokrates sagt: ,,er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde her- abgerufen, in den Stadten angesiedelt, in die Hauser eingefiihrt und gendtigt, iiber Leben und Sitten der Menschen, iiber Gutes und Béses nachzudenken.“ Am Ende des 5. Jahrhunderts hat die griechische Philosophie die Bahn, die vom Mythus zum Logos fiihrt, schon vollsténdig zuriickgelegt. Der gebildete 102 Grieche hat sich der Autoritét der Religion entwunden und mit seinem Denken auf eigene FiiBe gestellit. Dabei konnte es ohne Gefahren und Ausschreitungen nicht abgehen. Viel neue Erkenntnisse von bleibendem W ert hatte man gewonnen. Vieles alte und briichig Gewordene war in Triimmer gelegt. Und ins- besondere auf dem Gebiete der Ethik hatten die destruktiven Tendenzen, die einigen Richtungen der Sophistik eigen wa- ren, geradezu alles in Frage gestellt. Hier galt es einen Neubau aufzufiihren, zu dem aber mancher Stein verwendet werden konnte, den die Sophistik behauen hatte. Der Mensch muBte nicht nur als Einzelner, auch nicht nur als Biirger eines be- stimmten und beschrankten Gemeinwesens, sondern als Gat- tung erfaBt und ihm aus der Tiefe seines eigenen Wesens neue Aufgaben, neue Ziele gezeigt werden. Hierin erkannte in geni- aler Einseitigkeit und unter absichtlicher vélliger Abwendung von der 4uBeren Natur der Mann seinen Beruf, der infolge der Treue, womit er ihm bis zum Martyrertod oblag, dem ganzen spateren Altertum als das Muster des Philosophen gegolten hat: Sokrates. 103 SGCSG8 ROSSER Reseesee ease e BASES Be BESaUSRaHSa : DIE VORSOKRATIKER i i Pe eh Wet oF, v i . ANAXIMANDER Ly Ursprung der Dinge ist das Grenzenlose. Woraus sie entstehen, darin vergehen sie auch mit Notwendigkeit. Denn sie leisten einander BuBe und Vergeltung fiir ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit. (1) ANAXIMENES as sich von der Materie zusammenzieht und verdichtet, W ist das Kalte, das Diinne und Schlaffe dagegen das Warme. (1) ie unsere Seele, die aus Luft besteht, uns zusammenhialt, so umschlieBt auch Lufthauch das ganze Weltall. (2) ie Luft ist beinahe etwas Unkorperliches, und weil wir durch Emanation daraus entstehen, muBf sie grenzenlos und reich sein, denn sie geht niemals aus,* (3) ALKMAON o spricht Alkm&on von Kroton, des Peirithoos Sohn, zu Leon, Bathyllos und Brontinos: Uber das Unsichtbare und iiber das Vergangliche haben nur die Gotter Klarheit, die Men- schen kénnen bloB Schliisse machen. (1) er Mensch hat vor den iibrigen Lebewesen den Vorzug, da8 er allein denkt; die andern kénnen wohl wahrneh- men, aber nicht denken. (2) ie Menschen kommen deswegen um, weil sie nicht ver- mdégen, den Anfang an das Ende anzukniipfen. (3) ie Gleichstellung der Krafte, des Feuchten und Trockenen, des Kalten und Warmen, des Bitteren und SiiBen usw. halt die Gesundheit zusammen; aber die Alleinherrschaft einer von ihnen bewirkt Krankheit; denn die Alleinherrschaft je eines der Gegensatze ist schadlich, Krankheiten, die entstehen, sind 107 die Folge eines Uberschusses von Hitze oder Kalte, haben ihre Veranlassung in zu reichlicher oder zu karglicher Nahrungs- aufnahme und ihren Sitz im Blut, Mark oder Gehirn. Doch er- kranken diese Organe zuweilen auch aus auBerlichen Ursachen, z. B. infolge der Beschaffenheit des Wassers oder Landes, in- folge von Anstrengung oder Not und 4hnlichen Anlassen. Die Gesundheit dagegen besteht in der gleichmaBigen Mischung der Qualitaten. (4) s ist leichter, sich vor einem Feinde zu hiten als vor einem Freunde. (5) XENOPHANES ein ist der Boden und rein jetzt aller Hande und Becher Und den gewundenen Kranz setzt uns ein Jiingling aufs Haupt; Herrlich duftende Myrrhe kredenzt in der Schale ein andrer, Und zum frohen Gelag steht uns der Mischkrug bereit. Wein ist in Fille zur Hand,? der niemals droht zu versiegen, Der uns mit duftiger Blum’ locket im t6nernen Krug. Heiligen Wohlgeruch 1a8t in der Mitte der Weihrauch ent- str6men, Kiihlendes Wasser ist da, siiBes aus lauterem Quell. WeiBbrot gibt es und Kase, dazu dickfliissigen Honig, Unter der Speisen Gewicht beugt sich der stattliche Tisch. Ganz mit Blumen bedeckt steht der Altar in der Mitte Und vom Reigenget6n hallet in Festlust das Haus. Gott erklinge zuerst der Gesang verstandiger Manner, Ihn erhebe Gebet, Worte andachtig und rein. Hat man die Spende gebracht und gebetet um Kraft und Ver- mogen Recht zu handeln (denn dies liegt zu erfleh’n uns zundchst), 108 Dann ist’s Ubermut nicht, so viel dem Becher zu huld’gen, DaB8, wer vom Alter nicht schwach, ungefiihrt komme nach Haus. Lob gebiihret dem Mann, der wacker noch zeigt nach dem Trunke, DaB er in Weise und Wort freudig der Tugend gedenkt. Aber Titanen, Giganten, Kentauren, die wild sich bekampfen, Preisen wir nimmer im Lied; Fabeln vergangener Zeit; Auch nicht der Biirger tobenden Zwist, der nie bringet Segen. Doch in der Gottesfurcht stets fest zu verharren ist gut. (1) er einen Sieg sich erringt im Lauf mit hurtigen Fii8en Oder im Fiinfkampf dort, wo am Pisdischen Quell Liegt Zeus’ heil’ger Bezirk, in Olympia, oder im Ringkampf Oder im Faustkampf, der schmerzende Wunden oft schlagt, Oder im Allkampf gar dem gefahrlichen, wie sie ihn nennen: Hoher steht er an Ruhm dann in den Augen des Volks. Auf dem Ehrensitz thront er beim Festspiel, von allen gesehen, Und es ladt ihn die Stadt gastlich zum eigenen Tisch. Ja sie verleiht ihm ein Ehrengeschenk, das ein Kleinod ihm sein mag. _ Doch wer solches gewinnt, selbst mit der Rosse Gespann, Dennoch verdient er es so nicht wie ich. Denn unsere Weisheit, Edler als Starke fiirwahr ist sie von Mann und von RoB. Nein, es wohnet kein Sinn in solchem Brauche: mit Unrecht Uber der Weisheit Gut stellt man die leibliche Kraft. Denn sei unter dem Volk ein Biirger auch tiichtig im Faust- kampf, Mag er den Fiinfkampf gleich oder das Ringen verstehn Oder den Schnell-Lauf, der als aller Leistungen Krone Gilt, wenn im Wettkampf sich mannliche Starke erprobt: Darum ist niemals doch ein Staat in beBrer Verfassung; 109 Und der GenuB ist gering, der der Gemeinde erwachst, Wenn an Pisas Gestade ein Biirger sieget im Wettstreit. Daraus flieBet Gewinn nie in die Hauser der Stadt. (2) un beginn’ ich ein anderes Lied und weise den Weg euch. [Was von Pythagoras man sagt, von dem Weisen, ver- nehmt:}® Als er vorbeigehend sah, wie ein Hiindchen wurde miBhandelt, Sprach er, von Mitleid erfaBt, so ein begiitigend Wort: »LaB, und schlag’ ihn nicht mehr! Denn eines befreundeten Mannes Seele erkannt’ ich am Klang, als ich die Stimme vernahm.“ (3) 2) ona Pracht von den Lydern erlernten Kolophons Biir- ger, Eh der verhaBten Gewalt sie noch den Nacken gebeugt. Wenn sie, tausend zugleich und mehr wohl, strémten zum Markte, Sah man kein ander Gewand au8er mit Purpur durch- wirkt. Eitel stolzierten einher sie im Schmuck der wallenden Locken Und vom feinsten Parfiim duftete triefend das Haar. (4) iebenundsechzig Jahre schon sind bis heute entschwunden, Seit es mein sinnend Gemiit treibt durchs hellenische Land. Damals waren es fiinfundzwanzig, seit ich geboren, Wenn ich anders noch dies richtig zu rechnen vermag. (5) enn man zur Winterszeit auf weichem Polster am Feuer Ruht vom Mahle gesiattigt, voll siiBen Weines den Becher, Erbsen knuspernd, dann ziemt sich wohl Unterhaltung wie diese: 110 yoprich, wer bist du, mein Freund, woher in der Welt, wie viel Jahre Zahlst du, wie alt warst du, als einst der Meder ins Land fiel?* (6) edermann hat ja von Anfang her an Homer sich gebildet. (7) Iles haben Homer und Hesiod auf die Gétter geschoben, Was bei den Menschen wird als Schimpf und Schande betrachtet: Diebstahl und Ehebruch auch und gegenseitige Tauschung. (8) H aben sie doch von den Gdttern berichtet Frevel in Menge: Diebstahl und Ehebruch auch und gegenseitige Tau- schung. (9) ber die Sterblichen glauben, die Gdtter wiirden geboren Und sie hatten Gestalt und Tracht und Sprache gleich ihnen. (10) chwarz, stumpfnasig: sostellt die Gétter sich vor der Athiope; Aber blaudugig und blond malt sich der Thraker die sei- nen. (11) H*™ die Rinder und Rosse und Lowen Hande wie Men- schen, K6nnten sie malen wie diese und Werke der Kunst sich er- schaffen, Alsdann malten die Rosse gleich Rossen, gleich Rindern die Rinder Auch die Bilder der Gétter und je nach dem eigenen Ausseh’n Widen die K6rperform sie ihrer Gétter gestalten. (12) ING gleich anfangs zeigten die Gdtter den Sterblichen alles, Sondern sie finden das Bessere suchend im Laufe der Zeiten. (13) 111 enn Gott nicht den gelblichen Honig uns hatte erschaffen, Dann erschiene der Feige Geschmack viel siifer den Menschen. (14) iemals lebte ein Mensch noch wird ein solcher je leben, Der von den Gdttern und allem, wovon ich rede, Ge- wisses WiiBte; und sprache sogar das Vollkommenste jemand dariiber, Wei8 er es selbst doch nicht; nur Raten ist alles und Meinung. (15) Ly ist mein Glaube; er soll nur als Wahrscheinlichkeit gelten. (16) IN Gott ist unter den G6ttern und unter den Menschen der groBte, Nicht an Gestalt vergleichbar den Sterblichen noch an Ge- danken. (17) anz ist Auge, ganz Ohr und ganz Gedanke sein Wesen. (18) mmer am gleichen Ort verharrt er ohne Bewegung Und es kommt ihm nicht zu, bald dahin bald dorthin zu gehen. (19) a, hima schwingt er das All mit seines Geistes Vermiégen. (20) ier uns zu FiiBen erblickt man das obere Ende der Erde, Wie an die Luft es grenzt; im Unendlichen wurzelt das unt’re. (21) us der Erde stammt alles und alles wird schlieBlich zu Erde. (22) 7 i was wird und wachst, aus Erde besteht es und Wasser. (23) Ly” aus Erde und Wasser sind wir auch alle geworden. (24) 112 uelle des Wassers ist die See und Quelle des Windes, O' Nie ja erhiib’ sich der Hauch des wehenden Winds in den Wolken Ohne das Meer, das grofe; noch waren strémende Fliisse Noch der Regen des Himmels. Die Wolken, Winde und Stréme, Kindersind siedes groBen Meersdesmacht’genErzeugers. (25) r ‘Yber die Erde schwingt sich empor die erwarmende Sonne. (26) as man die Iris nennt, in Wirklichkeit ist’s eine Wolke; Blaulich, rdtlich und gelblich-griin erscheint sie dem Auge. (27) HERAKLIT De Vernunft, die doch ewig ist, ist den Menschen unfaB- lich sowohl ehe sie davon h6ren, als auch nachdem sie einmal davon gehdért haben. Denn obgleich alles dieser Ver- nunft gem48 verlauft, scheinen sie doch nichts davon zu ahnen, wenn sie solche Worte und Werke angreifen wie die sind, die ich er6rtere, indem ich ein jedes nach seiner Natur zerlege und auseinandersetze, wie es sich damit verhalt. Die andern Men- schen aber sind sich so wenig bewuBt, was sie wachend tun, als sie sich erinnern, was sie im Schlafe tun. (1) S* fassen es nicht, auch wenn sie davon geh6rt haben, und so sind sie wie Taube. Von ihnen gilt der Spruch: ,Sie sind da und sind doch nicht da‘. (2) arum mu8 man dem Allgemeinen folgen. Aber obwohl die Vernunft allgemein ist, leben die meisten Menschen, wie wenn sie eine besondere Denkkraft besaBen. (3) TS u der das All regierenden Vernunft, mit der sie es fortwah- rend zu tun haben, setzen sie sich in Widerspruch und das, worauf sie tagtaglich stoBen, erscheint ihnen fremd. (4) 8 Vorsokratiker 1 13 enn die meisten Menschen denken nicht nach iiber solche Dinge, auf die sie (alltaglich) stoBen, noch verstehen sie was sie erfahren haben; ihnen selber freilich kommt es so vor. (5) Sy sind weder fahig zu héren noch zu reden. (6) an muB auch dessen gedenken, der sich nicht erinnert, wo- hin der Weg geht. (7) uch die Schlafenden verrichten Arbeit und wirken mit an dem, was im Weltall geschieht. (8) mM” darf nicht handeln und reden wie im Schlafe. (9) an darf nicht handeln und reden wie Kinder von Eltern, deren Grundsatz einfach ist: ,wie wir’s iiberkommen haben‘. (10) tir die Wachenden gibt es nur eine einzige und gemein- same Welt; im Schlafe aber wendet sich jeder seiner be- sonderen Welt zu. (11) in dummer Mensch pflegt bei jeder AuBerung der Stimme der Vernunft paff zu sein. (12) N“ auf meine, sondern auf die Stimme der Vernunft hé- rend zuzugestehen, daB alles Eins ist, ist weise. (13) Ba Seele ist Vernunft eigen, die sich selbst mehrt. (14) enken ist die vorziiglichste Eigenschaft, und Weisheit ist es, die Wahrheit zu sagen und der Natur gem46 zu han- deln, indem man auf sie hinhorcht. (15) aaa ist eine allgemeine Fahigkeit. (16) Ile Menschen haben teil an der Fahigkeit, sich selbst zu erkennen und zu denken. (17) 114 [* erforschte mich selbst. (18, Nie verleiht nicht Verstand ; sonst hatte sie dem He- siod und Pythagoras solchen verliehen und ebenso dem Xenophanes und Hekatios.* (19) esiod ist der Lehrer der meisten Leute: er, so meinen sie, wisse am meisten, der doch das Wesen von Tag und Nacht nicht erkannte; denn beide sind eins.° (20) k* Tag ist gleich dem andern. (21) Po des Mnesarchos Sohn, ging von allen Menschen am meisten auf Kenntnisse aus und machte sich daraus seine eigene Weisheit zurecht: Vielwisserei und Spitzfindigkeit. (22) iS eae war der erste Astronom. (23) ie Menschen sind hinsichtlich der Erkenntnis des Sicht- baren in ahnlicher Tauschung befangen wie Homer, der doch weiser war als die Hellenen alle. Diesen tauschten namlich Knaben, welche Lause téteten, mit den Worten: ,,Was wir ge- sehen und gefangen haben, das lassen wir da; was wir aber nicht gesehen und nicht gefangen haben, das nehmen wir mit*.® (24) H™= verdient es, aus den Festspielen ausgeschlossen und gegeiBelt zu werden und Archilochos desgleichen. (25) |B ees was ist ihr Sinn und Verstand? Landfahrenden San- gern folgen sie und zum Lehrer nehmen sie den Pobel, ohne zu wissen, daB die meisten Menschen schlecht und nur wenige gut sind. (26) D* Rhetorik ist Anstifterin zu Kniffen. (27) oe 115 es Goldsucher graben viel Erde um und finden wenig. (28) s ist besser, seine Unwissenheit zu verbergen als sie Offent- lich auszustellen. (29) ie reinigen sich vergeblich, indem sie sich mit Blut beflecken, wie wenn jemand, der in den Schmutz getreten ist, sich mit Schmutz abwaschen wollte. Einen solchen Menschen wiirde man aber fiir verriickt halten, wenn man ihn das tun saéhe. Und zu diesen Gdtterbildern beten sie, wie wenn jemand mit Hau- sern schwatzte, ohne eine Ahnung vom Wesen der Gotter und Heroen zu haben. (30) chweine baden sich im Schmutz, Gefliigel in Staub und Asche. (31) trafe droht den Nachtschwarmern, Magiern, Bakchen, Ma- naden und Mysten. Denn die bei den Menschen gebrauch- lichen Mysterien werden auf unheilige Weise gefeiert. (32) i Pa es nicht Dionysos ware, dem man die Prozession veranstaltet und das Phalluslied singt, dann ware es eine ganz schamlose Handlung. Nun aber ist Hades und Dionysos, zu dessen Ehren sie schwarmen und Feste feiern, ein und das- selbe. (33) FE’ gibt zwei Gattungen von Opfern: diejenigen von ganz gereinigten Menschen, wie es selten einmal bei einem ein- zigen oder wenigen Menschen, die man an den Fingern ab- zahlen kann, der Fall sein mag, und die materiellen Opfer. (34) ie Sibylle, die aus begeistertem Munde ernste, schmuck- lose und rauhe Laute erténen 146t, dringt mit ihrer Stimme durch tausend Jahre, weil sie des Gottes voll ist. (35) aa Herr, dem das Orakel in Delphi eigen ist, spricht nichts aus und verbirgt nichts, sondern er macht Andeutungen. (36) 116 as man sehen, héren, erfahren kann, dem gebe ich den Vorzug. (37) A und Ohr sind fiir die Menschen schlechte Zeugen, wenn sie kein feines Seelenleben haben. (38) enn alles, was existiert, zu Rauch wiirde, so wiirde man es mit der Nase wahrnehmen. (39) a da ist eine Krankheit wie Fallsucht, und das Auge tauscht. (40) ig den wichtigsten Fragen wollen wir keine uniiberlegten Fol- gerungen ziehen. (41) D* Natur liebt es, sich zu verbergen. (42) ur Annahme ist auch das Annehmbarste, was jemand er- kennt und festhalt; aber die Liigenschmiede und ihre Zeugen wird Dike ergreifen. (43) MV ike nicht hofft, wird Unverhofftes nicht finden; denn es ist unaufspiirbar und unzugdanglich. (44) U ngiaube ist der Grund, weshalb das Gdttliche sich gr6B- tenteils der Erkenntnis entzieht. (45) o vieler Menschen Theorien ich schon vernahm, niemand dringt zu der Erkenntnis durch, daB die Weisheit von allem getrennt ist. (46) | Bice ist Weisheit: den Geist zu verstehen, der alles durch alles regiert. (47) ins, das allein Weisheit ist, will nicht und will doch auch wieder mit dem Namen Zeus benannt werden. (48) NS Rede muB8 sich stark machen durch das was allgemein gilt, wie ein Staat durch das Gesetz, ja noch viel starker. Denn alle menschlichen Gesetze ziehen ihre Nah- rung aus dem einen gdéttlichen. Dieses namlich herrscht soweit es will und geniigt fiir alles und hatalles in seiner Macht. (49) Ly OF 6 ye Weltordnung, dieselbe fiir alles, hat weder ein Gott noch ein Mensch erschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, das periodisch auf- flammt und wieder verlischt. (50) D* Steuermann des Weltalls ist der Blitz. (51) rt" Feuer ist Mangel und Sattigung. (52) Iles wird das Feuer, wenn es hereinbricht, richten und er- greifen. (53) as Feuer verwandelt sich in das All und das All in Feuer wie das Gold in Waren und Waren in Gold. (54) iy Weg aufwarts und abwarts ist ein und derselbe. (55) as Feuer lebt auf in der Luft Tod, die Luft lebt auf in des Feuers Tod; das Wasser lebt auf in der Erde Tod, die Erde in dem des Wassers. (56) erwandlungsformen des Feuers sind zuerst das Meer, die eine Halfte des Meeres aber Erde, die andere Flamme. Das Meer zerrinnt und gewinnt seine Grenze nach demselben gesetz- maBigen Verhaltnis, das vorhanden war, ehe es Erde wurde. (57) Iles ist in Bewegung und nichts bleibt stehen. Man kann nicht zweimal in den gleichen FluB steigen.’ (58) uch der Mischtrank zersetzt sich, wenn man ihn nicht um- rithrt. (59) er Krieg ist der Vater von allem, der K6nig von allem: die einen erweist er als Gétter, die andern als Menschen; die einen macht er zu Sklaven, die andern zu Freien. (60) an muB wissen, daB der Krieg etwas Allgemeines ist und daB der Streit zu Recht besteht und daB alles durch Streit und Notwendigkeit entsteht. (61) 118 erbindungen gehen ein: Ganzes und Nichtganzes, Uber- V einstimmendes und Verschiedenes, Akkorde und Disso- nanzen; und aus Allem wird Eines und aus Einem Alles. (62) as Entgegengesetzte paBt zusammen, aus dem Verschie- denen ergibt sich die schénste Harmonie, und alles entsteht auf dem Wege des Streites. (63) S* verstehen es nicht, wie das Verschiedene unter sich iiber- einstimmt: es ist eine riickwarts gewandte Harmonie wie beim Bogen und bei der Leier. (64) Daas Harmonie ist starker als sichtbare. (65) as Kalte wird warm, das Warme kalt, das Feuchte trocken, das Diirre naB. (66) rankheit macht die Gesundheit angenehm, Schlimmes das Gute, Hunger die Sattigung, Anstrengung die Ruhe. (67) er Dike (d. h. des Rechtes) Name ware unbekannt, wenn dies (das Unrecht?) nicht ware. (68) Se und Schlimm ist dasselbe. Die Arzte wenigstens, die iiberall schneiden und brennen, beanspruchen einen Lohn und verdienen doch keinen, da sie ein und dasselbe be- wirken (d. h. die schmerzhafte Operation und die erwiinschte Heilung). (69) as Meer ist das reinste und das unsauberste Wasser: fiir die Fische trinkbar und heilsam, fiir die Menschen unge- nieBbar und schadlich. (70) | Bae und Tod, Wachen und Schlafen, Jugend und Alter ist bei uns ein und dasselbe: denn dieses verwandelt sich in jenes und jenes wiederum in dieses. (71) nsterbliche sind sterblich, Sterbliche unsterblich: die einen leben auf im Tod der andern und ersterben in ihrem Leben. (72) 119 es Wollkamms Bahn ist, obwohl gerad und krumm, ein und dieselbe. (73) I" der Peripherie des Kreises fallt Anfang und Ende zusammen. (74) es Bogens (fid¢) Name ist Leben (féos), seine Wirkung Tod. (75) cc ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Friede, Sattigung und Hunger. Er verwandelt sich wie das Feuer und wird gleich diesem, wenn es sich mit Rauchwerk vermengt, nach jedermanns Belieben benannt. (76) F* Gott ist alles sch6n und gut und recht; nur die Menschen sind der Meinung, das eine sei recht, das andere unrecht. (77) ie kénnte man verborgen bleiben vor dem Licht, das nie untergeht? (78) A lle Kreatur weidet unter Gottes Peitschenschlag. (79) D ie Zeit (Aion) ist ein spielendes, Brettsteine setzendes Kind; ein Kind ist Kénig. (80) a geschieht nach Schicksalsnotwendigkeit.® (81) ae Sonne wird ihre Bahn nicht tiberschreiten; und wenn, so werden sie die Erinnyen, der Dike Helferinnen, zu finden wissen. (82) D* Sonne ist einen FuB breit. (83) 1 Sonne ist jeden Tag neu. (84) enn die Sonne nicht ware, so ware es trotz der andern Gestirne Nacht. (85) 120 ie Endpunkte von Morgen und Abend bilden der Bar und dem Baren gegeniiber die Grenze des himmlischen Zeus.’ (86) Ly schénste Welt ist wie ein planlos aufgeschiitteter Keh- richthaufen. (87) ry Menschen Meinungen sind Kinderspielzeug. (88) Is kindisch gilt der Mann der Gottheit wie das Kind dem Manne. (89) enschliche Sinnesart hat keine Einsicht sondern nur gdtt- liche. (90) er weiseste Mensch wird im Vergleich mit Gott wie ein Affe erscheinen an Weisheit, Schonheit und allen andern Eigenschaften. (91) er schdnste Affe ist haBlich verglichen mit der Gattung Mensch. (92) AN (Ace man auch in denselben FluB steigt, str6men doch immer wieder andere Wasserfluten zu; auch die Seelen steigen wie Dunst aus dem Feuchten empor. (93) ir steigen in denselben Flu8 und doch nicht in densel- ben; wir sind und sind nicht. (94) tir die Seelen ist es Tod, zu Wasser zu werden; fiir das Wasser ist es Tod, zu Erde zu werden; aus Erde wird wieder Wasser, aus Wasser Seele. (95) iir die Seelen ist es Freude oder Tod feucht zu werden: wir leben auf in ihrem Tod, sie leben auf in unserem Tod. (96) Gye hin: der Seele Grenzen findest du nicht, auch wenn du alle StraBen wanderst; so tief reicht ihr verniinftiges We- sen. (97) bE: trockene Seele ist am weisesten und am besten. (98) 121 inen trunkenen Mann kann ein kleines Kind leiten und irre- fiihren; denn er merkt nicht, wohin er geht, weil seine Seele feucht ist. (99) S* werden geboren, um zu leben und dem Tode zu verfallen oder vielmehr zur Ruhe einzugehen, und sie hin- terlassen Kinder, daB sie auch dem Tode verfallen. (100) od ist, was wir im Wachen sehen; was aber im Schlaf, Leben. (101) er Mensch, wenn er gestorben und sein Leben erloschen ist, ziindet sich in der Nacht ein Licht an; lebend aber riihrt er im Schlaf, wenn sein Auge erloschen ist, an den Tod, im Wachen riihrt er an den Schlaf. (102) Ly Menschen erwartet nach dem Tod, was sie nicht hoffen noch glauben. (103) eemecas sind wertloser als Diinger. (104) be Menschen Sinnesart ist sein géttliches Geschick. (105) M* der Lust zu kampfen ist schwer; denn was sie will, er- kauft man um den Preis seiner Seele. (106) . ‘Tbermut mu8 man noch mehr dampfen als Feuersbrunst. (107) s ist fiir die Menschen nicht gut, da8 ihnen alles zuteil wird, was sie wollen. (108) enn das Gliick im sinnlichen GenuB bestiinde, so mii8- ten wir das Vieh gliicklich nennen, wenn es Wicken als Futter findet. (109) ED" Esel zieht Spreu dem Golde vor. (110) unde bellen jeden an, den sie nicht kennen. (111) 122 M” soll nicht am Schmutz seine Freude haben. (112) dle Menschen erstreben Eines vor allem andern: ewigen Ruhm vor den verganglichen Dingen. Die Menge aber ist satt wie Herdentiere. (113) m Kampf gefallene Helden werden von Géttern und Men- schen geehrt. (114) Pies Tod wird ein grdBeres Los zuteil. (115) | Se gilt mir fiir zehntausend, wenn er von edler Art ist. (116) n Priene lebte Bias, des Teutameos Sohn, der mehr bedeutet als die andern Leute. (117) D ie Ephesier sollten sich, so viele ihrer erwachsen sind, ins- gesamt aufhangen und den noch Unerwachsenen die Stadt iiberlassen. Denn den Hermodoros, ihren tiichtigsten Mann, haben sie verbannt, indem sie meinten: von uns soll nie- mand der tiichtigste sein und, wenn es jemand ist, so sei er es anderswo und bei andern Menschen. (118) esetz kann es auch sein, dem Willen Eines Mannes zu ge- horchen. (119) " das Gesetz soll das Volk kampfen wie fiir seine Mauer. (120) PARMENIDES ie, so oft es mein Herz nur begehrt, mich fiihren, die Rosse Zogen mich hin, nachdem auf den Weg, den beriihmten, der Gdttin Sie mich gebracht, der allein den Kundigen leitet zum Ziele. Auf ihm fahr’ ich dahin: mich trugen die Rosse, die klugen, 123 Ziehend den Wagen, und Jungfrauen schritten voran auf der StraBe. Oft mit pfeifendem Ton in den Naben knirschte die Achse, Die von zwei wirbelnden Radern befliigelt in Glut sich ge- laufen, Wenn bei der Fahrt zum Licht die Sonnenmadchen zur Eile Drangten, sie, die verlassen des nachtlichen Dunkels Behausung Und mit der Hand vom Haupte zuriick den Schleier geschlagen. Dort ist ein Tor, zu den Pfaden der Nacht und des Tages der Eingang, Stehend auf steinerner Schwelle, zusammengehalten vom Tiir- sturz; Machtige Fliigel bilden die Fiillung der strahlenden Pforte. Dike, die Racherin, fiihret dazu die passenden Schliissel. An sie wandten sich nun mit freundlichen Worten die Mad- chen Und bewogen sie klug, den verschlieBenden Riegel vom Tore Eilends zuriickzustoBen. Auf sprang die Pforte und gahnte Weit sich ffnend, nachdem die erzbeschlagenen Balken Sich nacheinander gedreht in den Angeln, wo sie befestigt Waren mit Zapfen und Nageln. Daraufhin lenkten die Madchen Grad’ durch die Pforte hindurch auf der Fahrbahn Wagen und Rosse. Gnadig empfing mich die Géttin und faBte mich selbst bei der Rechten: Alsdann erhob sie die Stimme und richtete an mich die Worte: yoei mir, Jiingling, gegriiBt! In unsterblicher Lenker Geleite Kamst du in unser Haus, von deinem Gespanne gezogen. Wahrlich, kein Ungliicksstern hat diesen Pfad dir gewiesen, Der von der Menschen betretener Bahn abseits sich dahinzieht; Sondern Recht und Gerechtigkeit war’s. So hére denn beides: 124 Abgerundete Wahrheit auf nicht zu erschiitterndem Grunde, Menschlicher Meinungen Wahn, dem fremd des Wahren Ge- wiBheit. Trotzdem sollst du auch dieses erfahren, wie nach dem Scheine Alles sich miiBte verhalten, wofern man es griindlich durch- forschte. Doch nicht wandle dein Geist auf diesem Wege der For- schung, La8 nicht in solcherlei Bahn von der Macht der Gewohnheit dich drangen, Spielen zu lassen den schweifenden Blick und den Schall des GehGres Und den Geschmack. Die Vernunft, sie falle allein die Ent- scheidung In der vielumstrittenen Frage, vor die ich dich stelle. Dann wird nur noch zu Einem Weg der Mut dir verbleiben. (1) Es dir nun sagen, — und nimm das Wort, das du hGrest, zu Herzen! — Welche zwei Wege der Forschung allein uns denkbar er- scheinen. Einer lehrt: das Seiende ist; Nichtsein ist unméglich. Dies ist zur Uberzeugung der Pfad; denn er folget der Wahr- heit. Doch der andere meint, es gebe auch Nichtsein, notwendig Miiss’ es das geben: das, sag’ ich dir, ist ein vdlliger Irrweg. Denn was gar nicht ist, das kann man auch niemals erkennen Noch aussprechen in Worten. Das la8t sich nimmer vollfiihren. (2) See wie nun auch was fern, dir deutlich nah ist im Geiste. Denn das Seiende kannst du vom Seienden nimmermehr trennen. 125 Immer hangt es zusammen, so dafB es sich nie aus der Ordnung Lést, um sich zu zerstreuen und wieder sich dann zu vereinen. (3) iickenlos steht mir das Seiende da, und wo ich auch immer Moége beginnen, dahin werd’ ich doch wieder gelangen. (4) ib sie was ist, und Sein: dies beides ist ein und dasselbe. (5) Os es zu sagen und denken tut not: Nur Seiendes gibt es, Aber das Nichts ist nicht. Das bitt’ ich dich wohl zu be- denken. Dies ist der Forschung erster Weg, vor dem ich dich warne; Ferner vor dem, auf welchem unwissende Menschen sich tum- meln, Janusgesichter, schwankenden Sinns und ratlos im Herzen. Ziellos, stutzend wie Taube und Blinde, so taumeln einher sie, Eine verworrene Schar, der Sein und Nichtsein als gleich gilt Oder auch nicht: denn riickwarts wendet ihr Pfad sich in allem. (6) Se Nichtseiendes sei, laBt nie sich zwingend beweisen. Doch nicht wandle dein Geist auf diesem Wege der For- schung. (7) o ist nur noch die Rede von Einem Weg, der uns bleibet: DaB das Seiende ist. Merkzeichen hat dieser gar viele: Niemals ist es geworden, so kann es auch nimmer vergehen; Ganz ist es, einziggeboren und ohne Bewegung und Ende. Niemals war es noch wird es je sein, nur Gegenwart ist es, Ununterbrochene Einheit. Wo sollt’ einen Ursprung es haben? Oder woraus sollt’? erwachsen es sein? Doch nicht aus dem Nichtsein! 126 Solches 1la8t sich nicht denken noch sagen. Undenkbar, un- sagbar Ist’s ja, daB es nicht ware. Was hatte auch je es gendtigt, Aus dem Nichts zu entstehen fiirwahr, sei’s friiher sei’s spater? Und so muB denn entweder es unbedingt sein oder gar nicht. Solcher GewiBheit Kraft 14Bt nie es méglich erscheinen, DaB aus dem Nichts sein Widerspiel, ein Etwas, entstiinde. Werden gibt und Vergehn, die Dike in Fesseln geschlagen, Nimmer sie frei; sie bleiben gebannt. Hier liegt die Entschei- dung: Entweder ist, was ist, oder nicht. Dann ist schon entschieden Gegen den Weg, der, undenkbar, unsagbar, und nicht zu der Wahrheit Fiihrt, und zugunsten des andern, der richtig und wirklich vor- handen. Wie denn sollte in Zukunft das Seiende sein, wie geworden? Ist es geworden und wird es erst sein, so ist es nicht wirklich. Drum ist das Werden erloschen, verschollen ist ganz das Ver- gehen. Uberall ist das Seiende gleich; nicht 1a8t es sich teilen. Nicht gibt’s hier ein stérkeres Sein, ein schwacheres dorten, Das den Zusammenhang stérte; von Seiendem voll ist ja alles. Seiendes schlieBt sich an Seiendes an: nie klafft eine Liicke. Ohne Bewegung ruht es von miachtigen Banden um- schlossen. Ohne Beginn, ohn’ Ende. Denn weit in die Ferne verschlagen Sind Entstehn und Vergehn, verscheucht von des Wahren Ge- wibheit. Immer dasselbe, verharrt es im selben Zustand und ruhet In sich selbst und bleibet dort fest; in engenden Banden Halt es die starke Notwendigkeit ja, die rings es umfassen. 127 Und weil nichts dem Seienden fehlt, so auch nicht ein Absch!uB; MiiBte es diesen entbehren, so mangelte damit ihm alles. Denken und des Gedankens Grund ist ein und dasselbe. Denn das Seiende ist des Denkens Inhalt, und ohne Diesen gibt es kein Denken. Nichts anderes ist oder wird sein AuBer dem Seienden, hat es ja doch das Schicksal gebunden, DaB es bewegungs- und liickenlos ist. Drum sind es nur Na- men, Die ihm die Sterblichen geben im Wahn, sie sagen die Wahr- heit: Werden nennen sie es und Vergehen, Sein oder Nichtsein, Reden vom Andern des Orts und vom Wechsel der schimmern- den Farbe. Weil es zu 4uBerst begrenzt, ist’s abgeschlossen nach allen Seiten, vergleichbar der Form der wohlgerundeten Kugel, Gleich von der Mitte aus iiberalthin. Denn weder darf gr6Ber Noch auch kleiner es irgendwo sein; und nichts kann es hin- dern, Fest sich zusammenzuschlieBen. Auch kann nicht hier oder dorten Etwas sein, das mehr oder wen’ger als Seiendes ware. Unverletzlich ja ist es durchaus. Von der Mitte, wohin es Uberallher gleich weit, reicht gleich es bis an die Grenze. Was ich Gewisses gesagt und gedacht von der Wahrheit, hier schlieBt es. Menschlicher Meinungen Wahn magst du von nun an ver- nehmen, Leihend dein Ohr dem téuschenden Klang der kiinstlichen Verse. Zweierlei Wesen gibt es mit Namen — so lautet die Lehre — Statt nur Eines (da sind sie denn freilich im Irrtum befangen),' 128 Gegensatze an Form, an Eigenschaften verschieden Ganz voneinander: da ist der Flamme strahlendes Feuer, Fein, gar leicht und immer und iiberall selber sich gleichend, Ungleich aber dem andern Wesen. Denn ihm gegeniiber Steht die finstere Nacht, ein plumpes und schweres Gebilde. Und so will ich die Welt, wie sie scheint, nun ganz dir be- schreiben ; Dann ist keine Gefahr, daB Menschenwahn dich beriicke. (8) ber da alles die Namen des Lichts und der Nacht hat er- halten Und der Bedeutung gem4B sie zugeteilt wurden den Dingen, Ist nun alles zugleich voll Lichts und nachtlichen Dunkels. Beides halt sich die Wage; denn keins hat am anderen Anteil. (9) enn voll waren die engeren Kreise von lauterem Feuer Und von Dunkel die nachsten; dazwischen ziingelt die Flamme. Doch in der Mitte thront, die alles steuert, die G6ttin. Uberall 1a8t unsel’ge Geburt sie und Paarung beginnen, Sendet dem Manne das Weib und dem Weib den Mann zur Vermahlung. (10) (Bis von samtlichen G6ttern zuerst erschuf sie die Liebe. (11) ennen wirst du des Athers Natur und im Ather der Sterne Samtliche Bilder, der Sonnenleuchte, der heiligen, reinen Sengende Wirkung und wie und woraus das alles geworden. Des rundaugigen wandelnden Mondes Natur und Verrichtung Wirst du verstehn und erfahren vom allumfassenden Himmel, Wie er entstand und wie der Notwendigkeit festes Gesetz ihn Zwang den Lauf der Gestirne in sicheren Schranken zu halten. (12) 9 Vorsokratiker 129 W* die Erde zu werden begann und der Mond und die Sonne, Wie des Athers Gewélbe und hoch am Himmel die Milch- straB’, Wie der fernste Olymp und die gliihende Kraft der Gestirne. (13) mmer schaut er sich um, der Mond, nach den Strahlen der Sonne. (14) hOmaunaaie erhellt er die Nacht mit geliehenem Lichte. (15) a hi nachdem sich die Mischung vollzieht in den schwanken Organen, Ist die Tatigkeit auch des menschlichen Geistes. Nichts andres Als der Organe Natur ist’s ja, was denkt in den Menschen Und zwar in allen und jedem. Was starker, bestimmt den Ge- danken. *° (16) Iso entstand die Welt dem Scheine nach und so besteht sie Und wird fernerhin wachsen, um schlieBlich ein Ende zu nehmen. Allen Erscheinungen gab der Mensch die bezeichnenden Na- men, (17) ZENO Wn es Vieles gibt, so muB es soviel sein wie alle existie- renden Dinge, nicht mehr und nicht weniger. Wenn es aber nur so vieles gibt als es gibt, dann ist es begrenzt. Wenn es Vieles gibt, so ist das Seiende grenzenlos. Denn immer sind andere Dinge zwischen dem, was ist, und zwischen jenen wieder andere. Also ist das Seiende grenzenlos. (1) enn das Seiende keine GrdBe hatte, so existierte es iiber- haupt nicht. Wenn es aber existiert, so mu8 jedes Ding 130 eine gewisse GrdBe und Dicke und eins vom andern einen Ab- stand haben. Und von dem, was iiber jenes hinaus liegt, gilt dasselbe. Denn auch jenes wird eine Gré8e haben und dariiber hinaus wird wieder etwas liegen. Es ist einerlei, ob man dies einmal ausspricht oder immer wiederholt; denn kein solcher Teil des Seienden wird der 4uBerste sein und jeder wird immer in einem Verhaltnis zu einem andern stehen. Wenn es daher Vieles gibt, so muB es sowohl klein als groB sein: so klein, daB es keine GroBe mehr hat und so groB, daB es grenzenlos ist. (2) R" Ding, das weder GréBe noch Dicke noch Masse hat, kann nicht existieren. Denn wenn es zu einem andern Ding hinzukame, so wiirde es dies um nichts gr6Ber machen. Wenn namlich eine GrdBe, die keine Ausdehnung hat, zu einer andern hinzukommt, so kann diese an Gr6Be nichts zulegen. So ist denn schon das Hinzukommende nichts. Wenn aber durch seine Wegnahme das andere Ding nicht kleiner wird, so wenig wie durch sein Hinzukommen gr6Ber, so ist es klar, daB so- wohl das Hinzugekommene als das Weggenommene nichts war. (3) as sich bewegt, bewegt sich weder an der Stelle, wo es ist, noch an der, wo es nicht ist. (4) MELISSOS mmer war, was war, und es wird immer sein. Denn wenn es entstanden ware, so miiBte es vor seiner Entstehung nichts gewesen sein. Nun aber kann aus nichts unmdéglich etwas wer- den. (1) a das Seiende somit nicht entstanden ist, sondern ist und D immer war und immer sein wird, so hat es auch weder Anfang noch Ende, sondern ist grenzenlos. Ware es namlich 9* 131 entstanden, so hatte es einen Anfang (denn als etwas Entstan- denes hatte es einmal einen Anfang genommen) und ein Ende (denn als etwas Entstandenes hatte es einmal ein Ende genom- men); wenn es aber weder angefangen noch geendet hat, son- dern immer war und immer sein wird, so hat es nicht Anfang noch Ende. Denn etwas, dem nicht unbedingtes Sein zukommt, kann nicht ewig sein. (2) W* es aber ewig ist, so mu es auch in seiner Ausdeh- nung immer grenzenlos sein. (3) a nen das einen Anfang und ein Ende hat, ist ewig oder grenzenlos. (4) enn das Seiende nicht Eines ware, so wiirde es an etwas anderes grenzen. (5) enn es grenzenlos ist, ist es Eines. Denn bestande es aus zwei Dingen, so kénnten diese nicht grenzenlos sein, sondern miiBten einander begrenzen. (6) o ist es nun ewig, grenzenlos, eins und ganz gleichartig. Es kann weder vergehen noch wachsen noch seinen Zustand wechseln und empfindet weder Schmerz noch Kummer. Denn wenn etwas Derartiges mit ihm vorginge, so ware es nicht mehr Eines. Wenn namlich das Seiende sich verandert, so kann es unmodglich gleichartig bleiben, sondern das, was vorher war, muB vergehen und das, was nicht war, entstehen. Wenn es also in zehntausend Jahren auch nur um ein Haar sich verandern wiirde, so wiirde es im Verlauf aller Zeit ganz zugrunde gehen. — Es kann aber auch unmdglich seinen Zustand wechseln. Denn der Zustand, der bisher war, vergeht nicht, und der, der nicht ist, entsteht nicht. Da aber weder etwas hinzukommt noch sich etwas verliert oder verandert, wie sollte es da in einen an- dern Zustand versetzt noch zum Seienden gehéren? Denn wenn sich etwas verandern wiirde, so ware es ja auch schon 132 in einen andern Zustand versetzt. — Es empfindet ferner kei- nen Schmerz. Denn es kame ihm kein unbedingtes Sein zu, wenn es Schmerz empfande (ein Schmerz empfindendes Wesen kann namlich nicht ewig sein und hat nicht die gleiche Kraft wie das gesunde). Es ware aber auch nicht mehr gleichartig, wenn es Schmerz empfande; denn es empfande Schmerz ent- weder weil etwas weg- oder weil etwas hinzugekommen ware; folglich ware es nicht mehr gleichartig. Auch kann das Ge- sunde keinen Schmerz empfinden; denn sonst verginge das Gesunde und Seiende und das Nichtseiende entstiinde. — Vom Kummer gilt dasselbe wie vom Schmerz. — Auch gibt es kei- nen leeren Raum: denn das Leere ist nichts; das Nichts aber kann nicht existieren. Daher ist das Seiende bewegungslos. Denn es kann nirgendshin ausweichen, sondern es ist voll. Denn wenn es leeren Raum gabe, kénnte es in diesen auswei- chen; da es aber keinen leeren Raum gibt, so gibt es nichts, wohin es ausweichen kénnte. — Dicht und Diinn gibt es auch nicht. Denn das Diinne kann unmdglich so voll sein wie das Dichte, sondern das Diinne ist seinem Wesen nach leerer als das Dichte. Zwischen dem Vollen und Nichtvollen aber muB man folgendermaBen unterscheiden: ist in einem Ding Raum und kann es etwas aufnehmen, so ist es nicht voll; ist aber kein Raum darin und kann es nichts aufnehmen, so ist es voll. Es muB also voll sein, wenn es nicht leer ist. Wenn es somit voll ist, ist es bewegungslos. (7) er Hauptbeweis dafiir, daB nur das Eine ist, ist die obige Begriindung; es dienen aber auch noch folgende Er- wagungen zum Beweis. Wenn es vieles gabe, so miiBte es ge- rade so sein, wie ich es von dem Einen behaupte. Denn wenn es Erde und Wasser, Luft und Feuer, Eisen und Gold, Leben- des und Totes, Schwarzes und Weifes gibt und alle sonstigen 133 Dinge, denen die Menschen wirkliches Sein zuschreiben, wenn es dies gibt und wir richtig sehen und héren, dann muB jedes Ding gerade so sein, wie es uns zuerst erschien, und darf nicht seinen Zustand wechseln oder sich verandern, sondern jedes mu8 immer gerade so sein, wie es ist. Nun aber meinen wir richtig zu sehen, zu héren und wahrzunehmen. Dabei scheint uns jedoch das Warme kalt und das Kalte warm, das Harte weich und das Weiche hart zu werden, das Lebende zu sterben und aus dem Nichtlebenden Lebendiges zu entstehen und das alles sich zu verandern und was war und was jetzt ist, nicht gleichartig zu sein; sondern das Eisen, das hart ist, scheint sich am Finger abzureiben und dadurch zu zerrinnen und ebenso ist es mit Gold und Stein und allen andern scheinbar festen Stoffen, und aus Wasser scheint Erde und Stein zu werden. Daraus folgt, daB wir das, was ist, weder sehen noch erkennen. Das stimmt also nicht miteinander iiberein. Denn wahrend wir meinen, es gabe viele Dinge von bestandiger und fester Form, scheint sich uns nach dem jeweiligen Anblick alles zu veran- dern und seinen Zustand zu wechseln. Somit ist klar, daB wir nicht richtig sahen und da8 jenes Vielerlei nur ein falscher Schein ist; denn wenn jenen Dingen wirkliches Sein zukame, so wiirden sie nicht ihren Zustand wechseln, sondern jedes ware gerade so wie es zuerst erschien. Denn nichts ist starker als das, was wahrhaft ist. Wechselt aber etwas seinen Zustand, so vergeht das Seiende, und das Nichtseiende ist entstanden. Wenn also Vieles existierte, so miiBte es gerade so sein wie das Eine. (8) enn es nun iiberhaupt ein Seiendes gibt, so kann es nur Eines sein. Wenn es aber Eines ist, so muB es unk6r- perlich sein. Denn wenn es materielle Ausdehnung besaBe, so hatte es Teile und ware nicht mehr Eines. (9) 134 Wee das Seiende Teile hat, so bewegt es sich; wenn es sich aber bewegen wiirde, so kame ihm kein Sein mehr zu. (10) EMPEDOKLES Aus dem Gedicht ,Uber die Natur‘ D” des verstandigen Anchitos Sohn, Pausanias, hére! (1) enn mit gespannter Kraft des Geistes, in reinem Bestreben Du hingebenden Herzens das Weltengeheimnis ge- schaut hast, Dann geht solche Erkenntnis in Ewigkeit nie dir verloren. Wuchern wirst du sogar mit diesem Schatze; von selber Wachst und verwachst er mit jeden Charakters persénlichem Wesen. Trachtest du aber nach anderen Giitern, wie, zahlreich und kleinlich, Sie den Menschen zwar wert, abstumpfen die Scharfe des Den- kens, Wahrlich, dann werden sie bald dich verlassen im Rollen der Jahre, Strebend zuriick zum eigenen Stamm, dem geliebten, zu kehren. Allem namlich, vernimm, ward BewuBtsein zuteil und Gedan- ken. (2) Wy an Arzneien es gibt, um Krankheit und Alter zu weh- ren, Sollst du erfahren. Fiir dich ja allein vollend’ ich dies alles. Bannen auch wirst du des Sturms nie miide Gewalt, der die Erde Fegt in wildem Gebraus und rings die Fluren verwiistet. Und nicht minder herbei wird zwingen dein Wille die Winde. 135 Wandeln wirst du in trockenes Wetter, den Menschen will- kommen, Dunkeln Regen und wiederum wirst du in wolkenentstrémte, Baumernahrende Giisse des Sommers Diirre verkehren Und aus dem Hades fiihren ans Licht entschwundenes Leben. (3) Nn ist’s schwacher Naturen, den Starken am Geist zu miBtrauen. Unserer Muse versage den Glauben du nicht, den sie heischet, Und, wenn ihr Wort dir ins Innere drang, nimm an die Er- kenntnis. (4) ng ist der Sinne Bezirk, die verteilt auf des K6rpers Organe. Stumpf wird die Scharfe des Denkens vom kleinlichen Eindruck des Alltags. Kaum daB8 ein biBchen die Menschen geschaut vom eigenen Leben, Schweben wie Rauch sie davon, verweht vom raschen Ge- schicke. Das nur glauben sie, was auf seiner Irrfahrt gerade Jeder erfahren, und prahlen, sie hatten das Ganze gefunden. Denn so wenig erfaBt das Ohr und Auge der Menschen Oder ihr Geist die Welt. Doch weil du abseits dich hier ein- fandst, Sollst du erfahren, so viel als menschlicher Einsicht erreichbar. (5) i was du hdrst, das] magst du in schweigendem Busen verwahren.*4 (6) (2 behiitet vor Worten des Wahns mir immer die Zunge, Lasset nur lauteren Quell aus heiligem Munde entstrémen. Und dich bitt’ ich, gepriesene Muse, weiBarmige Jungfrau: 136 Send’ aus der Frémmigkeit Land mir den lenksamen Wagen des Liedes, Eintagsmenschen zu kiinden, so viel sich ziemet zu héren. Nie werden Kranze der Ehren, von sterblichen Handen ge- wunden, Mehr dich bestechen zu sagen, als frommes Gewissen dir zu- 1aBt, Dreisten Mundes, um dann auf der Weisheit Gipfel zu thronen. Sondern betrachte mit jeglichem Sinn jedwede Erscheinung: Traue dem Auge nicht mehr als recht im Vergleich mit dem Ohre, ; Uber dem Schall des Gehors vergi8 nicht des Gaumens Emp- findung; Auch von den andern Organen, soweit sie ein Pfad zur Er- . kenntnis, Keinem versage den Glauben; doch priife jedwede Erschei- nung! (7) enn fiirs erste vernimm des Weltalls vierfache Wurzel: Zeus der strahlende, Hera der Nahrung Spenderin, Hades, Nestis, die irdisches NaB 1a8t aus den Tranen entquellen.2? (8) aN daa will ich dir sagen: nicht gibt’s bei den irdischen . Dingen Ein Entstehen noch ein Vergeh’n in verderblichem Tode Sondern Verbindung und Scheidung nur der verbundenen Stoffe Gibt es: Entstehung ist nichts als ein Wort den Menschen ge- laufig. (9) Ee sie nennen es ,Werden‘, so oft aus der Stoffe Ver- bindung Etwas ans Licht tritt, sei es ein Mensch oder sei’s von der wilden 137 Tiere Geschlecht, sei’s Vogel, sei’s Pflanze; und wenn sie sich scheiden, Alsdann reden sie wieder von ungliicksel’ger Vernichtung. Unrecht tun sie damit; doch ich auch folge dem Brauche. (10) oren sind es, zu kurz an Geist und Gedanken geraten, So da vermeinen, was friiher nicht war, das kénne ent- stehen Oder, was ist, dem Tod und Untergang vdllig verfallen. (11) is esau kann ja aus dem, was nicht ist, etwas ent- stehen; Und daB vergehe, was ist, ist unerhort und unméglich. Denn es wird immerdar sein an der ihm gewiesenen Stelle. (12) 1S agai ist etwas leer noch iiberfliissig im Weltall. (13) nn im Weltall ist leer; und woher sollt’ hinzu etwas kommen? (14) ee und HaB: wie sie waren bisher, so werden sie immer Sein und ich glaube, sie werden in Ewigkeit niemals ver- gehen. (15) 5 acai kiind’ ich: bald wachst aus mehreren Teilen ein Ganzes, Bald auseinander tritt wieder das Eine in mehrere Teile. Zwiefach ist irdischer Dinge Entsteh’n und zwiefach ihr Schwinden: Eines erzeugt und zerstért der Dinge Verbindung; das andre, Kaum erstarkt, verfliegt, wenn wieder die Stoffe sich scheiden.** Unaufh6rlich wechselt dies ab, nie kommt es zu Ende: Bald in Liebe vereint tritt alles in Eines zusammen, Bald vom Hasse entzweit strebt jegliches wieder nach Tren- nung. Also indem aus Mehrerem Eines pflegt zu erwachsen 138 X Und aus des Einen Zersetzung dann Mehreres wieder hervor- geht, Gibt es Entstehung und bleibt sich nicht gleich das Wesen der Dinge; Aber sofern die Veranderung dauert und nimmermehr aufhort, Bleiben bewegungslos die Stoffe im ewigen Kreislauf. Hor’ meine Worte, wohlan! Denn Lernen erweitert den Geist dir. Wie ich schon vorher erklart, das Ziel der Lehre erlauternd: Zweierlei kiind’ ich; bald wachst aus mehreren Teilen ein Ganzes, Bald auseinander tritt wieder das Eine in mehrere Teile: Feuer und Wasser und Erde und Luft unendlich an Hohe; Diesen abseits der verderbliche HaB, das Gleichgewicht haltend, Und in der Mitte die Liebe von gleicher Lange und Breite. Diese betrachte im Geist, doch nicht mit starrendem Staunen! Zwar ist bekannt sie den Menschen als Trieb in den Gliedern des Leibes, Wie sie die Sehnsucht erregt und das Werk der Vermahlung vollendet; Wonne benennt man sie wohl und Aphrodite mit Namen. Doch daB sie auch die Stoffe in Schwung setzt, wuBte bis jetzo Noch kein Mensch. Du aber vernimm die wahre Begriindung. Denn die Stoffe sind alle sich gleich an Kraft und an Alter, Aber ein jeder von anderer Art und anderer Wirkung Und im Laufe der Zeiten gelangen sie wechselnd zur Herr- schaft. Nichts kommt zu ihnen hinzu noch geht davon etwas verloren. Gingen sie namlich vollig zugrunde, so waren sie nicht mehr. Was aber sollte dies Weltall vermehren? Woher sollt’ es kom- men? 139 Und wie sollt’ es vergehen, da leer von Stoffen kein Raum ist? Nein! Die Stoffe nur sind; indem durcheinander sie laufen, Wird bald dies bald das und ewiglich immer das Gleiche. (16) Ilda erblickt man noch nicht des Helios hurtige Glieder Noch auch die zottige Kraft der Erde noch Wogen des Meeres. Also ruhet im dichten Dunkel harmonische Einheit, Seiner Einsamkeit froh, der Sphairos zur Kugel gerundet. (17) leich nach saémtlichen Seiten war der und ringsum ohn’ Ende. Noch nicht herrschte verwerflicher Streit und Zwist in den Gliedern. (18) Ly nicht schwingen vom Riicken sich ihm zweigartig zwei Arme Noch hat er FiiBe noch hurtige Knie noch zeugende Glieder, Sondern er war eine Kugel, ganz gleich nach samtlichen Sei- ten. (19) ber nachdem in den Gliedern der Ha8 ihm gro8 war ge- wachsen Und sich zu Ehren erhoben, dieweil sich die Zeit ihm erfiillte, Dran durch machtige Eide sie wechselnd waren gebunden, Da erdebten die Glieder des Gottes der Reihe nach alle. (20) iad anhebend betret’ ich den friiheren Pfad des Ge- sanges, Den ich beschrieb; aus einem Satz leit’ ab ich den andern. Wenn in die unterste Tiefe des Wirbels der HaB sich gesenkt hat Und in die Mitte des Strudels die Kraft der Liebe getreten, Dann tritt alles in dieser zur Einheitsbildung zusammen, Nicht zugleich; wie jegliches will, so erfolgt die Verbindung. Wahrend sich diese vollzog, entwich der HaB an die Grenze. Doch blieb vieles noch unvermengt inmitten der Mischung, 140 Das dort schwebend der HaB festhielt; denn noch war er restlos Nicht entwichen und ganz an der Rundung auBerste Enden, Sondern er steckte noch teils in den Gliedern, teils war er ent- flohen. Aber je mehr er enteilte, um so viel riickte der Liebe Sanfte, vollkommene Kraft vorwarts in géttlichem Drange. Rasch ward Vergangliches nun aus unverganglichen Stoffen Und, was lauter zuvor, vermischte sich kreuzend die Pfade. Zahllos aus dem Gemenge ergossen sich irdischer Wesen Scharen in mancherlei Form und Gestalt, ein Wunder zu schauen. (21) ibe dir nun nennen die ersten und gleich urspriinglichen Stoffe, Draus dies alles ans Licht sich rang, was jetzt wir erblicken: Erde und wogende See, das Luftmeer feucht und der Ather, Der den gesamten Kreis der Welt, ein Titane, umklammert. (22) S> und Erde und Himmel und Meer: sie halten zu- sammen, Freundlich verbunden ein jedes in seinen verschiedenen Teilen, Ob sie gleich fern voneinander im irdischen Weltall erwuchsen. Ebenso ist, was irgend aus gliicklicher Mischung entstammt ist, Liebend vereint, aneinander gepaBt von der Macht Aphrodites. Feindlich dagegen erscheint, was am weitsten getrennt von- einander Ist durch Ursprung und Mischung und ausdrucksvolle Ge- staltung, Nimmer gewohnt mit anderem sich zu verbinden und elend Auf des Hasses Gehei8, der seine Entstehung bewirkt hat. (23) Kee die Zeugen schau an, ob wahr, was ich bisher ge- sungen, Oder ob irgendwo sich ein Mangel an Formen ergeben! 141 Sieh, wie die warmende Sonne versendet die leuchtenden Strahlen Und die unsterblichen Sterneerglith’ n inschimmerndem Glanze, Wie das Gewdasser dunkel und kiih! in allem erscheinet Und aus der Erde sich drangen die festen, gediegenen Stoffe. All dies wogt noch im Zwist zwiespaltig in wirren Gestalten, Doch in der Liebe dann zieht es sich an und wachst ineinander. Alles entsteht ja daraus, was war und was ist und was sein wird, Dinge verschiedenster Art: so bunt ist der Wechsel der Mi- schung.** (24) pe Maler, geschickte, die wohl auf die Kunst sich verstehen, Wenn sie bunte Gemalde zu Weihegeschenken entwerfen, Mancherlei Farben verwenden, da mehr, dort weniger nehmend, Um aus harmonischer Mischung das fertige Bild zu gestal- ten, — Allem méglichen ahnlich erschaffen sie da die Figuren: Baume stellen sie hin und Menschen, Manner und Frauen, Allerlei Tiere, Gevégel und wasserbewohnende Fische, Gotter sogar, langlebend auch, die herrlich an Ehren, — So sind die Stoffe der Quell der unzahligen irdischen Dinge, Die wir erschau’n. LaB nie vom Truge den Sinn dir beriicken, Sondern sei fest iiberzeugt! Ein Gotteswort hast du vernom- men. (25) M™"" dir aber noch immer der Glaube, wie’s méglich ge- wesen, DaB aus des Wassers, der Erde, der Luft und des Feuers Ver- bindung Solcherlei Fiille entstand von bunten Farben und Formen, Wie von der Macht der Liebe vereint sie wirklich vorhanden, 142 {LaB dir, wie all das vor sich gegangen, noch weiter verkiin- den].® (26) Ft vermehrt ihre Masse durch Erde, durch Ather der Ather. | (27) in ist unendlich die Tiefe der Erde noch endlos der Ather, Wie oft Toren behaupten, aus deren Munde entstr6met Sprudelnder Schwall der Worte; vom Weltall sahen sie wenig.*® (28) Is Aphrodite die Erde im Wasser benetzt, tibergab sie, Sie mit Warme anhauchend dem hurtigen Feuer zum Harten. (29) oe dem Boden der Erde da lodern vielerlei Feuer. (30) mM“ ist der Erde Schwei8. (31) andelt iiber dem Monde die Sonne dahin, so verdeckt er Deren Strahlen, und so viel wird von der Erde verdunkelt Als die Breite betragt der Scheibe des leuchtenden Mondes. (32) nd die giitige Erde empfing in den Tiefen des Innern Von acht Teilen noch zwei vom Glanze der Nestis’? und viere Von Hephastos; daraus entstanden die weiBen Gebeine Herrlich zusammengefiigt vom Kitt harmonischer Eintracht. (33) Is in der Liebe vollkommener Bucht die Erde gelandet, Traf mit den anderen Stoffen zusammen sie, namlich mit Feuer, Wasser und leuchtendem Ather, der Mehrzahl ziemlich ge- wachsen, Sei’s, daB um weniges starker sie war oder schwacher als diese. 143 Daraus entstand das Blut und die sonstigen Formen des Flei- sches. (34) N™ vernimm, wie das Feuer, sich sondernd, sandte nach oben Nachtentstammte unselige Sprossen von Mannern und Weibern. Nicht verfehlt ja die Lehre ihr Ziel noch entbehrt sie der Wahr- heit. Formlos tauchten zuerst Erdklumpen empor, die von beiden, Wasser und W4rme, ihr richtiges Teil je hatten bekommen. Aufwarts warf sie die Flamme dem himmlischen Feuer entgegen. Doch sie zeigten noch nicht der Glieder liebliche Formen, Hatten nicht Stimme noch Scham, wie menschlichen Wesen sie eigen. (35) dpfe in Menge entsproBten der Erde des Haltes entbehrend; Einzelne Arme auch irrten umher der Schultern erman- gelnd; Augen schweiften umher allein, die Stirnen vermissend. (36) Iso streiften die Glieder vereinzelt und suchten Verbin- dung. (37) och als die géttlichen Wesen im Ringen sich enger um- schlangen, Wuchsen die Glieder zusammen, wie grade sie einzeln sich trafen, Und viel anderes noch entstand im weiteren Fortgang. (38) : saan erwuchsen so mit doppeltem Antlitz, Doppelter Brust, schleppfiiBige auch mit unzahligen Handen, Rinderleiber Gates empor mit menschlichen K6pfen, Wiederum menschliche Kérper mit Ochsenképfen versehen, Zwittergeschopfe teils Mann teils Weib mit beschattetem Schamglied. (39) 144 lar ist der Kampf von Liebe und HaB in den menschlichen Gliedern: Denn bald einen sie sich zum organischen Ganzen im K6rper Durch der Liebe Gewalt in der Bliite des prangenden Lebens, Bald auch trennen sie sich durch des Streites feindliche Krafte, Und dann irren vereinzelt sie hin am Gestade des Lebens. Ebenso ist’s bei den Pflanzen und wasserbewohnenden Fischen, Bei des Gebirges Getier und den liiftedurchsegelnden Végeln. (40) aare und Blatter der Pflanzen und dichtes Gefieder der Vogel, Schuppen, auf kraftigen Gliedern erwachsen, sind ein und das- selbe. (41) érner waffnen und Zahne und Stacheln andere Tiere, Aber von spitzigen Borsten starrt der Riicken des Igels. (42) | Sane wie Eier erzeugt der Baum der hohen Olive. (43) NK ist Wasser, das drang durch die Rinde, im Holze ver- goren. (44) asser vermischt sich mit Wein: doch will es vom Ole nichts wissen. (45) o griff Si8 nach SiB und Bitter eilte zu Bitter, Aber zu Scharf trat Scharf und Warm gesellte zu Warm sich. (46) Wie daB allem, was ward in der Welt, Abfliisse ent- strOmen. (47) 1D ue mit der Erde im uns seh’n Erde wir, Wasser mit Wasser, Glanzende Luft mit Luft, vernichtendes Feuer mit Feuer; Lieb’ wird der Liebe gewahr und HaB des traurigen Hasses. (48) 10 Vorsokratiker 1 45 Iles ward namlich aus diesen Stoffen harmonisch gefiiget: Durch sie denken die Menschen und fiihlen so Freude wie Trauer. (49) J nach des K6érpers Bestand wachst auch den Menschen die Denkkraft. (50) Vn den Wellen des Bluts, das herandrangt, nahret das _ Herz sich. Hier vor allem ja sitzt, was Denkkraft hei®t bei den Menschen. Denn das herzumwogende Blut ist den Menschen die Denk- kraft. (51) Iles ist so mit BewuBtsein begabt nach dem Willen des Schicksals. (52) ie wird ein weiser Mann sich dies vorstellen im Geiste, Da8 nur wahrend sie leben — was Leben man hei8t fiir gewohnlich — So lang die Sterblichen seien und Gutes und Schlimmes er- fahren, Nichts jedoch vor der Verbindung und nach der Scheidung der Stoffe. (53) Aus dem ,Reinigungslied‘ oa mir gegriiBt, ihr Freunde, die hoch ihr wohnt in der groBen Stadt an des Akragas gelblicher Flut, ihr trefflichen Herzen, Ihr, des Fremdlings wiirdiger Hort, fern allem Gemeinen. Nicht mehr bin ich ein Sterblicher euch, ein unsterblicher Gott jetzt Wandr’ ich umher verehrt von jedermann, wie sich’s gebiihret; Heilige Binden und bliihende Kranze umgeben das Haupt mir. Wenn ich, von Jiingern geleitet, von Mannern und Frauen, dann einzieh’ 146 In die herrlichen Stadte, zollt iiberall man mir Verehrung. Tausende kommen und fragen, wo doch zum Heile der Pfad fiihrt. Seherspriiche verlangen die einen und andere wiinschen Von mir ein kraftiges Wort, um allerlei Krankheit zu bannen, Weil sie schon lang sich fiihlen gequalt von heftigen Leiden. (54) ber warum der Worte so viel, als war’ es was GroBes, Wenn ich der sterblichen Menschen verloren Geschlecht _ tiberrage! (55) | ar daB Wahrheit wohnt in den Worten, die ich ver- kiinde, WeiB ich; doch ist mit Mithe sie nur den Menschen erreichbar, Und es erobert nicht leicht des Glaubens Eifer den Geist sich. (56) Iso lautet ein Schicksalsspruch, ein alter und ew’ ger GotterbeschluB, versiegelt ist er mit machtigen Eiden: Wer von den gottlichen Wesen, begabt mit dauerndem Leben, Sich, vom Hasse verfiihrt, mit des Mordes Vergehen befleckt hat Oder des Meineids Schuld durch falsches Schw6ren sich auflud, DreiBigtausend Jahre muB fern er den Seligen schweifen, Um im Laufe der Zeit der Sterblichkeit bunte Gestalten Anzunehmen im Wechsel miihseliger Pfade des Lebens. Denn sie jagt der Liifte Gewalt zu den Fluten des Meeres Und auf das Festland speit sie das Meer, sie schleudert die Erde Nach den Strahlen der leuchtenden Sonne und diese sie wieder In die Wirbel der Luft: so empfangt die allen VerhaBten Eins vom andern. Auch ich bin jetzt so ein irrender Wandrer, Da ich dem rasenden Hasse vertraut, verbannt von der Gott- heit. (57) 10° 147 Ww" mir, daB nicht zuvor mich ein Tag des Verderbens vernichtet, Eh ich drauf sann, da8 der schreckliche Fra8 mir die Lippen beriihre! (58) us welch herrlicher Fiille der Ehre und Seligkeit stiirzt’ ich So auf die Erde herab und schweife nun unter den Men- schen! (59) Is ich den Ort, mir so ungewohnt, sah, da weint’ ich und klagte. (60) Ty) Hohle Gew6lbe nun war’s, wohin wir gelangten. (61) a, am unseligen Ort, auf der Aue des Unheils, im Diistern Huschen gespenstisch Mord und Groll und Scharen von andern Ungliicksmachten wie hitzige Fieber und eklige Faulnis, Taten der Menschen dazu, im Strom der Verganglichkeit schwin- dend. (62) utter Erde war da und die Sonnenjungfrau mit scharfen Augen, der blutige Streit und mit ernstem Blicke die Ein tracht, Schénheit und HaBlichkeit, Raschheit und Zaudern, und lieb- lich zu schauen Die Wahrhaftigkeit auch, daneben dieschwarze Verwirrung. (63) ema und Siechtum, Wachen und Schlaf, Bewegung und Ruhe, Neben dem Schmutze in Kranzen die Pracht, und Reden und Schweigen. (64) we dir, armes Geschlecht der Sterblichen, jammervoll elend, Das du aus solchem Streit und solchen Seufzern entsprungen! (65) 148 | ae wandelt in Tod die Natur, die Formen vertauschend, Und mit des Fleisches fremdem Gewand umhiillt sie die Seele.17 (66) eax: die Seelen von Menschen in Leiber von Tieren, so] werden Bergbewohnende Lowen am besten sie, ruhend am Boden; Doch von den laubigen Baumen ist fiir sie am sch6nsten der Lorbeer.?® (67) ears schon ward ich geboren als Knabe und Madchen und . war schon Pflanzeund Vogel und stummer Fisch inden Fluten des Meeres. (68) SS werden die Weisen zu Sehern und Sangern und Arzten Oder sie walten als Fiirsten im Kreis der irdischen Menschen. Und aus solchen erwachsen zu Gottern sie herrlich an Ehren, Teilen den Herd und den Tisch der andern Unsterblichen wieder, Frei und ledig von menschlichem Leid, unwandelbar ewig. (69) Ne du, unsterbliche Muse, um irdische Dinge dich kim- merst Und auch unser Bestreben am Herz dir liegt, so erhére Gnadig wieder auch jetzt mein Gebet, o Kolliopeia! Denn von den seligen Géttern will gute Gedanken ich kiinden. (70) ort einst lebte ein Mann von iiberschwanglichem Wissen, Schatze des Geistes besaB er so reich wie der Sterblichen keiner, Er, der gewaltigste Meister in allerlei Werken der Weisheit. Spannte die Kraft, die gesamte, er an des machtigen Geistes, Alsdann schaute er leicht auf zehn und zwanzig Geschlechter 149 Riickwarts alles, was war und geschah, im unendlichen Welt- f all. (71) 4 tha er denn nimmer verhallen, des Mordens gellender MiBton? Seht ihr nicht, wie achtlos ihr selbst einander zerfleischet? (72) + Sohn, den geliebten, der nur die Gestalt hat gewech- selt, Schleppt zum Altar der verblendete Vater, ihn betend zu schlachten ; Noch auf dem Weg fleht dieser den Schlachter**®; doch taub dem Gewimmer Opfert ihn der und riistet zu Haus die schreckliche Mahizeit. Und so ergreift den Vater der Sohn, die Kinder die Mutter, Nehmen einander das Leben und schmausen vom Fleische der Lieben. (73) is ig so werdet ihr denn, verstrickt in die Schlingen der Siinde, Nimmermehr euer Gemiit von schrecklichem Jammer entlasten. (74) altet, Unselige, ganz Unselige, fern euch den Bohnen! (75) tet des Lorbeers Blatter nicht an, der Phébus geweiht ist!*° (76) ligemein gilt das Gesetz, das durch die Fernen des Athers Und des Himmels unendlichen Raum alliiberall waltet. (77) N™ verehrten als Gotter sie Krieg und Schlachtengetiim- mel, Selbst nicht Zeus den K6nig noch Kronos oder Poseidon. K6nigin war die Liebe allein [im goldenen Alter]. Gaben der Frémmigkeit weihte man ihr in Bildern von Tieren, 150 Duftenden, kiinstlich bereiteten Salben und lauteren Myrrhen; Auch des Weihrauchs Wohlgeruch ward ihr gerne entziindet Und man goB8 ihr vom gelblichen Honig Spenden zur Erde. Doch nie ward ein Altar mit dem Blute von Stieren benetzet, Sondern ein Leben zu téten und kraftige Glieder zu essen Galt als der Frevel abscheulichster damals unter den Menschen. (78) ahm war damals alles Getier und den Menschen befreundet, Vogel und Wild im Walde und alles ergliihte in Liebe. (79) mmergriin prangten die Baume im Schmucke der Blatter, das ganze Jahr durch trugen in reiner Luft sie Friichte in Fiille. (80) ie kommt Gott uns so nah, daB wir mit Augen ihn sehen Oder mit Handen greifen ihn kénnten: durch diese Organe Bahnt ja zumeist in der Menschen Herz Uberzeugung den Weg sich. (81) NS hat Gott einen menschlichen Leib, des Zierde das Haupt ist, Auch nicht schwingen vom Riicken sich ihm zweigartig zwei Arme Noch hat er FiiBe noch hurtige Knie noch zeugende Glieder, Sondern heiliger Geist nur, unaussprechlicher ist er, Der mit Gedankenschnelleim Flug das Weltall durchwaltet. (82) ES wer einen Schatz an gdttlichem Geist sich erworben; Elend, wer noch in finsterem Wahn von den Gottern be- fangen. (83) ANAXAGORAS lle Dinge waren beisammen unendlich an Menge und Kleinheit. Denn auch das Kleine geht ins Unendliche. 151 Und so lange sie beisammen waren, war infolge ihrer Klein- heit keines deutlich. Luft und Ather namlich, beide unendlich, hielten alles fest. Denn diese bilden die bedeutendsten Bestand- teile des Alls an Menge und Ausdehnung. (1) ie Worte ,Entstehen‘ und ,Vergehen‘ gebrauchen die Hel- lenen nicht richtig; denn kein Ding entsteht oder vergeht, sondern es setzt sich aus vorhandenen Dingen zusammen oder lést sich in solche auf. Richtigerweise sollte man also statt Ent- stehung ,Zusammensetzung‘ und statt Vergehen ,Auflésung‘ sagen. (2) | Ba und Ather scheiden sich aus der sie umgebenden Masse, und diese ist an Menge unendlich. (3) F° gibt vom Kleinen kein Kleinstes sondern immer noch etwas Kleineres. Denn, was ist, kann unmdglich nicht sein. Aber auch vom Grofen gibt es immer noch etwas Gr6Beres. Und es ist dem Kleinen an Menge gleich; aber fiir sich selbst genommen ist jedes Ding sowohl groB als klein. (4) ie Menge dessen, was sich ausscheidet, konnen wir weder mit der Vernunft berechnen noch aus der Wirklichkeit in Erfahrung bringen. (5) iid der Schwache unserer Sinne vermégen wir nicht zu unterscheiden, was wahrhaft existiert. (6) as Weltall bildet eine Einheit und die Stoffe, woraus es besteht, sind nicht voneinander getrennt oder mit dem Beil abgehauen, weder das Warme vom Kalten noch das Kalte vom Warmen. (7) o geraten denn diese Stoffe in eine Kreisbewegung und schei- den sich aus unter der Wirkung von Kraft und Geschwindig- keit. Die Geschwindigkeit aber ist es, welche die Kraft erzeugt. Ihre Geschwindigkeit gleicht jedoch nicht der Geschwindigkeit 152 irgendeines der jetzt in der Welt vorhandenen Dinge sondern sie ist durchweg vielmal so schnell. (8) fo eels mu8 man annehmen, da8 viele und verschiede- nerlei Stoffe in allen Verbindungen enthalten sind und Keime von allen Dingen, verschieden an Form, Farbe, Geruch und Geschmack; daB ferner auch Menschen und alle sonstigen beseelten Wesen durch solche Verbindungen zustande kom- men; daB diese Menschen bewohnte Stadte und bestellte Fel- der haben wie bei uns und ihnen Sonne und Mond und die andern Gestirne scheinen wie bei uns; daB die Erde ihnen viele und verschiedenerlei Friichte wachsen laBt, wovon sie die niitz- lichsten einheimsen und verbrauchen. Dies habe ich ausgefiihrt in Beziehung auf die Ausscheidung, daB diese nicht nur bei uns stattgefunden haben mag sondern auch anderswo. — Ehe nun die Ausscheidung stattfand, solange noch alles beieinander war, war auch keinerlei Farbe deutlich; denn die Vermengung aller Stoffe, des Feuchten und Trockenen, des Warmen und Kalten, des Hellen und Dunklen, verhinderte es sowie der Um- stand, da8 viel Erde darunter war und unendlich viele Keime, die einander in nichts glichen. Denn auch von den andern Stoffen gleicht keiner dem andern. Demnach mu8 man anneh- men, da8 in dem All alle Dinge enthalten sind. (9) M” muB nun einsehen, daB, nachdem diese Stoffe sich so geschieden haben, die Gesamtmasse weder weniger noch mehr wird (denn es kann unméglich mehr als alles geben), sondern alles sich immer gleich bleibt. (10) a das GroBe und das Kleine eine gleichgroBe Zahl von Teilen hat, so ist auch unter diesem Gesichtspunkt alles in allem enthalten. Und es ist keine Méglichkeit, daB etwas fiir sich gesondert existiere, sondern alles tragt einen Teil von allem in sich. Da es kein Kleinstes geben kann, kann es sich 153 auch nicht absondern noch fiir sich bestehen, sondern, wie es am Anfang war, so ist auch jetzt alles beisammen. In allem aber sind vielerlei Stoffe und zwar in den grdBeren wie in den klei- neren der sich ausscheidenden Dinge gleich viele an Zahl. (11) W* sollte aus etwas, das nicht Haar ist, Haar und Fleisch aus etwas, das nicht Fleisch ist, werden? (12) n allem ist ein Teil von allem enthalten, ausgenommen den Geist; in manchem aber ist auch Geist. (13) ie iibrigen Dinge tragen von allem einen Teil in sich, der Geist aber ist etwas Einfaches,** sein eigener Herr und mit keinem Ding vermischt, sondern er ist einzig und allein fiir sich selbst. Denn ware er nicht fiir sich selbst sondern mit irgend etwas anderem vermischt, so hatte er damit teil an allen Dingen, wofern er namlich mit irgend etwas vermischt ware; denn in allem ist ein Teil von allem enthalten, wie ich schon friiher®® gesagt habe. Jede Beimischung wiirde ihn hin- dern, alle Dinge so zu beherrschen, wie er es tut, da er einzig und allein fiir sich selbst ist. Denn er ist das feinste und reinste von allen Dingen und er hat vollstandige Kenntnis von allem und die gréBte Kraft. Alles was Seele hat, GroBes und Kleines, beherrscht der Geist. Auch iiber die ganze Kreisbewegung ward der Geist Herr, so daB er diese Bewegung ihren Anfang nehmen lie8. Zuerst begann die Kreisbewegung irgendwo im kleinen, dann nahm sie einen grdBeren Umfang an und sie wird noch mehr zunehmen. Und was sich vermengte und son- derte und schied, von all dem hatte der Geist Kenntnis. Alles ordnete der Geist, wie es kiinftig sein sollte, wie es war (was jetzt nicht mehr besteht) und wie es augenblicklich ist, auch diese Kreisbewegung, in der jetzt die Sterne, die Sonne und der Mond begriffen sind sowie Luft und Ather, die sich aus- scheiden. Eben die Kreisbewegung ist es, welche die Aus- 154 scheidung bewirkt. Es scheidet sich vom Diinnen das Dichte, vom Kalten das Warme, vom Dunkeln das Helle und vom Feuchten das Trockene. Da gibt es viele Teile von vielen Stof- fen. Jedoch scheidet oder lést sich kein Stoff ganz vom andern, ausgenommen den Geist. Geist aber, ob gré8er oder kleiner, ist stets von gleicher Art. Dagegen ist sonst kein Ding dem andern gleich sondern jedem Einzelwesen verleihen und ver- liehen die Stoffe, deren es am meisten enthalt, die deutlichsten Kennzeichen. (14) achdem der Geist den Ansto8 zu der Bewegung gegeben hatte, begann die Ausscheidung aus dem in Bewegung gesetzten All und alles, was der Geist in Bewegung gesetzt hatte, das léste sich voneinander. Und wahrend die Stoffe sich bewegten und voneinander lésten, bewirkte die Kreisbewegung, da8 die Loslésung an Starke noch zunahm. (15) er Geist, welcher immer ist, ist wahrhaftig auch jetzt vor- handen da wo auch alles Ubrige ist, in der umgebenden Masse, in den sich daran ansetzenden und in den schon davon ausgeschiedenen Stoffen. (16) as Dichte, Feuchte, Kalte und Dunkle trat da zusammen, wo jetzt die Erde ist, das Diinne, Warme und Trockene aber entwich weit hinaus in den Ather. (17) eae diesen Ausscheidungen bildet sich feste Erde; denn aus den Wolken scheidet sich Wasser aus, aus dem Wasser Erde, aus der Erde aber bilden sich infolge von Kalte feste Steine und diese treten mehr hervor als das Wasser. (18) D* Mond hat sein Licht von der Sonne. (19) hes nennen wir den Abglanz der Sonne in den Wolken. Dieser zeigt schlechtes Wetter an. Denn das die Wolke umstr6mende Wasser verursacht einen Luftzug oder bewirkt Regenfalle. (20) 155 DIOGENES VON APOLLONIA s scheint mir ein unabweisbares Erfordernis jedes wissen- schaftlichen Buches zu sein, daB der Ausgangspunkt des Verfassers unanfechtbar, die Darstellung aber einfach und vor- nehm sei. (1) M* scheint, um es auf einmal zu sagen, alles, was existiert, nichts anderes zu sein als \Wandlungen eines und des- selben Stoffes und somit ein und dasselbe. Und dies springt in die Augen: denn wenn das, was jetzt in diesem Weltall vor- handen ist, Erde und Wasser, Luft und Feuer und alle sonsti- gen Bestandteile dieser Erscheinungswelt, wenn davon irgend etwas anders ware als das andere, anders vermOge seines eigenen Wesens, wenn es nicht vielmehr ein und dasselbe Wesen ware, das sich nur mannigfach verwandelt und verandert, so kénnten die Dinge schlechterdings keine Verbindungen miteinander ein- gehen noch einander gegenseitig niitzen oder schaden, und es k6nnteweder eine Pflanze aus der Erde wachsen, noch ein Lebe- wesen oder sonst etwas entstehen, wenn es nicht so eingerichtet ware, daB alles ein und dasselbe ist. All das geht jedoch durch Ver- wandlung aus einem und demselben Stoffe hervor, wird bald dies bald das und kehrt dann wieder in denselben Stoff zuriick. (2) ee eben dieser Stoff ist ein ewiger und unverganglicher K6rper; von den Einzeldingen aber nehmen die einen ihren Anfang, die andern ihr Ende. (3) as scheint mir klar zu sein, daB dieser Stoff ausgedehnt, stark, ewig, unverganglich und reich an Wissen ist. (4) enn ohne Denkvermégen kénnte unmdglich eine solche Verteilung getroffen sein, daB alles, Winter und Sommer, Tag und Nacht, Regen, Sturm und schénes Wetter, sein MaB hat. Auch das Ubrige wird man, wenn man nur darauf achten will, so sch6n als méglich angeordnet finden. (5) 156 uBerdem liegen auch noch in folgenden Tatsachen starke Beweise: die Menschen und die iibrigen Lebewesen le- ben, indem sie Luft einatmen. Daraus besteht ihre Seele und ihr Denkvermégen, wie in dieser Schrift noch einleuchtend ge- zeigt werden wird; entweicht dieser Stoff, so tritt der Tod ein und das Denkvermégen entschwindet. (6) Le so scheint mir denn: dieser Stoff, welcher Denkver- mdégen besitzt, ist das, was die Menschen die Luft nen- | nen, und er lenkt und beherrscht sie alle. Denn eben dieser Stoff, scheint mir, ist Gott, er gelangt iiberall hin, ordnet alles an und ist in allem enthalten. Es gibt kein einziges Ding, das daran nicht teilhatte. Es hat aber auch kein einziges Ding in ganz gleicher Weise daran teil wie das andere, sondern es gibt viele Grade sowohl bei der Luft selbst als auch beim Denkver- mégen. Denn sie kann mannigfaltige Eigenschaften annehmen: bald ist sie warmer bald kalter, bald trockener bald feuchter, bald ruhiger bald stérker bewegt; und noch viele andere Wand- lungsméglichkeiten tragt sie in sich und unendlich viele Unter- schiede in Geschmack und Farbe. Die Seele aller Lebewesen besteht aus demselben Stoff, namlich aus Luft, die zwar warmer ist als die 4uBere, die uns umgibt, aber viel kiihler als diejenige im Umkreis der Sonne. Ihr Warmegrad ist jedoch bei keinem der Lebewesen, auch nicht bei den Menschen untereinander, ganz derselbe, sondern er ist verschieden, freilich nicht viel son- dern so, da8 sie einander ahnlich sind. Doch kann von den Dingen, die sich verwandeln, keines dem andern ganz gleich werden, ohne daB es vollends dasselbe wird. Da nun die Wand- lungsmOglichkeiten mannigfaltig sind, so sind auch die Lebe- wesen mannigfaltig und vielerlei und weder in ihrem Aus- sehen noch in ihrer Lebensweise noch in ihrem Denkvermégen einander gleich infolge der Menge der Wandlungsmdglich- IE keiten. Und dennoch leben, sehen und héren alle vermittelst desselben Stoffes, und auch das Denkvermégen haben sie alle von ihm. (7) | Sear ist das System der Adern im menschlichen K6r- per. Es gibt zwei Hauptadern. Diese ziehen sich neben dem Riickgrat hin, die eine rechts, die andere links davon durch die Bauchhohle jede nach dem auf ihrer Seite liegenden Schen- kel und aufwarts an den Schliisselbeinen vorbei durch die Kehle in den Kopf. Von diesen aus ziehen sich Adern durch den ganzen K6rper hin, von der Hauptader auf der rechten Seite nach rechts, von der auf der linken nach links, die beiden grdBten in der Nahe des Riickgrats selbst nach dem Herzen, andere ein wenig weiter oben durch die Brust unter der Achsel- hohle hindurch nach der auf der betreffenden Seite befindlichen Hand: die eine nennt man die Milzader, die andere die Leber- ader. Beide spalten sich wieder an ihren Enden: der eine Strang geht in den Daumen, der andere in die Handflache; von da aus ziehen sich feine und vielverdstelte Adern in die iibrige Hand und in die Finger. Von den Hauptadern erstrecken sich ferner andere feinere Adern und zwar von der rechten nach der Leber, von der linken nach der Milz und den Nieren. — Die nach den Schenkeln ziehenden Adern spalten sich an der Stelle, wo diese zusammengewachsen sind, und ziehen durch den ganzen Oberschenkel: die stérkste von diesen Adern lauft nach der hinteren Seite des Oberschenkels und tritt hier dick an die Oberflache, die andere, die etwas weniger dick ist, verlauft nach der Innenseite des Oberschenkels. Weiterhin ziehen sie an dem Knie vorbei nach dem Schienbein und dem FuB wie die obigen nach den Handen; sie erstrecken sich bis zur FuBsohle und verzweigen sich von da in die Zehen. Sie spalten sich aber auch noch in viele feine Adern, die nach der 158 Bauchhohle und den Rippen hin laufen. — Die Adern aber, die durch die Kehle zum Kopf ziehen, treten am Hals stark an die Oberflaiche. Von beiden zweigen an ihrem Endpunkt viele in den Kopf ab und zwar die einen von rechts nach links, die andern von links nach rechts; die Endpunkte beider liegen neben dem Ohre. — Es liegt aber am Hals neben der groBen Ader auf beiden Seiten je noch eine etwas kleinere, in welcher die meisten aus dem Kopf selbst kommenden Adern zusam- menlaufen. Und diese beiden ziehen durch die Kehle nach innen und von jeder von ihnen laufen Aste unter dem Schul- terblatt hindurch und in die Hande. Und neben der Milzader und der Leberader zeigen sich andere, die etwas kleiner sind und in die man beim Aderla8 einen Einschnitt macht, wenn unter der Haut etwas weh tut; ist dies aber im Unterleib der Fall, so macht man es an der Leber- und Milzader. Von diesen ziehen sich wieder andere unter die Briiste. Noch andere feine Adern gehen von jeder der beiden durch das Riickenmark in die Hoden; weitere verlaufen unter der Haut und durch das Fleisch hin zu den Nieren und endigen bei den Mannern in den Hoden, bei den Frauen in der Gebarmutter. Diese heiBen Samenadern. Das dickste Blut saugen die fleischigen Teile auf; wenn es aber dariiber hinaus an diese Stellen gelangt, so wird es diinn, warm und schaumig. (8) PHILOLAOS Iles was existiert mu8 notwendig entweder bestimmt oder unbestimmt oder bestimmt und unbestimmt zugleich sein; aber nur unbestimmt oder nur bestimmt kann es nicht sein. Da nun offenbar was existiert weder aus lauter Bestimm- tem noch aus lauter Unbestimmtem besteht, so ist es also klar, da8 das Weltall und was darin ist aus Bestimmtem und Unbe- 159 stimmtem zusammengesetzt wurde. Dies sieht man auch an den bewirkten Gebilden: denn die einen von ihnen, die aus Bestimmtem bestehen, sind bestimmt, andere, die aus Bestimm- tem und Unbestimmtem bestehen, sind bestimmt und unbe- stimmt zugleich, wieder andere, die aus Unbestimmtem be- stehen, werden offenbar unbestimmt sein. (1) enn alles unbestimmt ware, wiirde es iiberhaupt nichts geben, was man erkennen kénnte. (2) Iles, was man erkennen kann, 146t sich auf eine Zahl zu- riickfiihren; ohne eine solche ist es unmdglich, irgend etwas sich vorzustellen oder zu erkennen. (3) i a der Zahl gibt es zwei besondere Arten, ungerade und gerade, und eine dritte aus beiden gemischte: gerade-un- gerade. Von jeder der beiden Arten gibt es viele Formen, die jedes Ding von selbst andeutet. (4) bY ie den Wirkungen und dem Wesen der Zahl mu8 man eine Anschauung gewinnen aus der Kraft, die der Zehn- zahl innewohnt: denn sie ist eine groBe Macht, sie fiihrt alles zum Ziel, bewirkt alles und ist Ursprung und Leitstern des gottlichen, himmlischen und menschlichen Lebens. Ohne sie aber ist alles unbestimmt, undeutlich und unklar. Denn die Zahl ist ihrer Natur nach fiir jedermann Deuterin, Fihrerin und Lehrerin in allen sonst unzuganglichen und un- erkennbaren Dingen. Denn fiir niemand ware irgend etwas von den Dingen erkennbar, weder an sich noch in ihrem Ver- haltnis zueinander, wenn nicht die Zahl und ihr Wesen ware. Nun aber macht diese, indem sie in der Seele sie der Wahr- nehmung anpaBt, alle Dinge erkennbar und einander entspre- chend gema8 der Natur des WinkelmaBes,?* indem sie ihnen einen K6rper verleiht und die Verhaltnisse der bestimmten und unbestimmten Dinge je fiir sich absondert. 160 Nicht nur in der Geister- und Gdtterwelt sieht man die Na- tur und die Kraft der Zahl ihre Starke betatigen sondern auch iiberall in allen menschlichen Werken und Worten, in allen technischen Arbeiten und in der Musik. Eine Tauschung aber la8t die Natur der Zahl, deren Wesen Harmonie ist, nicht zu; denn das ist ihr nicht eigen. Ist doch Tauschung und Mifgunst Sache der unbestimmten, unverstan- digen und unverniinftigen Natur. Kein Hauch von Tauschung dringt jemals in die Zahl; denn ihrer Natur ist die Tauschung feindselig und verhaBt; die Wahrheit aber ist dem Wesen der Zahl eigen und damit ver- wachsen. (5) armonie ist einheitliche Zusammenfassung einer mannig- faltigen Vielheit und Eintracht in Zwietracht. (6) M" Natur und Harmonie verhalt es sich folgendermaBen: Um das Wesen der Dinge, das ewig ist, und die Natur selbst zu erfassen, bedarf es gottlicher, nicht menschlicher Er- kenntnis, um so mehr als nichts von dem, was existiert, je von uns erkannt werden kénnte, wenn nicht das Wesen der Dinge zugrunde lage, woraus das Weltall sich zusammensetzte, so- wohl der bestimmten als auch der unbestimmten. Da aber die beiden zugrunde liegenden Prinzipien nicht gleichartig oder verwandt waren, so hatte auch jetzt noch unméglich daraus eine Weltordnung sich bilden kénnen, wenn nicht die Har- monie dazugetreten ware, wie nun diese auch entstanden sein mag. Das Gleichartige und Verwandte bedurfte ja der Harmo- nie nicht, aber das Ungleichartige, Heterogene und Disparate bedurfte notwendig des Zusammenschlusses durch die Har- monie, um so in der Weltordnung festgehalten zu werden. Der Umfang der Harmonie (Oktave 1:2) begreift in sich die Quarte (3:4) und Quinte (2:3). Die Quinte ist aber um 11 Vorsokratiker 1 61 einen Ganzton (8:9) gréBer als die Quarte. Denn von der Hypate (E) bis zur Mese (A) ist eine Quarte, von der Mese zur Nete (E) eine Quinte, von der Nete zur Trite (H) eine Quarte, von der Trite (H) zur Hypate (E) eine Quinte. Zwischen Trite (H) und Mese (A) liegt ein Ganzton. Die Quarte aber hat das Verhaltnis 3:4, die Quinte 2:3, die Oktave 1:2. So besteht die Oktave aus fiinf Ganzténen und zwei Halbténen, die Quinte aus drei Ganzténen und einem Halbton, die Quarte aus zwei Ganzt6nen und einem Halbton. ** (7) k™ ist der Anfang von allem. (8) as was sich zuerst zusammenfiigte, die Eins, liegt in der Mitte der Kugel und wird Hestia (Herd) genannt. (9) ie Siebenzahl ist gleich der mutterlosen und jungfraulichen Athene-Nike, ... Denn sie ist Fiihrer und Herrscher fiber alles, einiger, ewiger, beharrlicher und unbeweglicher Gott, sich selbst gleich und von allem andern verschieden.”° (10) ie Welt bildet eine Einheit; der ProzeB ihrer Entstehung begann in der Mitte, und er vollzog sich von der Mitte aus gleichmaBig nach oben wie nach unten. Was oberhalb der Mitte ist, liegt dem, was unterhalb derselben ist, gegeniiber. Denn fiir das Unterste ist die Mitte gewissermaBen das Ober- ste usw. Beide Halften verhalten sich namlich zur Mitte gleich, aufer daB das Verhaltnis das umgekehrte ist. (11) ie Weltkugel besteht aus fiinf KOrpern: diese sind inner- halb der Kugel Feuer, Wasser, Erde, Luft und auBer- dem fiinftens das Gehause der Kugel selbst. (12) s gibt vier Grundbestandteile des verniinftigen Lebewesens: Gehirn, Herz, Nabel und Geschlechtsteil. Das Gehirn ist das Organ des Denkens, das Herz das des Seelenlebens und der Empfindung, der Nabel ist der Sitz der Anwurzlung und 162 des Aufwachsens des ersten Keims, der Geschlechtsteil ist das Organ der Samenabgabe und der Zeugung. Das Gehirn be- deutet das Prinzip des Menschen, das Herz das des Tieres, der Nabel das der Pflanze, der Geschlechtsteil das aller zusammen; denn alle bliihen und gedeihen. (13) F° bezeugen die alten Theologen und Seher, daB die Seele zur Strafe fiir gewisse Vergehen an den K6rper gebunden und in diesen wie in ein Grab gesenkt ist. (14) W/* Menschen befinden uns in einer Art Haft und sind nur ein Teil des Eigentums der Gdtter. (15) s gibt gewisse Bestimmungsgriinde, die starker sind als wir. (16) LEUKIPP (?) Kee Vorgang ist grundlos, sondern alles Geschehen hat seine Ursache und ist notwendig. (1) DEMOKRIT JT ch war noch jung, als Anaxagoras schon ein alter Mann war, 4 und ich verfaBte die ,,Kleine Weltordnung“ 730 Jahre nach der Einnahme von Ilion.”® (1) Jch kam nach Athen und kein Mensch hat mich gekannt. (2) a JTch méchte lieber einen einzigen ursachlichen Zusammen- 4A hang entdecken als K6nig der Perser werden. (3) | Biers sage ich iiber das Weltall. (4) bE? Nichts existiert ebensogut wie das Etwas. (5) IDs Natur besteht aus Atomen, die im leeren Raum umher- geschleudert werden. (6) ue 163 in Wirbel mannigfaltiger Gestalten sonderte sich von dem All ab. (7) ie Tiere tun sich mit gleichartigen Tieren zusammen: so die Tauben mit Tauben, die Kraniche mit Kranichen und die iibrigen Tiere desgleichen. Ebenso ist es aber auch mit den leblosen Dingen, wie man an Samenkérnern, die man durch- siebt, und an den Steinchen bei der Brandung bemerken kann. Denn dort bewirkt die Wirbelbewegung des Siebs eine Schei- dung, so daB sich Linsen zu Linsen, Gerstenk6rner zu Gersten- kérnern, Weizenkérner zu Weizenkérnern ordnen, und hier werden durch den Schwall der Brandung die langlichen Stein- chen zu den langlichen, die runden zu den runden hingetrie- ben, wie wenn die den Dingen eigene Gleichartigkeit eine An- ziehungskraft auf diese ausiiben wiirde. (8) er Mond tritt dem ihn beleuchtenden Gestirn schnurge- rade gegeniiber und nimmt und fangt so das Licht der Sonne auf. (9) ie Erde ist langlich und zwar betragt ihre Lange andert- halbmal so viel als die Breite. (10) W* wir alle kennen, ist der Mensch. (11) ry" Mensch ist eine kleine Welt. (12) FE’ gibt zwei Arten der Erkenntnis: eine echte und eine un- echte. Zur unechten gehdrt die gesamte sinnliche Wahr- nehmung: Gesicht, Gehér, Geruch, Geschmack, Gefiihl; die andere, echte, ist davon zu unterscheiden. Wenn der Gegen- stand der Wahrnehmung zu klein wird, als daB ihn die un- echte Erkenntnis vermittelst des Gesichts, Gehdrs, Geruchs, Geschmacks und Gefiihls noch erfassen kénnte, und man da- her feinere Untersuchungen anstellen mu8, dann tritt die 164 echte Erkenntnis ein, die im Denken ein feineres Organ be- sitzt. (13) us dieser Regel soll der Mensch erkennen, da8 er der Wirklichkeit ferne steht. (14) EL)... Erérterung zeigt, da8B wir in Wirklichkeit tiber nichts etwas wissen sondern daB jedermanns Meinung nur auf den ihm zuflieBenden Vorstellungsbildern beruht. (15) s wird sich zeigen, daB es gar schwierig ist zu erkennen, welche Eigenschaften jedes Ding in Wirklichkeit hat. (16) ir nehmen in Wirklichkeit nichts Untriigliches wahr son- dern bekommen nur Eindriicke, die entsprechend dem jeweiligen Zustand unseres K6rpers und den in ihn eingehen- den und gegen ihn andringenden Vorstellungsbildern wech- seln. (17) Ly wir nicht wahrzunehmen vermdgen, welche Eigen- schaften jedem Ding in Wirklichkeit zukommen oder nicht, habe ich vielfach auseinandergesetzt. (18) n Wirklichkeit wissen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe. (19) ie Begriffe ,farbig‘, ,siiB‘, ,bitter‘ sind lediglich konven- tionell. In Wirklichkeit existieren nur die Atome und der leere Raum. Armer Verstand — so lie} Demokrit die Sinne zur Vernunft sagen —, von uns hast du deine Beweismittel, womit du uns zu Fall bringen willst! Indem du uns niederwirfst, kommst du selbst zu Fall. (20) enn ein Kegel parallel zur Basis durch Ebenen geschnit- ten wird, wie muB man dann die Form der Schnitt- flichen annehmen, gleich oder ungleich? Wenn sie ungleich sind, so werden sie den Kegel ungleichférmig machen, da er dann viele stufenférmige Einschnitte und Unebenheiten be- 105 kommt. Sind sie dagegen gleich, so werden auch die Schnitte gleich sein, und der Kegel wird die Form eines Zylinders er- halten, da er aus gleichen und nicht aus ungleichen Kreisflachen besteht, was ganz widersinnig ist. (21) ie viel kliiger ist doch das Tier als der Mensch:] wenn dieses etwas bedarf, weif es, wie viel es bedarf; der Mensch aber, der etwas bedarf; erkennt das nicht. 7 (22) ie wichtigsten Fertigkeiten haben die Menschen von den Tieren gelernt: von der Spinne das Weben und Flicken, von der Schwalbe den Hausbau und von den Singvégeln, dem Schwan und der Nachtigall, den Gesang auf dem Wege der Nachahmung. (23) ie Musik ist eine jiingere Kunst. Denn sie ist nicht aus der Not hervorgegangen sondern konnte erst bei einem ge- wissen Uberflu8 entstehen. (24) as immer ein Dichter in Begeisterung und unter der Wir- kung heiligen Geistes schreibt, das wird sicherlich schon. (25) N“ weil Homer ein gottbegeisterter Genius war, konnte er den kunstvollen Bau seiner mannigfaltigen Gedichte auffiihren. (26) mmier etwas Sch6nes zu ersinnen ist die Gabe eines gottlichen Geistes. (27) ean Gedanken fassen sie in ihrem Geiste. (28) Ek" Streithahn und Schwatzer ist unfahig das Notwendige zu lernen. (29) as Gerede der Zanker und Wortverdreher soll man auf sich beruhen lassen. (30) inige scharfsinnige Manner erheben die Hande zu dem Raume, wo sich der Stoff befindet, den wir Hellenen heut- 166 zutage Luft nennen, und sagen dazu: alles denkt sich Zeus aus, er weiB, gibt und nimmt alles, und er ist der Konig des Welt- alls, ?” (31) itogeneia heift Athene als Denkkraft. Denn aus dem Den- ken geht dreierlei hervor: richtig denken, richtig reden und zweckmaBig handeln. (32) mbrosia ist nichts anderes als die Diinste, wovon sich die Sonne nahrt. (33) |B) Mutter des Eum4os war die Armut. (34) en Menschen nahen eine Art Schattenbilder, von denen die einen wohltatig, die andern schadlich sind; daher ist zu wiinschen, daB einem gliickbringende Bilder erscheinen. (35) anche Menschen, die von der Aufldésung der sterblichen Natur nichts verstehen, aber iiber ihr béses Leben ein schlechtes Gewissen haben, bringen ihre Lebenszeit in Bangig- keit und Angst elend hin, indem sie allerlei liignerische Fabeln iiber die Zeit nach dem Tode aushecken. (36) enn der Tod den Menschen einmal deutlich vor Augen tritt, so kommt er ihnen unerwartet. Daher gewinnen sie es nicht mehr iiber sich ein Testament zu verfassen sondern sehen sich tiberrascht und glauben sich gendtigt, ihre Geniisse zu verdoppeln. (37) enschen, die den Tod zu fliehen suchen, laufen ihm in den Rachen. (38) N= Toren wollen aus Furcht vor dem Tode alt werden. (39) oren sind die Menschen, denen das Leben vergallt ist und die dennoch leben wollen aus Angst vor dem Hades. (40) 167 ur die Menschen sind der Gottheit lieb, denen unrecht tun zuwider ist. (41) esundheit erbitten sich die Menschen in ihren Gebeten von den Géttern; daB es aber in ihrer eigenen Hand liegt diese zu erhalten, daran denken sie nicht, sondern indem sie durch UnmaBigkeit das Gegenteil davon bewirken, werden sie vermége ihrer Liiste selbst zu Verratern an ihrer Gesund- heit. (42) D* Medizin heilt die Krankheiten des Leibes, die Philo- sophie beseitigt die Leidenschaften der Seele. (43) s ist fiir den Menschen am besten, das Leben so viel wie méglich in Gemiitsruhe und so wenig wie mdéglich in Mi8mut hinzubringen. Dies 1a6t sich erreichen, wenn man seine Lust nicht im Verganglichen sucht. (44) er in Gemiitsruhe leben will, mu8 sich von Vielgeschaf- tigkeit ferne halten sowohl im privaten als auch im Offentlichen Leben, und die Aufgaben, die er sich stellt, diirfen seine natiirliche Kraft und Begabung nicht iibersteigen; viel- mehr muB er so sehr auf sich achtgeben, daB, auch wenn das Gliick ihn begiinstigt und scheinbar aufwarts fiihrt, er sich nicht darum kiimmere und nicht etwas angreife, das iiber seine Kraft geht. Denn sicherer fahrt wer sein Haus im Stande halt als wer ein groBes Haus macht. (45) er sich der Gemiitsruhe erfreut, wird von selbst geneigt sein nach Recht und Gesetz zu handeln; im Wachen und Schlafen ist er frohlich, stark und sorglos. Wer sich aber iiber das Recht hinwegsetzt und seine Pflichten nicht erfiillt, fiir den wird all das beim bloBen Gedanken daran eine Quelle des Argers, der Angst und der Selbstanklage. (46) emiitsruhe wird den Menschen zuteil durch Mafhalten im GenuB und harmonische Lebensfiihrung. Mangel 168 und Uberflu8 dagegen pflegen umzuschlagen und die Seele in groBe Aufregung zu versetzen. Seelen, die sich in schroffen Gegensdtzen bewegen, bewahren weder das Gleichgewicht noch die Gemiitsruhe. Auf das Mégliche mu8 man seinen Sinn richten und mit dem Vorhandenen sich begniigen. Den Leuten, die die Welt beneidet und anstaunt, schenke wenig Beachtung und verweile mit deinen Gedanken nicht bei ihnen; dagegen betrachte das Leben der Elenden und stelle dir lebhaft vor, was sie durchzumachen haben, damit dir deine Lage und dein Besitz groB und beneidenswert erscheine und du nicht Gefahr laufest, dadurch daB du noch mehr begehrst, an deiner Seele Schaden zu nehmen. Denn wer die Besitzenden, die von den andern Leuten gliicklich gepriesen werden, anstaunt und jeden Augenblick mit seinen Gedanken bei ihnen verweilt, den treibt es, immer etwas Neues anzufangen und sich auf etwas anderes zu werfen in seiner Begehrlichkeit, bis es so weit kommt, da8 er eine gesetzwidrige Handlung begeht, die nicht mehr gutzumachen ist. Deshalb soll man nach dem Ejinen nicht trachten und bei dem Andern sich beruhigen, indem man das eigene Leben mit dem solcher Menschen vergleicht, denen es schlechter geht, und sich selbst gliicklich preist im Gedanken daran, was jene durchzumachen haben und um wie viel besser man es selber hat und sich befindet als sie. In solcher Gesinnung wirst du dein Leben in gréBerer Gemiits- ruhe fiihren und nicht wenige verderbliche Leidenschaften im Leben von dir fernhalten: Neid, Eifersucht und HaB. (47) ie Frucht der Gerechtigkeit ist Sicherheit des Urteils und Gefeitsein gegen Einschiichterung, das Ende der Unge- rechtigkeit aber Angst vor Ungliick. (48) eisheit, die sich nicht einschiichtern 1a4Bt, ist das aller- wertvollste Gut und héchster Ehre wiirdig. (49) 169 ie Menschen haben sich ein Phantasiebild des Zufalls zu- rechtgemacht als Deckmantel ihrer eigenen Unent- schlossenheit. Denn der Zufall gerat nur selten mit der Uber- legung in Streit; meistens vermag verstandiger Scharfblick die Schwierigkeiten des Lebens ins reine zu bringen. (50) en Menschen erwachst nur dann aus Gutem Schlimmes, wenn man das Gute nicht zu lenken und nicht recht zu tragen weiB. Man darf aber solche Falle nicht zum Schlimmen rechnen sondern zum Guten. Und das Gute kann man, wenn man will, zum Schutz gegen das Schlimme beniitzen. (51) enau von denselben Dingen, durch die uns Gutes zuteil wird, kénnen wir uns auch Schlimmes zuziehen; aber wir kénnen das Schlimme uns fernhalten. Tiefes Wasser z. B. ist zu vielem niitzlich, aber auch wieder schadlich: denn es be- steht die Gefahr darin zu ertrinken. Dagegen hat man nun ein Mittel erfunden: Schwimmenlernen. (52) D* Gétter geben den Menschen alles Gute wie vor alters so auch jetzt, nur das Schlimme, Schadliche und Un- niitze nicht. Das aber haben die Gdtter weder vor alters noch jetzt den Menschen verliehen, sondern sie selbst geraten darein infolge der Verblendung ihres Geistes und ihres Un- verstandes. (53) er Zufall schenkt groBe, aber unsichere Giiter; die Natur dagegen ist sich selbst genug. Deshalb tibertrifft sie mit ihren kleineren aber sicheren Gaben die Hoffnung mit ihren grdBeren Aussichten. (54) en Menschen ziemt es, auf die Seele mehr Riicksicht zu nehmen als auf den Leib; denn die Vollkommenheit der Seele kann die Gebrechlichkeit des Leibes erganzen, K6rper- kraft aber ohne Geist macht die Seele in keiner Hinsicht besser. (55) 170 er die geistigen Giiter bevorzugt, bevorzugt damit das Gdttliche, wer die materiellen, das Menschliche. (56) enn der Leib die Seele verklagen kénnte wegen der Schmerzen und Mi8handlungen, die er das ganze Leben hindurch von ihr erlitten hat, und er selbst Richter tiber diese Klage ware, so wiirde es ihm Freude machen, die Seele zu ver- urteilen, weil sie den Leib teils durch Vernachlassigung zu- grunde richtete und durch Trunkenheit entkrdaftete teils durch Liisternheit verdarb und zerriittete, wie man fiir den schlechten Zustand eines Werkzeugs oder Gerates den Beniitzer wegen dessen schonungsloser Behandlung zur Rechenschaft zieht. (57) tar des Leibes ist etwas Tierisches, wenn sie nicht Ausdruck des Geistes ist. (58) ei den Tieren zeigt sich das edle Blut in der Vollkommen- heit ihres K6rperbaus, bei den Menschen in der Gedie- genheit ihres Charakters. (59) ust und Unlust bilden die Grenze zwischen dem Zutrag- lichen und Unzutraglichen. (60) er sein Vergniigen in der Sinnlichkeit sucht und im Essen und Trinken oder im LiebesgenuB iiber die Schnur haut, der hat stets nur einen kleinen und kurzen GenuB, solange er gerade i8t oder trinkt, aber viele und lang dauernde Unannehmlichkeiten. Denn in solchen Leuten ist die Begierde nach den gleichen Vergniigungen unaufh6rlich rege und, wenn ihnen zuteil wird was sie begehren, geht der Genuf rasch voriiber, der nicht nachhaltig ist sondern nur in einem augen- blicklichen Lustgefiih! besteht, und dann verspiiren sie wieder dasselbe Bediirfnis. (61) WV Jenn man das Ma8 iiberschreitet, so wird die groBte Lust zur gr6Bten Unlust. (62) 171 eas und Ungliick tragt man im Herzen. (63) er Geist soll sich gew6hnen seine Freuden aus sich selbst zu schépfen. (64) eder Gesundheit noch Geld macht den Menschen gliick- lich, sondern rechtschaffene Gesinnung und vielseitige Begabung. (65) eftiges Streben nach Einem Ziel macht die Seele fiir anderes blind. (66) as der Leib bedarf kann jedermann leicht ohne Miihe und Not bekommen; was aber Miihe und Not kostet und das Leben kummervoll macht, danach sehnt sich nicht der Leib sondern ein falscher Trieb des Willens. (67) We gieneh die nicht gesattigt werden kann, ist viel schlim- mer als die 4uferste Armut; denn mit den Begierden wachsen die Bediirfnisse. (68) D* Begierde nach mehr verliert das vorhandene Gut und gleicht dem Hund in der Asopischen Fabel.?* (69) Ho auf unrechten Gewinn ist der Anfang des Ver- lustes. (70) os eae Gewinn macht die Ehrenhaftigkeit zunichte. (71) 2 aw Reichtum, der durch schlimme Machenschaften er- worben ist, haftet ein allzu sichtbarer Makel an. (72) lir die Kinder zu viel Geld zusammenzusparen ist nur ein Vorwand der Habsucht, die damit ihren eigenen Charakter ausweist. (73) arge Leute haben das Geschick der Biene: sie arbeiten, wie wenn sie ewig leben wiirden. (74) D* Kinder karger Leute gleichen, wenn sie ungebildet sind, den Tanzern, die zwischen Schwertern ihre Spriinge 172 machen. Wenn diese beim Herabspringen die Eine Stelle verfehlen, wo sie den Fuf aufsetzen miissen, so sind sie verloren; es ist aber schwer diese Eine zu treffen, da nur ein Fleckchen fiir die FiiBe frei bleibt. So ist es auch bei jenen: wenn sie nicht in die sorgliche und karge Art des Vaters einschlagen, so gehen sie gewOhnlich zugrunde. (75) argheit und Hungerleiderei ist ja ganz brav, im rechten Augenblick aber auch Aufwand. Zu erkennen, was not tut, ist die Aufgabe eines tiichtigen Menschen. (76) ede Art von Arbeit ist angenehmer als Ruhe, wenn man den Zweck der Arbeit erreicht oder weiB, daB man ihn er- reichen wird. Bei jedem Miferfolg aber ist alle Arbeit gleich lastig und mithselig. (77) reiwillige Arbeit macht das Ertragen unfreiwilliger Arbeit leichter. (78) i pesos Arbeit wird durch die Gew6hnung daran immer leichter. (79) icht aus Furcht sondern aus Pflichtgefiihl soll man das Bése unterlassen. (80) n der Erziehung zur Tugend wird man sichtlich mehr ausrich- ten durch Ermahnung und iiberzeugende Worte als durch Gesetz und Zwang. Denn es ist wahrscheinlich, daB, wer nur vom Gesetz am Unrechttun verhindert wird, heimlich sich ver- geht. Wer aber durch Uberzeugung zur Pflicht gefiihrt wurde, bei dem ist es nicht wahrscheinlich, daB er offen oder geheim einen Fehltritt begehe. Wer daher auf Grund von Verstandnis und Erkenntnis recht handelt, ist mannhaft und ehrlich zu- gleich. (81) Bae des Bésen ist die Unkenntnis des Besseren. (82) 173 echt tun heiBt seine Pflicht erfiillen, unrecht tun sie nicht erfiillen sondern sich daran vorbeidriicken. (83) ngs Kummer, iiber den die gelahmte Seele nicht Herr wird, verscheuche durch verniinftige Uberlegung. (84) 2 en du dein Inneres Offnest, wirst du dort eine Vorrats- und Schatzkammer voll von vielerlei schlimmen Lei- denschaften finden. (85) 5, So seine eigenen Fehler vergiBt, wird frech. (86) R" unsittliches Leben ist ein langes Sterben. (87) ee iiber bése Taten ist Lebensrettung. (88) W" Boses tut, sollte sich vor allem vor sich selbst schamen. (89) fa bases wenn du allein bist, sage oder tue nichts Schlechtes, sondern lerne mehr als vor andern dich vor dir selbst schamen. (90) an soll sich vor sich selbst ebenso scheuen wie vor andern Menschen und ebensowenig etwas Béses tun, wenn es niemand als wenn es die ganze Welt erfahrt; vielmehr soll man sich vor sich selbst am meisten scheuen und der Seele das Gesetz auferlegen, niemals etwas Unziemliches zu tun, (91) c und Wahr ist fiir alle Menschen dasselbe; dagegen angenehm ist dem einen dies, dem andern jenes. (92) be ge viel sondern wahr soll man reden. (93) D* Wahrheit mu8 man sagen; das ist immer das beste. (94) 174 N= und Erziehung sind verwandt. Denn die Erziehung wandelt den Menschen um; indem sie ihn aber umwan- delt, schafft sie eine neue Natur. (95) s werden mehr Leute durch Schulung als durch natiirliche Begabung tiichtig. (96) M” kann es weder in einer Kunst noch in einer Wissen- schaft zu etwas bringen ohne daB man lernt. (97) dle Giiter erarbeitet man sich nur durch anstrengendes Lernen, gemeine aber erntet man von selbst ohne An- strengung. (98), E° gibt ja wohl auch Verstand bei der Jugend und Unver- stand beim Alter; denn nicht die Zeit lehrt Besonnenheit sondern friih einsetzende Unterweisung in Verbindung mit natiirlicher Begabung. (99) i hoe man die Knaben nicht zu geordneter Arbeit anhalt, so werden sie weder Lesen und Schreiben lernen noch Musik noch Turnen noch, worauf am meisten die Tiichtigkeit beruht, Achtung vor andern. Denn gerade aus solcher Ge- wohnung pflegt die Achtung hervorzugehen. (100) in geordneter Charakter halt auch Ordnung in seinem Leben. (101) Ee Leichtsinn ist das Allerschlimmste, wozu man die Ju- gend erziehen kann. Denn er ist es, der diese Ge- nuBsucht hervorbringt, die dann zur Liederlichkeit fiihrt. (102) es Vaters sittliche Lebensfiihrung ist fiir die Kinder die eindriicklichste Lehre. (103) |e aheteas con Umgang mit schlechten Menschen verstarkt die Anlage zur Lasterhaftigkeit. (104) i: Wort ist der Schatten der Tat. (105) 175 ut sein hei8t nicht nur kein Unrecht tun sondern auch keines tun wollen. (106) gendhafter Taten und Handlungen, nicht tugendhafter Worte soll man sich bestreben. (107) sch und scheinheilig sind die Menschen, die alles nur mit Worten und nichts mit der Tat ausrichten. (108) 1 han Menschen haben nichts von Vernunftwahrheiten ge- lernt und leben trotzdem verniinftig; andere dagegen be- gehen die schandlichsten Handlungen und fiihren dabei die schénsten Vernunftwahrheiten im Munde. (109) s ist eine berechtigte Liebe, harmlos nach dem Schénen zu trachten. (110) N® jeder Lust sondern nur der Lust am Schénen soll man sich hingeben. (111) D* groBen Freuden entspringen aus der Betrachtung sché- ner Werke. (112) in Leben ohne Feste ist wie eine lange Wanderung ohne Einkehr. (113) Sean Gesinnung erzeugt Freundschaft. (114) N“ alle unsere Verwandten sind unsere Freunde, sondern nur diejenigen, die in ihren Zwecken mit uns harmo- nieren. (115) Ag die man dafiir halt, sind nicht unsere Freunde und viele, die man nicht dafiir halt, sind es. (116) M* Einem verstandigen Mann befreundet sein ist besser als mit allen Toren zusammen. (117) er auch nicht Einen guten Freund besitzt, ist nicht wert zu leben. (118) em erprobte Freunde nicht lange Zeit treu bleiben, der hat einen schlechten Charakter. (119) 176 cians Wesen paBt nicht zur Freundschaft. (120) er niemand Liebe erweist, kann, wie mir scheint, auch bei niemand Liebe finden. (121) m Gliick einen Freund zu finden ist leicht, im Ungliick aber das Allerschwierigste. (122) iele Leute weichen ihren Freunden aus, wenn diese aus Wohlstand in Armut geraten sind. (123) E* Schmuck des Weibes ist es wenig zu reden; sch6n ist an ihr aber auch Sparsamkeit im Schmucke. (124) as Weib soll nicht das Wort fiihren; denn das ist eine bése Sache. (125) FE gibt Frauen, die sind wie] Bilder hiibsch anzusehen in ihren Kleidern und ihrem Schmuck, aber sie haben kein Herz. *® (126) bD* Weib ist zur Bosheit viel mehr geneigt als der Mann. (127) on einem Weibe sich beherrschen zu lassen ist fiir einen Mann der gréBte Schimpf. (128) pfer ist nicht nur wer seine Feinde sondern auch wer seine eigenen Liiste iiberwindet. Es gibt aber Leute, die Staaten beherrschen und dabei Sklaven von Weibern sind. (129) ie Erzeugung von Kindern scheint den Menschen ein Na- turgesetz und unumginglicher alter Brauch zu sein und offenbar auch den andern Lebewesen. Denn alle erzeugen, dem natiirlichen Triebe folgend, Junge, ohne selbst irgendeinen Nutzen davon zu haben. Im Gegenteil: wenn sie geboren sind, haben sie alle Not mit ihnen und ziehen sie auf, so gut sie kénnen, und angstigen sich um sie, solange sie noch klein sind, und wenn ihnen etwas zust68t, so sind sie bekiimmert. 12 Vorsokratiker 1 TF Dies ist das natiirliche Gebaren aller beseelten Wesen. Bei den Menschen im besondern aber ist die Meinung herrschend ge- worden, Nachkommenschaft bringe irgendwelchen Segen. (130) M* scheint es nicht geboten Kinder zu erzeugen; denn ich sehe im Besitz von Kindern viele und schwere Gefahren, viel Kummer und wenig Erfolg und dies Wenige in diirftigem und geringem MaB. (131) m das Aufziehen von Kindern ist es eine gewagte Sache: gelingt es, so ist es doch ein Tun voll Kampf und Sorge; miBlingt es aber, so ist es ein Leid, an das kein anderes heran- reicht. (132) er es aus irgendeinem Grund fiir geboten halt, sich ein Kind zu verschaffen, der fahrt meines Erachtens besser, wenn er eines aus seinem Freundeskreise adoptiert. Dann wird er ein Kind bekommen, wie es seinen Wiinschen entspricht; denn er kann es sich nach Belieben auswahlen. Das Kind, das ihm geeignet erscheint, wird ihm dann auch wohl gemaB seinen natiirlichen Anlagen am ehesten folgen. Und das ist insofern ein groBer Unterschied, als man hier ein Kind aus vielen nach Wunsch auswahlen kann, wie man es bedarf. Wenn man aber selbst eines erzeugt,so laufen dabei viele Gefahren mit unter; denn man muB sich eben bei dem bescheiden, das einem ge- boren wird. (133) M” kann die Kinder erziehen, ohne viel vom eigenen Be- sitz aufzuwenden, und ihr Vermégen und ihre Person mit einer schiitzenden Mauer umgeben. (134) St als méglich sollte man sein Geld unter seine Kinder verteilen und zugleich dafiir Sorge tragen, daB sie es nicht zu ihrem Schaden verwenden, wenn sie es in der Hand haben. Denn sie werden dann viel sparsamer mit dem Geld umgehen, 178 mehr Lust bekommen, selbst solches zu erwerben, und hierin miteinander wetteifern. Denn wenn die Kasse gemeinsam ist, tun die Ausgaben nicht so weh wie aus der eigenen, und der Gewinn macht nicht ebenso viel Freude, sondern viel weniger. (135) LJ Gesetze wiirden niemanden hindern, nach seinem eige- nen Gutdiinken zu leben, wenn nicht einer dem andern schaden wiirde. Der Neid ist der Vater des Biirgerzwistes. (136) as Gesetz mochte ein Wohltater des Menschenlebens sein, und es vermag dies, wenn die Menschen selbst wollen, daB es ihnen wohl gehe; denn wer ihm gehorcht, erfahrt seine segensreiche Wirkung. (137) intracht ist die Voraussetzung fiir alle groBen Unterneh- mungen, auch fiir die Kampfe der Staaten, die nur so durchgefiihrt werden k6nnen, anders nicht. (138) AN die Besitzenden sich entschlieBen, den Besitzlosen zu borgen, sie zu unterstiitzen und ihnen wohlzutun, so bedeutet dies, daB sie Mitleid mit ihnen haben, daB jene nicht verlassen sind und diese ihre Genossen sein wollen, daB man einander hilft und die Biirger eintrachtig sind und noch sonst so viel Gutes, wie niemand aussprechen kann. (139) in Wohltater ist nicht, wer auf Vergeltung wartet, sondern wer einfach wohlzutun sich vornimmt. (140) Bae ist fiir beide Parteien ein Ungliick; denn Sieger und Besiegte haben davon den gleichen Schaden. (141) as Wohl des Staats und seine zweckmaBige Verwaltung mu8 man im Vergleich mit den sonstigen Angelegen- heiten als das Wichtigste betrachten. Man darf sich nicht durch Streitsucht mit der Gerechtigkeit in Widerspruch setzen noch im Widerspruch mit der allgemeinen Wohlfahrt sich pers6n- 12° 179 liche Macht beilegen. Denn ein wohl regiertes Staatswesen ist die beste Biirgschaft des Gedeihens, und darin ist alles andere enthalten. Bleibt dies imstande, so bleibt alles imstande, geht dies zugrund, so geht alles zugrund. (142) ie Politik ist die gréBte Kunst. Es lohnt sich sie zu stu- dieren und sich politischer Arbeit zu widmen, die dem Menschenleben Gr6é8e und Glanz verleiht. (143) F* die rechtschaffenen Biirger ist es nachteilig, wenn sie ihre Privatangelegenheiten vernachlassigen und andere Geschafte besorgen; denn das ware schlimm fiir ihr eigenen. Beteiligt sich aber jemand nicht am 6ffentlichen Leben, so kommt er in schlimmen Ruf, auch wenn er weder stiehlt noch sonst unrecht tut. Denn auch wenn man nicht lassig ist und kein Unrecht tut, lauft man Gefahr, in schlechten Ruf und in Widerwartigkeiten zu kommen. Da8 man Fehler macht, laBt sich ja nicht vermeiden; aber die Menschen verzeihen einem das nicht leicht. (144) e unwiirdiger die schlechten Biirger der Ehrenamter sind, die sie bekleiden, desto gleichgiiltiger werden sie und desto mehr schwillt ihnen der Kamm in ihrem Unverstand und ihrer Dreistigkeit. (145) Bi Uberlegene ist der geborene Herrscher. (146) Ty" Gesetz, der Obrigkeit und geistiger Uberlegenheit sich unterzuordnen, erfordert der Anstand. (147) | zen minderwertigen Menschen untergeben zu sein ist schwer. (148) lir unverstandige Menschen ist es besser, wenn sie gehor- chen miissen als wenn sie befehlen diirfen. (149) er etwas getan hat, das Verbannung, Gefangnis oder eine Geldstrafe verdient, mu8 verurteilt und darf nicht frei- 180 gesprochen werden. Wer aber einen solchen, nach personlichem Vorteil oder Neigung entscheidend, wider das Gesetz frei- spricht, macht sich eines Vergehens schuldig, und das muB8 ihm zu Herzen gehen. (150) erechtigkeit und Tiichtigkeit wahrt der Mann am besten, der die gré8ten Auszeichnungen den Persdénlichkeiten zuerkennt, die sie am meisten verdienen. (151) | iene behalten die Menschen besser im Gediachtnis als das, was recht gemacht wurde, und das ist ganz gut so: denn wie nicht Lob verdient wer anvertrautes Geld zuriickgibt, son- dern Verlust seiner Ehre und Strafe wer das nicht tut, so ist es auch bei dem Beamten. Denn er wurde nicht dazu gewahlt, um schlecht, sondern um gut zu amten. (152) B* der jetzt bestehenden Verfassung gibt es kein Mittel, zu verhindern, daB den Beamten, auch wenn sie durchaus tiichtig sind, unrecht geschieht. Denn es ist beispiellos, daB der Beamte wieder unter die Gewalt anderer Leute kommt. Man sollte zur Abhilfe dieses Ubelstands die Anordnung treffen, daB der Beamte, der sich keine Verfehlung zuschulden kom- men la8t, wenn er auch gegen Leute, die sich vergangen haben, eine scharfe Untersuchung fiihrt, nicht wieder unter diese zu stehen komme; sondern irgendeine Gesetzesbestimmung oder sonst eine MaBregel sollte den gerecht verfahrenden Beamten hievor schiitzen. (153) D* Armut in einer Demokratie ist dem in Monarchien an- geblich herrschenden Wohlstand ebensoviel vorzuziehen wie die Freiheit der Sklaverei. (154) M* dem T6ten oder Nichttéten mancher Tiere verhalt es sich folgendermaBen: straflos bleibt wer solche tétet, die Schaden anrichten oder es wollen; und dies zu tun entspricht sogar mehr derallgemeinen W ohlfahrtalseszu unterlassen. (155) 181 as rechtswidrigen Schaden anrichtet, mu8 man unter allen Umstinden téten. Wer das tut, wahrt in jeder Verfas- sung Gemiitsruhe, Recht, Zuversicht und Eigentum mehr [als wer es unterlaBt]. *° (156) ie man gegen schadliche Raubtiere und Schlangen Ge- setzesbestimmungen erlassen hat, so, meine ich, sollte man es auch in betreff der Menschen machen: in jeder Ver- fassung sollte es erlaubt sein, gema8 den Gesetzen der Vater einen Staatsfeind zu téten, wofern es nicht ein Gesetz (aus- driicklich) verbietet. Nun aber verbieten solche Tétung da und dort Heiligtiimer des Landes, Vertrage und Eide. (157) er einen StraBen- oder Seerauber tétet, sollte straflos blei- ben, ob er es nun mit eigener Hand tut oder den Be- fehl dazu gibt oder eine Abstimmung dariiber herbeifiihrt. (158) euten, denen unrecht geschieht, mu8 man nach Kraften helfen und es nicht dabei bewenden lassen; denn das eine ist recht und gut, das andere unrecht und bdése. (159) Is Menschen steht es uns an, menschliches Ungliick nicht zu verlachen sondern zu beklagen. (160) er Weise soll sich nicht dem Zwang der Sitte fiigen, son- dern ein unabhangiges Leben fiihren. (161) em weisen Manne steht jedes Land offen; denn die Hei- mat einer edlen Seele ist die ganze Welt. ** (162) 182 DIE SOPHISTEN PROTAGORAS jeg Be Maf8stab fiir alle Dinge bildet der Mensch, wofern sie sind, dafiir daB sie sind, und wofern sie nicht sind, da- fiir daB sie nicht sind. (1) on jeder Sache gibt es zwei einander widersprechende Auffassungen. (2) ie Redekunst kann] die minder zutreffende Auffassung als die stichhaltigere hinstellen.*? (3) ie sinnlich wahrnehmbaren Linien sind nicht von dersel- ben Art wie diejenigen, von denen der Geometer redet. Es ist namlich nichts sinnlich Wahrnehmbares in dieser Weise gerade oder rund. Denn der Kreis beriihrt das Richtscheit nicht nur an Einem Punkte.** (4) Ne den Gdttern weiB ich nichts, weder daB es solche gibt noch daB es keine gibt. Denn viele Hindernisse versper- ren uns diese Erkenntnis: die Unklarheit der Sache und die Kiirze des menschlichen Lebens. (5) er Unterricht hat natiirliche Begabung und Ubung zur Voraussetzung. Man mu8 mit dem Lernen in der Jugend anfangen. (6) FE gibt weder eine Technik ohne Studium noch ein Studium ohne Technik. (7) icht sproBt Bildung in der Seele, wenn man nicht zu groBer Tiefe kommt. (8) Is dem Perikles seine trefflichen jugendlichen Sdéhne beide in einer Woche wegstarben, ertrug er es ohne Trauer. Er behielt die Heiterkeit seines Gemiits, die ihm jeden Tag sehr zu- traglich war fiir sein Wohlbefinden, seine Freiheit von Kummer 183 und sein Ansehen bei der Menge. Denn wer sah, wie er sein Leid starken Herzens trug, muBte im BewuBtsein der eigenen Hilflosigkeit in solcher Lage die Uberzeugung gewinnen, da8 er hochsinnig und mannhaft und ihm iiberlegen sei. (9) s war einmal eine Zeit, da es zwar Gotter gab, die Gattungen der lebenden Wesen jedoch noch nicht existierten. Als aber auch fiir diese die vom Schicksal bestimmte Zeit ihrer Ent- stehung gekommen war, da bildeten sie die Gétter im Innern der Erde aus einer Mischung von Erde und Feuer und den Stoffen, die sich mit Feuer und Erde verbinden. Als sie die- selben nun ans Licht fiihren wollten, trugen sie dem Prometheus und Epimetheus auf, sie auszustatten und den Einzelnen ihre Fahigkeiten zuzuteilen, wie es sich gebiihrt. Epimetheus aber bat den Prometheus, diese selbst austeilen zu diirfen. ,,.Wenn ich sie dann ausgeteilt habe,“ sagte er, ,,so sieh’ nach!“ Dieser gab seine Einwilligung, und Epimetheus teilte die verschiedenen Fahigkeiten aus. Dabei verlieh er den einen Geschdpfen Starke, aber keine Schnelligkeit, die schwacheren dagegen stattete er mit Schnelligkeit aus; die einen riistete er mit Waffen aus, fiir die anderen, deren Natur er wehrlos gemacht hatte, ersann er sonst ein Mittel sich zu erhalten. Den Tieren, denen er eine kleine Gestalt geliehen hatte, teilte er Fliigel zu, damit sie sich fliichten kénnen, oder eine unterirdische Behausung; denjenigen aber, die er durch GréBe bevorzugt hatte, gab er eben in dieser Eigenschaft das Mittel sich zu erhalten. So suchte er auch sonst bei der Verteilung eine Ausgleichung herbeizufiihren. Diese MaBregeln traf er in der Absicht, die ganzliche Vertilgung irgendeiner Art zu verhiiten. Nachdem er die Gefahr gegen- seitiger Ausrottung bei ihnen beseitigt hatte, gewahrte er ihnen Schutzmittel gegen die Witterung der Jahreszeiten, indem er sie mit dichten Haaren und dicken Fellen bekleidete, die ge- 184 eignet waren, die Kalte von ihnen abzuwehren, aber auch imstande, die Hitze von ihnen abzuhalten, und die zugleich jedem als seine eigene und natiirliche Decke dienen sollten, wenn sie ihr Lager aufsuchten. Auch versah er an den FiiBen die einen mit Hufen, die andern mit harten, blutlosen Hauten. Ferner beschaffte er fiir jede Gattung wieder eine andere Art von Nahrung: fiir die eine Gras auf dem Felde, fiir die andere Friichte auf den Baumen, fiir eine dritte Wurzeln; einigen wies er aber auch das Verzehren anderer Tiere als Nahrung an. Die einen richtete er so ein, daB sie nur wenige Junge zur Welt bringen, die andern, die von diesen gefressen werden, so, daB sie zahlreiche Junge bekommen, wodurch er die Erhaltung der Gattung sicherte. Da nun aber Epimetheus nicht eben sehr klug war, so merkte er nicht, da8 er alle Fahigkeiten aufgebraucht hatte, wahrend doch die Gattung des Menschen noch nicht ausge- stattet war, und er wuBte nicht, was er damit anfangen sollte. In dieser Verlegenheit traf ihn Prometheus, der kam, um nach der Austeilung zu sehen, und fand die iibrigen Geschdpfe mit allem versorgt, den Menschen aber noch nackt und bloB, ohne Schuhe, ohne Lager, ohne jeglichen Schutz. Schon aber war der be- stimmte Tag angebrochen, an dem auch der Mensch aus der Erde ans Licht treten sollte. Ratlos, welches Mittel man fiir die Erhaltung des Menschen erfinden kénnte, stahl Prometheus die Kunstfertigkeit des Hephastos und der Athene samt dem Feuer — denn ohne Feuer konnte man sie sich unmdglich an- eignen und sie nutzbar machen — und schenkte beides dem Menschen. So hatte nun der Mensch die fiir seinen Lebens- unterhalt notwendige Kunstfertigkeit bekommen; die gesell- schaftliche Organisation aber besaB er noch nicht. Denn diese war noch bei Zeus, und es war dem Prometheus nicht mehr 185 méglich gewesen, in die Burg, die Zeus bewohnte, hinein- zugelangen. Denn dort standen die schrecklichen Wachen des Zeus. In die gemeinsame W ohnung der Athene und des Hepha- stos aber, wo sie beide mit Liebe ihre Kunst betrieben, gelangte er unbemerkt, entwendete die mit dem Feuer arbeitende Kunst des Hephastos sowie die andere der Athene und verlieh sie dem Menschen. Infolgedessen gewann nun der Mensch die Még- lichkeit, sein Leben vorteilhafter einzurichten ; den Prometheus aber ereilte, wie es heiBt, spater die Strafe fiir seinen Diebstahl. Nachdem der Mensch am gdttlichen Eigentum teilbekommen hatte, kam er fiirs erste allein von allen lebenden Wesen auf den Glauben an Gotter und begann Altare und Gotterbilder zu errichten; alsdann brachte er vermOge seiner Kunstfertigkeit bald die artikulierte Sprache und W6rter hervor und erfand Hauser, Kleider, Schuhe, Betten und die Herstellung seiner Nahrung aus den Erzeugnissen des Bodens. So ausgeriistet wohnten die Menschen anfangs zerstreut und hatten noch keine Stadte. Sie wurden daher die Beute der wilden Tiere, weil sie durchweg schwacher als diese waren. Die handwerksmaBige Kunstfertigkeit geniigte ihnen wohl zur Beschaffung ihrer Nah- rung, zum Kampf gegen die wilden Tiere aber reichte sie nicht aus; denn noch kannten sie nicht die gesellschaftliche Organi- sation, von der die Kriegskunst ein Bestandteil ist. Sie suchten sich nun zu vereinigen und sich durch Griindung von Stadten zu erhalten. Wenn sie sich aber vereinigten, fiigten sie allemal einander Unrecht zu, da sie noch keine gesellschaftliche Or- ganisation hatten, so daB sie sich abermals zerstreuten und dem Untergang entgegengingen. In der Befiirchtung, unsere Gattung méchte ganz zugrunde gehen, sandte nun Zeus den Hermes, der den Menschen das sittliche BewuBtsein und das Rechts- gefiihl brachte, damit geordnete Gemeinwesen entstiinden und 186 Bande der Freundschaft sie verkniipften. Hermes fragte den Zeus, in welcher Weise er sittliches BewuBtsein und Rechts- gefiihl den Menschen verleihen solle. ,,Soll ich diese ebenso verteilen, wie die iibrigen Fertigkeiten verteilt sind? Diese sind namlich so verteilt, da8 z. B..ein Mensch, der sich auf Medizin versteht, fiir viele Laien geniigt, und so ist es auch bei den andern Berufen. Soll ich nun das sittliche BewuBtsein und das Rechisgefiih! auch in dieser Weise unter die Menschen bringen oder es auf alle verteilen?“ ,,Auf alle,“ erwiderte Zeus, ,,alle sollen daran teilhaben; denn wenn, wie an den andern Fertig- keiten, nur wenige Menschen daran teilhatten, so kénnten keine Gemeinwesen bestehen. Ja gib in meinem Namen das Gesetz, da8B man einen Menschen, der nicht fahig ist, das sittliche Be- wuBtsein und das Rechtsgefiihl zu teilen, als einen Krebs- schaden des Gemeinwesens vernichten soll.“ ** (10) PRODIKOS Bis Sophist ist halb Philosoph und halb Politiker. (1) erdoppelte Begierde ist Leidenschaft, verdoppelte Leiden- schaft wird zur Raserei. (2) eichtum ist fiir die guten und anstandigen Menschen und fiir diejenigen, die den richtigen Gebrauch davon zu machen wissen, ein Gut, fiir die schlechten und unverstandigen aber ein Ubel. Und so ist es auch mit allen anderen Dingen: sie sind fiir die Menschen notwendig das, was diese gema8 ihrem Charakter daraus machen.*® (3) Os es irgendein Lebensalter, das frei ware von Beschwer- den? %¢ (4) Is Herakles aus dem Knabenalter ins Jiinglingsalter tiber- trat, in dem die jungen Leute schon selbstandig tiber sich 187 entscheiden und erkennen lassen, ob sie im Leben den Pfad der Tugend oder des Lasters einschlagen werden, zog er sich in die Stille zuriick, setzte sich nieder und wuBte nicht recht, welchen Weg er einschlagen solle. Da war es ihm, als kamen zwei stattliche Frauen auf ihn zu, die eine ausgezeichnet durch anmutige Erscheinung und edle Gestalt, reine Hautfarbe, sitt- samen Blick und bescheidene Haltung, in einem weiBen Ge- wande; die andere von iippigen und weichlichen Formen, ge- schminkt, daB ihre Hautfarbe weiBer und rotlicher erscheinen sollte, als sie in Wirklichkeit war, und in unnatiirlich steifer Haltung, mit weit aufgeschlagenen Augen und in einem Ge- wande, durch das ihre jugendlichen Reize méglichst durch- schimmerten; sie betrachtete haufig sich selbst, sah sich auch um, ob andere Leute nach ihr blicken, und schaute oft nach ihrem eigenen Schatten. Als sie nun naher an Herakles herankamen, hielt die erstere ihren bisherigen Schritt ein, die andere aber suchte ihr vorauszukommen, lief auf Herakles zu und sagte: »lch sehe, Herakles, daB du nicht recht weiBt, welchen Weg durchs Leben du einschlagen sollst. Wenn du meine Freund- schaft erwahlist und mir folgst, werde ich dich den ange- nehmsten und bequemsten Weg fiihren, jeden Genu8 wirst du zu kosten bekommen, das Ungemach des Lebens aber wird dir erspart bleiben. Denn erstens wirst du dich nicht um Kampf und Arbeit kiimmern, sondern wirst immer nur darauf zu sehen haben, wie du Speise und Trank nach deinem Geschmack fin- dest, wie du dir eine Augenweide oder einen Ohrenschmaus bereitest, dich an Wohlgeriichen erfreust oder dir wonnige Gefiihle erregst, wie du Liebschaften ankniipfest, die dir am meisten Vergniigen machen, wie du am weichsten schlafst und wie du alle diese Geniisse so miithelos als méglich erlangst. Wenn du aber jemals besorgt sein solltest, es kénnte dir an 188 Mitteln fehlen, dir solches zu verschaffen, so darfst du ja nicht fiirchten, daB ich dich veranlasse, diese durch kérperliche oder geistige Arbeit und Miihsal zu erkaufen; nein, sondern die Friichte der Arbeit anderer Menschen sollst du genieBen, wobei du dich nur von nichts fernzuhalten brauchst, was Gewinn ab- wirft. Denn ich gewahre meinen Jiingern die Méglichkeit, aus allem Nutzen zu ziehen.“ Darauf versetzte Herakles: ,,Wie ist denn dein Name, Frau?“ Diese erwiderte: ,,Meine Freunde nennen mich das Gliick; die mich aber hassen, hei8®en mich aus Eifersucht das Laster.“ In diesem Augenblick kam die andere Frau heran und sprach: »Auch ich komme zu dir, Herakles; ich kenne deine Eltern, und in deine natiirlichen Anlagen habe ich bei deiner Erziehung einen Einblick gewonnen; deshalb hoffe ich, wenn du den Weg, der zu mir fiihrt, einschlagst, werdest du ein tiichtiger Arbeiter an schénen und hohen Aufgaben werden, und ich werde noch mehr Ehre und Auszeichnung um meiner guten Leistungen willen gewinnen. Ich will dich nicht durch Vorspiegelung von Geniissen tauschen, sondern wie die Gotter die Welt in Wirk- lichkeit eingerichtet haben, das will ich dir wahrheitsgema8 mitteilen. Von dem, was wirklich gut und edel ist, geben die G6tter den Menschen nichts ohne Arbeit und Flei8. Sondern wiinschest du, da8 dir die Gétter gnadig seien, so muBt du die Gétter ehren; willst du von deinen Freunden geliebt sein, so mut du deinen Freunden Dienste erweisen; trachtest du danach, vom Staat geehrt zu werden, so muBt du dich dem Staat niitzlich machen; beanspruchst du, von ganz Hellas um deiner Tiichtigkeit willen bewundert zu werden, so mufBt du versuchen, dir um Hellas Verdienste zu erwerben. Willst du, daB dir das Land reichliche Friichte trage, so muBt du das Land bebauen; glaubst du, dich durch Viehzucht bereichern zu 189 sollen, so muBt du fiir die Viehzucht besorgt sein. Strebst du danach ein groBer Krieger zu werden und willst du imstande sein, deine Freunde zu befreien und deine Feinde zu be- zwingen, so muBt du von Sachverstandigen die Kriegswissen- schaft erlernen und dich in ihrer Anwendung iiben. Willst du es zu kérperlicher Starke und Gewandtheit bringen, so muBt du deinen Kérper daran gew6hnen, dem Willen zu gehorchen, und ihn unter Miihe und Schwei8 stahlen.“ Da fiel ihr das Laster ins Wort und sagte: ,,Siehst du, Herakles, wie schwierig und weit der Weg zum Wohlbehagen ist, den diese Frau dich fiihren will. Bequem und kurz dagegen ist der Weg, auf dem ich dich zum Gliick geleiten werde.“ Da sagte die Tugend: ,,Du Elende, was hast denn du, das ein Gut ware, oder wie willst du denn wissen, was eine Annehmlichkeit ist, ohne daB du darum dich irgend bemiihen magst? Du wartest ja nicht einmal, bis sich die Lust nach einem Genusse regt, sondern schon vorher sattigst du dich mit allem: du issest, ehe du Hunger, und trinkst, ehe du Durst hast. Damit dir das Essen schmeckt, bereitest du kunstvoll ein leckeres Mahl, und damit dir ein Trunk schmeckt, 14B8t du dir kostbare Weine kommen und laufst im Sommer auf der Suche nach Eis umher. Um gut zu schlafen, 148t du dir nicht nur weiche Kissen und Betten sondern auch Schaukelgestelle dazu machen; denn nicht aus Ermiidung sondern aus Langeweile begehrst du nach Schlaf. Den Liebesgenu8 erzwingst du, ehe das Bediirfnis da- nach erwacht, durch allerlei kiinstliche Mittel und bedienst dich dabei der Manner, als waren sie Weiber: so erziehst du deine Freunde, indem du sie bei Nacht miBhandelst und bei Tag die besten Stunden verschlafen la6t. Du bist unsterblich, aber aus dem Kreis der Gdtter bist du verstoBen, und von den guten Menschen wirst du verachtet. Was dem Ohr am schénsten 190 klingt, das eigene Lob, hérst du nie, und was das Auge am meisten erfreut, siehst du nie: denn noch nie hast du ein gutes Werk von dir gesehen. Wer schenkt deinen Worten Glauben, wer will dir eine Bitte gewahren? Welcher ansténdige Mensch méochte zu deiner Gesellschaft gehéren, zu Leuten, die in der Jugend kérperlich unfahig und im Alter geistig schwach sind, die in der Jugend frei von Arbeit ein glanzendes Leben gefiihrt und im Alter heruntergekommen sich miihsam hinschleppen, die sich ihrer friiheren Handlungen schémen und an ihrer jetzigen Tatigkeit schwer tragen, die in der Jugend von einem GenuB zum andern geeilt sind und die schweren Aufgaben sich fiirs Alter verspart haben? Ich aber verkehre mit den G6ttern und verkehre mit den guten Menschen. Weder im Himmel noch auf Erden wird eine gute Tat ohne mich vollbracht. Ich genieBe die hdéchste Verehrung bei Gdttern und Menschen, bei denen in Ehren zu stehen sich schickt. Den Kiinstlern bin ich eine be- liebte Gehilfin, den Herren eine treue Wachterin ihres Hauses, den Dienern eine wohlwollende Helferin, eine tiichtige Mit- arbeiterin an den Werken des Friedens, bei den Aufgaben des Krieges eine zuverlassige Mitstreiterin und in der Freundschaft die beste Gefahrtin. Meinen Freunden schmeckt Speise und Trank, und sie haben davon einen behaglichen GenuB; denn sie warten, bis sie Appetit bekommen. Ihnen wird ein besserer Schlaf zuteil als den MiiBiggangern, und sie argern sich nicht, wenn sie aufstehen miissen, noch versdumen sie seinetwegen ihre Pflichten. Die jungen Leute freuen sich der Anerkennung der 4lteren, und die alteren sind stolz auf die Ehren, die ihnen die Jugend erweist; mit Vergniigen gedenken sie ihrer friiheren Taten, und gerne arbeiten sie tiichtig an den Aufgaben der Gegenwart. Um meinetwillen sind sie bei den Gottern in Gunst, von ihren Freunden geliebt, von ihrem Vaterlande geachtet. 191 Und kommt dann das Ende, wie es das Schicksal bestimmt, so ruhen sie nicht vergessen und ungeehrt, sondern ihr Gedachtnis bleibt ewig frisch, und sie leben fort im Gesange. Wenn du so durchs Leben dich durchringst, Herakles, edler Eltern Sohn, dann wird dir das seligste Gliick beschieden sein.“ ** (5) ew Tod geht weder die Lebenden noch die Abgeschiede- nen etwas an.*’ (6) onne und Mond, Fliisse und Quellen, kurz alles, was unser Leben férdert, hielt man im Altertum fiir Gétter um des Nutzens willen, der davon ausgeht, wie die Agypter den Nil; und deshalb sah man im Brote Demeter, im Wein Dionysos, im Wasser Poseidon, im Feuer Hephastos und so weiter in allem Brauchbaren eine Gottheit. (7) HIPPIAS ievon steht vielleicht das eine bei Orpheus, das andere bei Musdos, kurz dies dort, jenes hier, das eine bei He- siod, das andere bei Homer, wieder etwas bei andern Dichtern, dies in hellenischen, jenes in barbarischen Schriften. Ich habe aus dem Allen das Wichtigste und Verwandte zusammenge- stellt und werde daraus dies neue und vielgestaltige Buch machen. (1) F° gibt eine Frau, namens Thargelia, die aus Milet stammt, eine schéne Erscheinung und dabei so klug, daB sie Staaten und Machthaber leitet. Darum hat sie sich auch mit einer groBen Zahl der beriithmtesten Manner verheiratet. (2) hales schrieb auch dem Unbeseelten eine Seele zu, was er mitdem Magnet unddem Bernstein zu beweisen suchte. (3) ach Thales beschaftigte sich Mamerkos, der Bruder des Stesichoros, mit dem Studium der Geometrie und wurde dadurch ein berithmter Mann. (4) 192 I omer war aus Kyme. (5) as Wort ,Tyrann‘ kam erst spat, zur Zeit des Archi- lochos, nach Griechenland. Homer kennt es noch nicht. (6) eo der Einnahme Trojas, so erzahlt die Sage, fragte Neo- ptolemos den Nestor, was fiir ehrenvolle Beschaftigun- gen es gebe, durch deren Betrieb ein junger Mann sich An- sehen erwerben kénne. Darauf ergriff Nestor das Wort und nannte ihm gar viele der Sitte entsprechende und edle Beschaf- tigungen. (7) s gibt zwei Arten von MiBgunst: eine berechtigte, wenn man schlechten Menschen die Ehre miSg6nnt, die ihnen zuteil wird; und eine unberechtigte, wenn man dies recht- schaffenen Leuten gegeniiber tut. Ubrigens sind mifgiinstige Menschen doppelt so iibel daran als andere Leute: denn sie argern sich nicht nur tiber ihr eignes MiBgeschick wie jene, sondern auch iiber fremdes Gliick. (8) m die Verleumdung ist es etwas Arges, weil auf ihr im Gesetz keine Strafe steht wie auf Diebstahl; und doch stehlen uns die Verleumder den wertvollsten Besitz: die Liebe (unserer Nebenmenschen). Daher ist MiBhandlung, die doch ein Verbrechen ist, eigentlich noch besser als Verleumdung, weil sie nicht im Dunkeln schleicht. (9) hr Manner, die ihr hier anwesend seid! Ich bin der Meinung, da8 wir alle stammverwandt, zusammengehorig und Birger Eines Reiches sind, nicht nach der Sitte zwar, aber von Natur. Denn gleich und gleich ist von Natur stammverwandt; die Sitte aber, die die Menschen tyrannisiert, setzt mit Gewalt vieles Naturwidrige durch.** (10) 13 Vorsokratiker 1 93 GORGIAS | ee ist eine Ausstr6mung von K6rpern, dem Gesichtssinn entsprechend und von diesem wahrnehmbar. (1) bo der Sonnenstrahlen kann man durch Brechung in einem Spiegel ein Licht anziinden, weil das Feuer durch dessen Poren hindurchgeht. | (2) s existiert nichts; und wenn etwas existiert, so ist es fiir den Menschen unbegreiflich; ware es aber auch begreiflich, so kénnte man es doch einem andern nicht mitteilen oder er- klaren. Denn wenn etwas existiert, so ist es entweder das Seiende oder das Nichtseiende oder beides. Das Nichtseiende nun exi- stiert nicht. Denn wenn das Nichtseiende existierte, so wiirde es zugleich sein und nicht sein. Es ist aber durchaus unge- reimt, daB etwas zugleich sei und nicht sei. Folglich existiert das Nichtseiende nicht. Aber auch das Seiende existiert nicht. Denn wenn es existiert, - $o ist es entweder ewig oder geworden oder beides. Es trifft jedoch keine dieser drei Annahmen zu und somit existiert es nicht. Denn, wenn das Seiende ewig ist, so hat es keinen Anfang. Alles, was wird, hat namlich einen Anfang; das Ewige da- gegen, das ungeworden ist, hat keinen. Was aber keinen An- fang hat, ist grenzenlos; wenn es jedoch grenzenlos ist, so ist es nirgends. Denn, wenn es irgendwo ist, so muB es etwas auBer ihm geben, worin es ist. Und so ware also das Seiende nicht mehr grenzenlos, da es von etwas anderem umgeben ware. Denn das Umgebende ist gréBer als das, was davon um- geben wird. Es gibt aber nichts, das gréBer ware als das Gren- zenlose. Also ist das Grenzenlose nirgends. Wenn somit das Seiende ewig ist, so ist es grenzenlos; wenn es grenzenlos ist, 194 so ist es nirgends; und wenn es nirgends ist, so existiert es nicht. Das Seiende kann jedoch auch nicht geworden sein. Denn, wenn es geworden ist, so ist es doch entweder aus dem Seien- den oder aus dem Nichtseienden geworden. Aber es ist weder aus dem Seienden geworden: denn, wenn es ein Seiendes ist, so ist es nicht geworden, sondern es ist schon; noch aus dem Nichtseienden: denn das Nichtseiende kann nichts erzeugen, da das Zeugungskraftige notwendig an irgendeinem Sein teil- haben muB. Also ist das Seiende auch nicht geworden. Ebensowenig aber kann es beides zugleich, ewig und ge- worden, sein. Denn dies hebt sich gegenseitig auf; und wenn das Seiende ewig ist, so ist es nicht geworden, und wenn es geworden ist, so ist es nicht ewig. Wenn also das Seiende weder ewig noch geworden noch beides zugleich ist, so existiert es iiberhaupt nicht. Aber auch, wenn etwas existiert, ist es fiir den Menschen unbegreiflich und unerkennbar. Denn wenn das, was gedacht wird, nicht existiert, so ist es nicht das Seiende, was gedacht wird. Das, was gedacht wird, existiert aber nicht. Denn wenn das, was gedacht wird, existiert, dann existiert alles, was ge- dacht wird, und wie man es sich immer denken mag. Dies widerspricht aber der Erfahrung. Denn wenn sich jemand einen fliegenden Menschen oder Wagen, die auf dem Meere fahren, denkt, so fliegt darum doch nicht gleich ein Mensch oder fahren Wagen auf dem Meere. Also existiert das nicht, was gedacht wird. Ferner, wenn das, was gedacht wird, existiert, so wird das Nichtseiende nicht gedacht werden. Denn den Gegensatzen entsprechen die Gegensatze: das Nichtseiende bildet aber den Gegensatz zum Seienden. Wenn also dem Seienden das Ge- 13° 195 dachtwerden entspricht, so wird dem Nichtseienden das Nicht- gedachtwerden entsprechen. Dies ist aber ungereimt: denn auch eine Skylla und Chimara und noch vieles andere, was nicht existiert, wird gedacht. Es ist also nicht das Seiende, was gedacht wird. Wie aber das, was man sieht, deswegen sichtbar genannt wird, weil man es sieht, und das, was man hort, deswegen hér- bar, weil man es hért, und wie wir nicht das Sichtbare ver- werfen, weil man es nicht hért, noch das Hérbare ablehnen, weil man es nicht sieht (denn jede Wahrnehmung muB von dem ihr entsprechenden Sinnesorgan und nicht von einem andern gemacht werden), so existiert das Denkbare, auch wenn man es nicht mit Augen sieht oder mit Ohren hort, weil es von dem ihm entsprechenden Organ erfaBt wird. Wenn sich nun jemand Wagen denkt, die auf dem Meere fahren, so mu8 er, auch wenn er es nicht sieht, glauben, daB es Wagen gibt, die auf dem Meere fahren. Dies ist aber ungereimt. Folglich wird das Seiende nicht gedacht oder begriffen. Wenn aber das Seiende auch begriffen wiirde, so kénnte man die Erkenntnis doch niemand anders mitteilen. Denn wenn das Seiende, das drauBen liegt, sichtbar und hérbar und all- gemein wahrnehmbar ist, und davon das Sichtbare durch den Gesichtssinn, das Hérbare durch das Gehor erfaBt wird, und nicht umgekehrt, wie kann es dann mittelst eines andern Organs mitgeteilt werden? Das Organ der Mitteilung aber ist das Wort; dieses ist jedoch nicht das, was zugrunde liegt und existiert. Wir teilen also einem andern Menschen nicht das Seiende mit, sondern ein Wort, das von dem, was zugrunde liegt, verschie- den ist. Wie nun das Sichtbare nicht hérbar gemacht werden kann, oder umgekehrt, so ist es auch bei unserem Worte, da das Seiende drauBen liegt. Wenn aber das Wort nicht etwas 196 Seiendes ist, so kann es auch einem andern nicht mitgeteilt werden.®® (3) D* Sein ist etwas Unsichtbares, dem es nicht gelingt zu scheinen, das Scheinen etwas Schwaches, dem es nicht gelingt zu sein. (4) ie Tugend des Mannes besteht in der Fahigkeit zu poli- tischer Tatigkeit, wobei er versuchen wird, seinen Freun- den zu niitzen, seinen Feinden zu schaden und sich selbst vor Nachteil zu hiiten. Auch die Tugend der Frau ist nicht schwer zu bestimmen: sie besteht darin, daB sie das Hauswesen wohl verwaltet, das vorhandene Gut erhalt und ihrem Manne ge- horcht. Wieder anders ist die Tugend des Kindes, des Mad- chens und des Knaben, und wieder die des alteren Mannes, sei es des freien oder sei es des Sklaven. Ja, es gibt noch viele andere Arten von Tugend, so daB es nicht an Stoff fehlt, um iiber den Begriff der Tugend zu reden. Denn jeder von uns hat in jedem Beruf und jedem Lebensalter fiir jede Aufgabe seine Tugend und meines Erachtens auch seine Untugend. (5) Nice die Schénheit, sondern die Ehre einer Frau soll all- gemein bekannt sein. (6) in Freund wird zwarvon seinem Freunde nur beanspruchen, daB er ihm zu gerechten Unternehmungen behilflich sei; er aber wird von selbst ihm oft auch in ungerechten beistehen. (7) he): hast tibel gesat und bods geerntet. (8) Kon erwarb Geld, um es zu verwenden, und er verwandte es, um Ehre zu gewinnen. (9) ie Tragédie bewirkt eine Tauschung von geschichtlichen Vorgangen und Affekten. Der Dichter, der diese hervor- 197 ruft, erfiillt seine Aufgabe besser als der, dem dies nicht ge- lingt, und der Zuschauer, der ihr verfallt, ist gebildeter als der, der ihr nicht verfallt, (10) ry Tragédie des Aschylos ,Die Sieben gegen Theben‘ ist voll kriegerischen Geistes. (11) | omer stammte von Musaos ab. (12) er Zweck der Rhetorik ist, eine Uberzeugung hervorzu- rufen. (13) an muB8 den Ernst der Gegner durch Gelachter, ihr Ge- lachter durch Ernst zunichte machen. (14) Aus der ,Helena‘ H*. tat, was sie tat, entweder nach dem Willen des Zu- falls, dem Ratschlu8B der Gotter und der zwingenden Fiigung des Schicksals, oder weil sie mit Gewalt entfiihrt oder durch Zureden bestimmt oder durch Liebe itberwunden wurde. War das erste der Fall, so trifft der Vorwurf die schuldige Gottheit. Denn die Absicht einer Gottheit kann durch mensch- liche Vorsicht unméglich vereitelt werden. Es ist namlich ein Naturgesetz, da8 das Starkere nicht von dem Schwacheren ge- hindert werden kann, sondern da8 das Schwachere dem Star- keren sich fiigen und sich von ihm leiten lassen muB, daB das Starkere vorangehen und das Schwachere folgen mu8. Eine Gottheit ist aber starker als ein Mensch vermége ihrer Macht, ihrer Weisheit und ihrer sonstigen Eigenschaften. Wenn also dem Zufall und der Gottheit die Schuld zuzuschreiben ist, so muB Helena von ihrem schlimmen Ruf befreit werden. ..... Wenn es aber die Rede ist, die Helena bestimmt und ihre Seele beriickt hat, so ist es auch unter diesem Gesichtspunkt nicht schwer, sie zu verteidigen und von Schuld freizuspre- 198 chen, namlich folgendermaBen. Die Rede ist eine gewaltige Machthaberin, die mit dem kleinsten und unscheinbarsten Mit- tel die wunderbarsten Wirkungen erzielt; denn sie vermag Furcht zu verscheuchen und Leid zu bannen, Freude zu er- regen und Mitleid zu erwecken. DaB dem so ist, will ich be- weisen... Ich betrachte und bezeichne die gesamte Poesie als Rede in gebundener Form. Wer nun sie anhGrt, den ergreift bald angstvoller Schrecken bald tranenreiche Riihrung bald schmerzliche Sehnsucht, und Gliick und Ungliick fremder Per- sonen und Verhdltnisse bringt vermittelst der Rede in der Seele eine eigene Empfindung hervor... Weil aber die Uberzeugungskraft, die der Rede beiwohnt, auch die Seele formt wie sie will, mu8 man sich fiirs erste auf die Vortrage der Astronomen verstehen, die, indem sie einen Glauben beseitigen und einen andern dafiir einpflanzen, das Unglaubliche und Unbekannte dem Auge des Glaubens er- scheinen lassen; ferner auf die Offentlichen ProzeBreden, bei denen eine einzige Rede, die kunstgerecht verfaBt, wenn auch nicht wahrheitsgem48 gehalten ist, viele Leute erfreut und be- einflu8t; drittens auf die Unterhaltungen der Philosophen, wor- in sich die Raschheit des Geistes zeigt, indem sie dem Beweis fiir ihren Glauben mit Leichtigkeit eine andere Wendung geben. Die Wirkung der Rede verhalt sich zur Stimmung der Seele ebenso wie die Bestimmung der Gifte zur Natur des K6rpers. Denn wie jedes Gift wieder andere Safte aus dem K6rper aus- scheidet und das eine der Krankheit, das andere dem Leben ein Ende macht, so bewirkt auch die Rede bei den Zuh6rern bald Trauer bald Freude, bald Furcht bald Zuversicht, manch- mal aber vergiftet und verzaubert sie die Seele durch Verfiih- rung zum Bésen. (15) 199 Aus dem ,Palamedes‘ ch darf wohl sagen — und wenn ich es sage, liige ich nicht und bin nicht zu widerlegen —: daB ich nicht nur kein Ver- brechen begangen habe, sondern sogar euer und der Hellenen, ja aller Menschen, der jetzt lebenden und der kiinftigen Ge- schlechter, groBer Wohltéter bin. Denn wer sonst hat den Menschen in ihrem hilflosen Leben Hilfsmittel verschafft, wer sie aus einem unzivilisierten Zustand durch seine Erfindungen zur Zivilisation gefiihrt? Bin ich es nicht, der die Kriegskunst erfand, das gewaltigste Mittel zur Vermehrung der Macht; die geschriebenen Gesetze, die Hiiter des Rechts; die Buchstaben- schrift, die Stiitze des Gedachtnisses; MaB und Gewicht, die bequemen Wertmesser des Warenaustauschs; die Rechenkunst, die Hiiterin des Geldes; den Feuertelegraphen, den besten und schnellsten Boten; das Brettspiel, einen heiteren Zeitvertreib in MuBestunden? Warum ich euch daran erinnere? Um euch zu zeigen, daB ich auf solche Aufgaben meinen Geist richte, und euch zu beweisen, da8 ich keiner gemeinen und verwerflichen Handlungen fahig bin. Denn wer auf jene Aufgaben seinen Geist richtet, kann ihn unméglich dabei auf derartiges rich- ten.*° (16) Aus der Rede in Olympia weierlei Eigenschaften erfordert der Wettkampf: Mut und Sachverstandigkeit; Mut, um der Gefahr zu trotzen; Sach- verstandigkeit, um die Stellung zu erkennen. Denn der Herolds- ruf in Olympia beruft jeden, der Lust hat, spricht aber nur dem den Kranz zu, der etwas kann. (17) Aus der Leichenrede in Athen 1; Siegeszeichen iiber Barbaren wecken Jubelgesange, die iiber Hellenen Klagelieder. (18) 200 elche Eigenschaften von denen, die Mannern zukommen W sollen, gingen diesen Mannern ab, und welche kamen ihnen zu von denen, die Mannern nicht zukommen sollen? Ware ich doch imstande zu sagen, was ich will und zu wollen, was ich soll, unbemerkt vom Unwillen der G6tter und ver- schont von der Gehassigkeit der Menschen! Denn gottlich war an diesen Mannern ihre Tugend, menschlich ihre Sterb- lichkeit. Oft stellten sie milde Billigkeit iiber hartes Recht, oft auch iiber die buchstébliche Genauigkeit des Gesetzes den richtigen Sinn der Worte, indem sie das géitlichste und allgemeinste Gesetz darin erkannten, im rechten Augenblick das Rechte zu sagen oder zu verschweigen, zu tun oder zu lassen. Zweierlei iibten sie vor allem von dem, was not tut: des Geistes Werke und des Leibes Starke, jene im Rat, diese mit der Tat, als Helfer derer, die unverdientes Un- gliick hatten, als Ziichtiger derer, die unverdientes Gltick hatten, riicksichtslos zugunsten des Gemeinwohls, warm eintretend fiir die gute Sitte, durch des Geistes verstandige Werke aufhebend den Unverstand leiblicher Starke, gewalt- tatig gegen gewalttatige, anstandig gegen anstandige, furcht- los gegen furchtlose Leute und groB in groBen Kampfen. Des zum Zeugnis haben sie Siegeszeichen iiber die Feinde er- richtet als Ehrengaben fiir Zeus und Erinnerungszeichen an sich selbst. Fremd war ihnen weder natiirlicher kriegerischer Sinn noch Liebe, wie sie Sitte ist, weder der Streit in Waffen noch der Friede, der Schénheit Freund. Gegen die Gdtter be- wiesen sie Ehrfurcht durch ihre Gerechtigkeit, gegen die Eltern Pietat durch ihre Anhanglichkeit, gegen die Mitbiirger Gerech- tigkeit durch ihren Sinn fiir Gleichheit, gegen die Freunde Er- gebenheit durch ihre Treue. Nun da sie gestorben sind, ist nicht zugleich das Heimweh nach ihnen gestorben, sondern 201 unsterblich lebt es in sterblichen Personen nach ihnen, die nicht mehr leben. (19) LYKOPHRON as Gesetz ist ein Vertrag, worin man sich gegenseitig das Recht verbiirgt; aber es ist nicht imstande, die Birger zur Sittlichkeit und Gerechtigkeit zu erziehen. (1) del ist etwas ganz Hohles. Sein Vorzug ist unersicht- lich und seine Wiirde beruht lediglich auf dem Titel.** (2) ALKIDAMAS esetz und Brauch sind die herk6mmlichen K6nige der Staaten. (1) ie Philosophie ist ein Angriffswerk gegen Gesetz und Brauch. (2) r ‘Yberall stehen die Weisen in Ehren. Paros hat den Archi- lochos geehrt trotz seiner Schmahgedichte, Chios den Homer, obwohl er nicht dort biirgerlich war, Mitylene die Sap- pho, obwohl sie nur eine Frau war, Lakedimon, so gering auch dort der Sinn fiir Bildung war, den Chilon, den es sogar in den Rat aufgenommen hat, Italien den Pythagoras, Lam- psakos hat dem Anaxagoras, obwohl er von auswéarts war, ein Grab gewahrt und halt ihn noch jetzt in Ehren; Athen kam durch Solons, Lakedémon durch Lykurgs Gesetzgebung zu Wohlstand, und in Theben waren die leitenden Staatsmanner zugleich Philosophen**, und die Stadt befand sich wohl da- bei. (3) (3. hat alle Menschen frei gelassen; die Natur hat niemand zum Sklaven gemacht. (4) enn der Krieg das augenblickliche Unheil verschuldet hat, so muB es der Friede wieder gutmachen. (5) 202 ie Odyssee ist ein schéner Spiegel des menschlichen Le- bens. #* (6) KALLIKLES ach der Natur ist immer das Schwachere auch das Schlech- tere, also Unrechtleiden, nach Gesetz und Brauch dagegen Unrechttun. Unrechtleiden ist kein Verhalten, das eines Mannes wiirdig ware sondern vielmehr eines Sklaven, fiir den der Tod besser ware als das Leben, der, wenn man ihm unrecht tut und ihn miBhandelt, sich selbst nicht helfen kann und ebensowenig einem andern, fiir den er besorgt ist. Gesetz und Brauch stellen immer die schwachen Menschen und die Menge auf. Fiir sich selbst und in ihrem eigenen Interesse geben sie Gesetze und erteilen Lob und Tadel. Dadurch wollen sie die starkeren Men- schen, welche die Kraft besaBen, sich mehr Vorteile zu ver- schaffen als sie, einschiichtern, damit sie dies nicht tun, als ob es schlecht und unrecht ware, mehr Vorteile zu haben als an- dere; und das versteht man unter Unrechttun, wenn jemand mehr Vorteile als andere zu gewinnen sucht; denn sie, die Min- derwertigen, sind freilich zufrieden, wenn sie gleiches Recht haben. Deshalb also nennt man es nach Gesetz und Brauch allerdings unrecht und schlecht, wenn man mehr Vorteile zu gewinnen sucht, als die Menge hat, und man heiBt das Unrecht- tun. Meines Erachtens aber beweist die Natur selbst, die Ge- rechtigkeit bestehe darin, daB der Edlere mehr Vorteile hat als der Geringere und der Leistungsfahigere mehr als der minder Leistungsfahige. An vielen Fallen sowohl bei den iibrigen Lebe- wesen als auch bei den Menschen an ganzen Staaten und Ge- schlechtern zeigt sie, daB es sich so verhalt: daB namlich das als gerecht anerkannt wird, daB der Starkere iiber den Schwa- cheren herrscht und mehr Vorteile hat als dieser. Oder welches 203 Recht konnte Xerxes fiir sich in Anspruch nehmen, als er gegen Griechenland zu Felde zog, oder sein Vater, als er die Skythen bekriegte, oder — man k6énnte ja tausend solche Beispiele an- fiihren! Wahrhaftig, ich meine, diese Manner handeln so nach der Natur und nach dem Gesetz der Natur, beim Zeus, freilich nicht nach dem Gesetz, das wir fingieren, die wir die tiichtigsten und stirksten Persénlichkeiten unter uns schon in der Jugend vornehmen und wie Lowen bandigen, indem wir sie hypnoti- sieren und ihnen suggerieren, es miisse Gleichheit bestehen und das sei gut und recht. Wenn aber, mein’ ich, ein Mann er- steht, der die geniigende natiirliche Kraft dazu hat, dann schiit- telt er das alles ab, zerreiBt seine Bande und entflieht, tritt un- sere Lehre, Fiyonose, Suggestion und die samtlichen naturwidri- gen Gesetze und Brauche mit FiiBen, unser bisheriger Sklave tritt auf einmal vor uns hin und erweist sich als unser Herr, und da leuchtet in seiném Glanze das Recht der Natur! Was ich da sage, das scheint mir auch Pindar zu meinen in jenem Gedicht, wo er sagt, daB Das Gesetz ist der K6nig von allen, Der Sterblichen und der Unsterblichen auch. Denn, fahrt er fort, Es fiihrt mit erhabenem Arm Die gewalisamste Tat rechtfertigend durch. Des Herakles Taten beweisen dies. So etwa sagt er; denn ich kann das Gedicht nicht genau aus- wendig. Er erzahlt, daB Herakles die Rinder des Geryones weg- trieb, ohne sie zu kaufen und ohne daB dieser sie ihm zum Ge- schenk machte; denn dies sei recht von Natur, daB Rinder und 204 aller sonstige Besitz der Minderwertigen und Schwacheren dem Tiichtigeren und Starkeren gehGre. (1) as ist nach dem Naturgesetz recht und gut, was ich dir D jetzt freimiitig sage: wer recht leben will, mu seine An- spriiche so hoch als méglich steigern und sie nicht einschran- ken sondern sich in den Stand setzen, sie, so groB wie sie sind, mannhaft und klug zu befriedigen und jeden Wunsch sich zu erfiillen. Das, mein’ ich, ist der Menge nicht méglich und des- halb tadelt sie solche Leute aus einem Gefiihl der Scham her- aus und um die eigene Unfahigkeit zu bemanteln; sie sagt, die Ungebundenheit sei etwas Béses, sie mdchte, wie ich schon friiher bemerkte, die tiichtigeren Naturen zu ihren Sklaven machen und, da sie selbst nicht imstande ist, ihre Lust zu be- friedigen, so preist sie die Bescheidenheit und die Gerechtig- keit um ihrer eigenen Schwache willen. Was sollte aber fiir Manner, die entweder von Haus aus Sohne von K6nigen oder von Natur dazu geboren sind, sich Herrschaft, Fiirstentum und Macht zu verschaffen, schimpflicher und schlimmer sein als Bescheidenheit? Sie, die alle Herrlichkeiten genieBen kénnen, ohne daB sie jemand daran hindert, sollten selbst das Gesetz und das Gerede und den Tadel der Menge als ihren Herrn an- erkennen? Oder wie sollten sie nicht ungliicklich werden durch die Moralitat der Gerechtigkeit und Bescheidenheit, wenn sie ihren Freunden nicht mehr Vorteile verschaffen kénnten als ihren Feinden und das als Herrscher in ihrem eigenen Staat? Nein ... in Wahrheit... verhalt es sich so: Wohlleben, Unge- bundenheit und Freiheit, wenn sie iiber geniigende Hilfsquel- len verfiigt, das ist Tugend und Gliick; alles andere ist Flitter, naturwidrige Konvention der Gesellschaft, Geschwatz und nichts wert. ** (2) 205 ; THRASYMACHOS pene wir Sklaven des Archelaos werden, Hellenen eines Barbaren? (1) ie wiinschte, ihr Manner von Athen, ich hatte jener alten Zeit angeh6rt, wo die jungen Manner sich mit Schweigen be- gniigen konnten, da die Verhaltnisse nicht zum Reden nétigten und die Alteren den Staat recht verwalteten. Weil nun aber das Schicksal uns auf eine so spate Zeit aufgespart hat, in der wir in betreff der Staatsangelegenheiten auf andere Leute héren, das Ungliick aber selber aushalten miissen, das zum groBten Teil nicht eine Fiigung der Gotter oder des Zufalls, sondern Schuld der Regierung ist, so muB man eben reden. Denn ge- fiihllos oder gar hartschlagig muB sein, wer sich Leuten, die ihm zu schaden trachten, noch weiter iiberlaB8t und so selber die Verantwortung tragt fiir die Hinterlist und Bosheit anderer. Wir haben genug an dem, was wir bisher erlebt haben, daran, daB wir aus dem Frieden in den Kriegszustand gekommen sind, daB wir bis auf diesen Augenblick fortwahrend Gefahren zu bestehen haben und daher froh sind, wenn ein Tag vorbei ist, wahrend wir uns vor dem kommenden fiirchten, und da8B wir aus Eintracht in Feindschaft und verworrene Kampfe mitein- ander geraten sind. Andere Leute macht der Besitz groBen Wohlstandes iibermiitig und unruhig; wir aber waren in un- serem Wohlstand besonnen, im Ungliick dagegen, das andere Leute zur Besinnung bringt, wurden wir toll. Warum also sollte seine Gedanken mitzuteilen zégern, wer die gegenwartige Lage bedauert und Mittel zu kennen glaubt, um ihre Fortdauer zu beseitigen? Fiirs erste werde ich zeigen, daB es den Rednern und den andern Leuten, die miteinander hadern, ergeht, wie es Leuten ergehen muB8, die unverniinftig miteinander streiten. Denn wiahrend sie glauben, das Gegenteil voneinander zu be- 206 haupten, merken sie nicht, daB sie alle dasselbe tun, und da8 die Rede der andern in ihrer eignen enthalten ist. Denn seht einmal von Anfang an, was beide Parteien anstreben! Fiirs erste ist es der Begriff des ,,alten guten Rechts“, der Verwirrung stiftet; und doch ist dies leicht zu verstehen, da ja alle Biirger daran teilhaben. Soweit das nun vor unserer Erinnerung liegt, muB8 man dariiber die Geschichte der alten Zeiten héren; so- weit es aber unsere 4lteren Zeitgenossen noch selbst erlebt haben, muB man sich bei ihnen, die es kennen, Rats erholen. (2) ie G6tter sehen nichts vom Treiben der Menschen; sonst hatten sie nicht das gr6Bte Gut der Menschheit, die Ge- rechtigkeit, vernachlassigt; denn sie sehen wir bei den Menschen nicht in Geltung. (3) so ins ist nichts anderes als der Vorteil des Starkeren. (4) KRITIAS Gedichte hn, des Lied den Frauen erklang in lieblichen Weisen, Teos sandte Anakreon her in hellenische Lande, Der die Gelage verschont, der Frauen wei8 zu beriicken, Dem die Fléte nicht lieb, den Freund der heiteren Laute. Nie wird dein liebenswiirdiges Lied vergehen noch altern, Nie, solange noch Wasser mit Wein vermischt in den Bechern Zechern ein Knabe verteilt, den Trank zur Rechten kredenzend, Chore von Jungfrauen noch die nachtlichen Feiern begehen Und auf des Kottabos Spitze die Scheibe, die Tochter des Erzes, Ruhend noch beut sich als Ziel des Weins hochspritzenden Tropfen. (1) 207 us Sizilien stammet des Kottabos reizendes Spielzeug, Den wir stellen als Ziel auf fiir der Tropfen GeschoB. Auch der prachtigsten Wagen darf sich Sizilien riihmen, Nirgends kennt sie so schén noch auch so kostbar die Welt. Doch fiir die Glieder der iippigste Sitz sind Thessaliens Sessel, Wahrend den herrlichsten Pfiih! breitet aufs Lager Milet Und Ojinopions Stadt, das meerumflossene Chios. Aber in Schalen von Gold ziemt den Etruskern der Preis Und in allerlei Erz, des Hauses niitzlichem Schmucke. Doch dem Gedanken zum Halt fand der Phéniker die Schrift. Theben fiigte zuerst den Stuhl des Wagens zusammen; Karer, die Herren des Meers, bauten das segelnde Schiff. Aber die Tépferscheib’ und den ténernen Krug, den be- riihmten, Feuer und Erde entspro8t, niitzlich in jeglichem Haus: Sie hat erfunden die Stadt, die des Sieges riihmliches Denk- mal Dort bei Marathon einst durfte errichten: Athen. (2) leinias Sohn aus Athen will heute mit Ehren ich kr6nen, In neuer Art besingen Alkibiades. Denn unméglich erschien’s, dem elegischen MaBe den Namen Einzufiigen; nun steht recht er im jambischen Vers. (3) D* in die Heimat dich rief, den EntschluB, ich habe vor allem Volke verkiindet ihn laut, ich auch den Antrag gestellt. Mein ist das Werk, ich hab’ es vollbracht, und ich habe das Siegel Meiner Sprache gepragt auf den gefaBten BeschluB. (4) 208 Aus dem ,Staat der Lakedimonier‘ as ist spartanischer Brauch und stehende Sitte, daB jeder Seinen Becher nur leert, der ihm mit Wein ward ge- fiillt, Nicht daB rechtshin die Schale macht bei den Zechern die Runde Und mit Namen man ruft, wem man den Becher will weihn. Nein, aus Lydien stammt, aus Asien diese Erfindung; GroBe GefaBe zum Mahl stellt’ uns Barbarenhand hin, DaB man kreisen sie lasse nach rechts zum Umtrunk und jeden Zecher mit Namen anruf’, dem man was vortrinken will. Solche Gelage entfesseln die Zunge zu haBlichen Reden, Schwankend und unsicher wird dadurch der Glieder Ge- brauch, Triiber Nebel legt sich ums Auge, und aus dem Geiste Tilget Vergessen, was treu helle Erinn’rung bewahrt. Seinen Halt verliert der Verstand. Mit dem trunk’nen Ge- bieter Schwelgen die Sklaven; das Haus richtet Verschwendung zugrund. Anders in Sparta: da trinken die jungen Manner nur so viel, DaB sich in jegliches Herz heitere Stimmung ergieBt. Frohe Gesprache vernimmt man da und gehaltenes Lachen: ~ Seele und Leib und Besitz frommet ein solches Gelag. Wohl vertragt sich damit die Huldigung an Aphrodite, Wohl auch der Schlaf, der empfangt Miide in gastlicher Bucht, Wohl die Gesundheit vor allem, der Menschen erfreulichste Gottin, Und die Besonnenheit auch, die bei der Frémmigkeit wohnt. 14 Vorsokratiker 209 Denn wer iiber das MaB dem Becher zuspricht, dem wandelt Leicht sich des Augenblicks Lust um in ein dauerndes Leid. Wie der Spartaner lebt, so ziemt sich’s: essen und trinken, Wie’s dem Bediirfnis entspricht, da8 man zum Denken den Geist Und zu harten Strapazen den K6rper fahig erhalte; Aber unmaBigem Trunk fréne kein einziger Tag! (5) Co war es, der Weise aus Sparta, welcher das Wort sprach: yNur nie zu viel! Denn es hat alles, was gut, seine Zeit.‘ (6) Ie sein wie die Skopaden — das mocht’ ich — und edel wie Kimon, Siegen Arkesilas gleich, den Lakedimon gebar.*® (7) Aus dem ,Rhadamanthys‘ ir streben nach gar mancherlei im Leben: Der Eine sehnt sich, adelig zu werden; Der Andre schatzt dies nicht, er will allein Ein reicher Herr in seinem Hause heifen. Ein Dritter liebt’s, in ungesundem Geist Den Nachsten dreist zum Schaden zu bereden. Den lockt, statt Edles, schmutziger Gewinn. So tastet irrend sich der Mensch durchs Leben. Ich aber wiinsch’ mir nichts von diesen Dingen. Nur Eines, edlen Ruhm, mocht’ ich erringen. (8) Aus dem ,Peirithoos‘ Aakos: a, was ist das? Ich seh’ jemand hierher Mit schnellem Schritt und kiihnem Mute eilen. 210 Wer bist du Fremdling? — Darfst es wohl mir sagen! — Was ist’s, das her dich fiihrt an diesen Ort?*® Herakles: Mein Vaterland ist Argos, Herakles Mein Name. Zeus, der Vater aller GGtter, Hat mich erzeugt, der, wie die Wahrheit kiindet, Dem keuschen Lager meiner Mutter nahte. Hierher komm’ von Eurystheus ich gezwungen. (9) s kreist die unermiidliche Zeit Zukunftsschwanger in ewigem Strom Sich selbst gebarend, und die beiden Baren bewachen mit eilends bewegtem Schwung ihrer Fliigel den Himmel des Atlas. (10) bE). du selbst dich erzeugt, der in himmlischem Schwung Des Weltalls Natur in Bewegung gesetzt, Um den das Licht, um den die dunkle Schillernde Nacht und der Sterne Chor Unzahlbar ewig den Reigen schlingt! (11) er Ehre Fessel kettet mich an dich, Wenn sie auch nicht aus Erz geschmiedet ist.t7 = (12) icht ungeiibten Geistes war der Mann, Der erstmals hinwarf diesen neuen Spruch, DaB dem Verstandigen kampft das Gliick zur Seite. (13) M* Sicherheit als ein Gesetz gewahrt Rechtschaffner Sinn: den kann kein Redner wan- deln. Doch das Gesetz stellt flugs mit seinen Worten Er auf den Kopf und treibt sein Spiel damit. (14) Ihe gar nicht leben besser nicht als elend? (15) 14° 211 212 Aus dem ,Sisyphos‘ or alter Zeit, da war der Menschen Leben Der Ordnung bar und dem der Tiere gleich: Die Starke herrschte; weder fand der Gute Belohnung noch der Frevler seine Strafe. Dann erst, so scheint mir, schuf man Strafgesetze, DaB iiber alle herrsche gleich das Recht Und daB den Frevel es in Fesseln schlage. Wer sich verging, bekam es jetzt zu biiBen. Doch weil so das Gesetz die Menschen abhielt, Wie friiher Gewalttat offen zu begehen, Schlich das Verbrechen in der Dunkelheit. Da hat, scheint mir, ein schlauer, kluger Mann Die Goittesfurcht den Sterblichen erfunden. Ein Schrecken sollte sie den Bésen sein, War’ heimlich auch die Tat, Wort und Gedanke. So fiihrte er die Religion denn ein: ,Es ist ein Geist, in ew’gem Leben prangend, Des Aug’ und Ohr und iiberleg’ne Weisheit Auf all dies achtet, géttlich von Natur. Er h6rt ein jeglich Wort, das Menschen reden, Und keine Tat bleibt seinem Blick verborgen. Auch wenn im stillen nur du Béses sinnst, Die Gétter merken es; denn iiberlegen Ist ihre Weisheit.‘ — Mit dergleichen Reden Fihrt’ er die feinste aller Lehren ein, Die Wahrheit mit der Worte Trug verhiillend. Und als der Gétter Wohnung gab er an Den Ort, des Nam’ am meisten angst’gen muBte Die Menschen. Denn von dort — das wuBt’ er — kam, Was sie erschreckt und was ihr armes Leben Befordert: droben in der HGhe — sah er — Da zuckt der Blitz und grollt der Donner furchtbar, Dort ist des Himmels sternbesates Zelt, Der Zeit, der weisen Meist’rin, herrlich Kunstwerk. Dort wandelt hell der gliih’nde Sonnenball, Dorther strémt feuchtes Na8 zur Erde nieder. Mit solchen Angsten wuft’ er das Gemiit Der Menschen zu erschiittern; schlau und passend Wies er der Gottheit diese Wohnung an. Und Ungesetzlichkeit wich den Gesetzen. — So, mein’ ich, hat zuerst ein kluger Mann Der Welt den Gotterglauben beigebracht. (16) Aus unbekannten Dramen er im Verkehr mit seinen Freunden diesen Zuliebe alles tut, kann leicht die Freude Des Augenblicks in kiinftge Feindschaft wandeln. (17) Sk wenn ein Dummkopf den Gescheiten spielt! (18) och besser ist’s, Reichtum mit Ungeschick Als Armut wohnt mit Klugheit in dem Hause. (19) Aus einem unbekannten Gedicht M* Leute sind durch Schulung als durch Naturanlage tiichtig. (20) Aus den ,Homilien‘ enn du dich selbst iibst, da8 du tiichtig an Verstand wirst, dann werden dir die sinnlichen Wahrnehmungen am wenigsten in dieser Weise iibel mitspielen. (21) 213 Aus den ,Aphorismen‘ as Organ der Erkenntnis ist bei normalen Menschen der Verstand. (22) VW was man mit den Organen des Kérpers wahrnimmt noch was man mit dem Verstande erkennt... (23) Aus der Schrift ,Uber die Natur der Liebe‘ in Melancholiker ist ein Mensch, der sich iiber Kleinigkei- ten argert und iiber wichtige Dinge mehr und langer als andere Menschen. (24) D* schénste Form ist bei mannlichen Wesen die weibliche und bei weiblichen umgekehrt die mannliche. (25) Aus dem ,Staat der Thessalier NN allgemeiner Uberzeugung leben die Thessalier am prunkvollsten in Hinsicht auf Kleidung und Unterhalt in ganz Griechenland. Das war auch der Grund fiir sie, daB sie die Perser nach Griechenland fiihrten, deren Uppigkeit und Prunk sie nachzuahmen suchten. (26) Aus dem ,Staat der Lakedimonier‘ ch beginne mit der Erzeugung des Menschen. Wie wird ein Mensch k6érperlich am tiichtigsten und kraftigsten? Wenn der Erzeuger turnt, sich kraftig nahrt und sich abhartet und auch die Mutter des kiinftigen Kindes kérperlich kraftig ist und turnt. (27) fe Chios und Thasos trinkt man aus groBen Bechern vor nach rechts, in Attika aus kleinen nach rechts, in Thessalien aus grofen TrinkgefaBen wem man will. In Sparta aber trinkt jeder- mann nur aus seinem eigenen Becher, und der Schenkknabe fiillt auf, was man abgetrunken hat. (28) 214 uBerdem sind beiden Lakedamoniern die unbedeutendsten Dinge fiir den taglichen Gebrauch 4uBerst praktisch: ihre Schuhe sind die besten, ihre Kleider am angenehmsten und zweckmaBigsten zu tragen. Der spartanische Kothon ist das geeignetste Trinkgefa8 fiir das Militar und 148t sich am leich- testen im Tornister mitfiihren. Ich will erklaren, warum er fiir die Soldaten so passend ist: oft ist der Soldat gendtigt un- reines Wasser zu trinken. Fiirs erste nun sieht man die Fliissigkeit im Kothon nicht deutlich; zweitens hat er vor- springende Rander und so bleiben die unreinen Bestandteile darin zuriick. (29) be Spartaner nennen es ,Zangentanz‘, wenn sie in die Héhe springen und, ehe sie wieder auf den Boden kommen, viele verschrankte Bewegungen mit den Beinen ausfiihren. (30) n Lakedamon ist der Gegensatz zwischen Freien und Sklaven am schroffsten. Aus Miftrauen gegen die Heloten nimmt der Spartiate ihnen zu Hause den Riemen aus dem Schilde. Da er dies aber im Felde nicht kann, weil hier oft Eile von- ndten ist, so geht er immer nur mit dem Speer in der Hand umher, iiberzeugt, daB er dadurch dem Heloten iiberlegen ist, wenn dieser mit dem Schilde allein sich erheben sollte. Auch Riegel haben sie anfertigen lassen, von denen sie glauben, da8 sie einem etwaigen Einbruch der Heloten stand- halten. (31) Aus dem ,Staat der Athener‘(?) hemistokles, des Neokles Sohn, besaB vor dem Beginn seiner politischen Laufbahn nur drei Talente vaterliches Vermégen. Als er aber leitender Staatsmann gewesen war, verbannt und sein Vermégen eingezogen wurde, iiberfiihrte 215 man ihn eines Besitzes von mehr als hundert Talenten. Ebenso besaB Kleon, ehe er die politische Biihne betrat, kein freies Eigentum, wahrend er spater ein Vermégen von fiinfzig Talenten hinterlieB. (32) 5 empa setzte die Erhéhung der Macht seiner Vaterstadt dem Interesse Lakedimons nach, bestimmte das Volk, dieser Stadt mit einem starken Aufgebot von Hopliten zu Hilfe zu kommen, und riickte damit ins Feld. (33) Aus unbekannten Schriften Wa Archilochos nicht selbst eine solche Meinung von sich in Griechenland verbreitet hatte, so hatten wir nicht erfahren, daB er der Sohn einer Sklavin Enipo war, daB er nach Thasos kam, weil er Paros aus Armut und Elend verlassen muBte, noch daB er nach seiner Ankunft mit den dortigen Be- wohnern sich verfeindete und Freunden und Feinden gleicher- ma8en Béses nachsagte. Ferner wiiften wir nicht, daB er ein Ehebrecher war, wenn wir’s nicht von ihm selbst erfiihren, noch daB er wolliistig und gewalttétig war, noch, was das schmahlichste von allem ist, daB er seinen Schild verlor. Archilochos hat sich also kein gutes Zeugnis ausgestellt, in- dem er solchen Ruhm und solchen Ruf sich selbst hinterlieB. (34) eute, von denen man sagt, daB sie Manner zur Tafel laden, die sie in Amt und Wiirden und einfluBreicher Stellung andere iiberragen sehen, scheinen mir nicht richtig zu handeln. (35) inn ist fiir den Menschen gewiB als daB er sterben muB, nachdem er geboren ist, und daB er unmdglich unbe- riihrt von Unheil durchs Leben gehen kann. (36) 216 ANTIPHON Aus der Schrift , Wahrheit‘ lir die Vernunft ist das All eine Einheit; wenn du das er- kannt hast, wirst du einsehen, da8 nichts von dem, was man mit dem Auge schaut, so weit auch der Blick reichen mag, noch von dem, was man mit dem Verstande erkennt, so- weit auch die Erkenntnis reichen mag, fiir sie etwas Einzelnes ist. (1) B allen Menschen leitet der Verstand den K6rper in Hin- sicht auf Gesundheit und Krankheit und alles andere. (2) by Zeit ist nur eine Idee oder ein MaBstab. (3) ott bedarf nichts und nimmt von niemand etwas an, son- dern er ist unendlich und bediirfnislos. (4) enn man eine Bettstelle vergraben wiirde und die Faulnis weckte in dem Holze Leben, so wiirde daraus keine Bettstelle werden sondern nur Holz. (5) enn in der Luft Regen und einander entgegengesetzte Winde entstehen, dann zieht sich das Wasser in Menge zusammen und verdichtet sich. Was nun bei dem Zusam- menstoB iiberwaltigt wird, das zieht sich zusammen und ver- dichtet sich (zu Hagel) vom Wind und seiner Gewalt ge- drangt. (6) as Feuer, das die Erde zum Gliihen und Schmelzen bringt, macht sie gekriimmt. (7) IB Meer ist der Schwei8 der ersten Feuchtigkeit, die infolge der Hitze verdampfte; daraus sonderte sich die zuriickbleibende feuchte Schichte ab und wurde Meer genannt, nachdem sie durch die Erhitzung salzig gewor- den war: ein Vorgang, der bei jeder Art von SchweiB statt- findet. (8) ya We Aus der Schrift ,Uber Gemeinsinn‘ er Mensch behauptet, unter allen Lebewesen das gottahn- lichste zu sein. (9) as Leben gleicht sozusagen einer eintagigen Haft und die Lange des Lebens einem einzigen Tage, den wir, sobald wir das Licht wieder geschaut haben, den kommenden Ge- schlechtern iiberlassen. (10) bY dpe jedem Menschenleben, selbst wenn es wunder wie gliicklich war, kann leicht nachgewiesen werden, daB es nichts Uberschwengliches, nichts GroBes und Hohes hatte, sondern da8 alles darin klein und schwach, von kurzer Dauer und mit groBem Leid vermischt war. (11) Ne an, das Leben riicke vor und es begehre nach Ehe und Weib. Mit diesem Tage, mit dieser Nacht beginnt ein neues Geschick, ein neues Dasein. Die Ehe ist fiir den Menschen ein gewagtes Spiel. Denn wenn sie ungliicklich aus- fallt, was soll er dann in dieser Lage anfangen? Es ist schwer, sich zu scheiden und dadurch Freunde sich zu Feinden zu machen, nachdem man die Erwartung gehegt und erregt hatte, gleichgesinnt und gleichgestimmt miteinander zu leben; schwer ist es aber auch, in einem Verhaltnis zu verbleiben, von dem man Freude zu gewinnen hoffte und nun Leid erntet. Doch wohlan, wir wollen nicht von Ungliick reden; es sei der allergiinstigste Fall gesetzt! Was gibt es Lieberes fiir einen Mann als ein Weib nach seinem Herzen? Was ist siiBer, zumal fiir einen jungen Mann? Aber eben dort, wo die Freude wohnt, haust irgendwo in der Nachbarschaft auch das Leid. Die Freu- den kommen namlich nicht fiir sich allein, sondern ihnen fol- gen Leid und Miihsal. Denn auch ein Sieg in Olympia und Delphi und ahnliche Kampfe, Bildung und Freude aller Art hat gewohnlich groBes Ungemach zur Voraussetzung. Ehren 218 und Kampfpreise, die Lockspeisen, womit Gott die Menschen kédert, verursachen diesen ja unvermeidlich groBe Mithe und Schwei8. Wenn ich eine andere Person bei mir hatte, die mir am Herzen lage wie ich mir selbst, so kénnte ich nicht leben: so sehr wiirde ich mich absorgen um ihre Gesundheit, um ihren taglichen Lebensunterhalt, um ihre Ehre und Sittsamkeit und ihren guten Namen. Wie nun, wenn mir wirklich eine andere solche Person zuteil wiirde, die mir so am Herzen lage? Leuchtet es nicht ein, da8 ein Weib-dem Manne, wenn es nach seinem Herzen ist, ebenso viel Liebe und Kummer bereitet als er sich selbst, indem er nun fiir die Gesundheit, den Erwerb des Lebensunterhalts, die Sittsamkeit und den guten Namen von zwei Personen sorgen mu8B? Nimm noch an, es werden Kinder geboren: dann ist alles voller Sorgen; die jugendliche Elastizitat des Geistes schwindet, und die Physiognomie wird eine andere. (12) an kann das Leben nicht wiederholen wie einen Zug beim Brettspiel. (13) s gibt Leute, die leben nicht ihr gegenwartiges Leben son- dern sind mit groBem Ejifer geschaftig, als ob sie noch ein zweites Leben zu leben hatten, nicht aber das gegenwar- tige; und unterdessen vergeht die Zeit, die ihnen noch bleibt. (14) anche Leute schaffen und sparen und miihen sich ab und freuen sich, wenn sie etwas zulegen kénnen, wie man sich nur immer eine Freude denken kann. Nehmen sie aber etwas davon und verwenden es, so empfinden sie einen Schmerz, wie wenn sie sich ins eigene Fleisch schnitten. (15) F° gibt eine Geschichte, die lautet so: Ein Mann sah einmal, wie ein anderer viel Geld bekam, und bat ihn, es ihm auf 219 Zinsen zu leihen. Der aber wollte nicht sondern war einer von den Leuten, die miBtrauisch und unfahig sind, jemand einen Dienst zu erweisen; er nahm das Geld mit und hob es irgend- wo auf. Ein anderer beobachtete ihn dabei und stahl es ihm. Als nun der, welcher das Geld aufgehoben hatte, spater wieder zu dem Aufbewahrungsort kam, fand er es nicht mehr vor. Er war nun sehr betriibt iiber seinen Verlust und besonders dar- iiber, daB er es jenem Mann auf seine Bitte nicht gegeben hatte; denn dann ware es ihm erhalten geblieben und hatte ihm noch Weiteres dazu getragen. Als er dann dem Manne einmal begegnete, der es von ihm hatte entlehnen wollen, jam- merte er bei ihm iiber seinen Verlust: er habe einen Fehler gemacht, und es sei ihm leid, daB er ihm den Gefallen nicht getan habe sondern ungefallig gewesen sei, und jetzt sei das Geld fiir ihn ganz verloren. Dieser aber riet ihm, sich dariiber keine Sorgen zu machen sondern zu denken, er habe es noch und es sei nicht verloren, und einen Stein an seine Stelle zu legen. ,,Denn, solange du es hattest, hast du ja keinerlei Ge- brauch davon gemacht; deshalb denke auch jetzt nicht, du miiBtest etwas entbehren.“ Denn was man nicht gebraucht hat noch gebrauchen wird, daran kann man, ob man es nun be- sitzt oder nicht, weder mehr noch weniger Schaden erleiden. Wenn namlich Gott einem Manne nicht lauter Gutes geben will, indem er ihm zwar Reichtum verleiht, ihn aber arm macht an edler Denkungsart, dem nimmt er beides dadurch, daB er ihm das Eine entzieht. (16) as Wichtigste in der Welt ist nach meiner Meinung die Erziehung; denn wenn man irgendeine Sache recht an- gefangen hat, so ist es wahrscheinlich, daB sie auch ein rechtes Ende nehme. Wie der Same ist, den man in die Erde sat, so ist auch die Ernte, die man erwarten darf. Wenn man in eine 220 junge Seele edle Bildung sat, dann sproBt das und bliiht durchs ganze Leben hindurch, und weder Regen noch Diirre kann es vernichten. (17) s gibt nichts Schlimmeres in der Welt als Ziigellosigkeit. In dieser Uberzeugung gewohnten friiher die Leute von Anfang an ihre Kinder an Gehorsam und Befolgung von Be- fehlen, damit sie nicht, wenn sie Manner wiirden, sich zu ihrem Schrecken gar sehr 4ndern miiBten. (18) ach der Umgebung, in der man den grdBten Teil des Tages zubringt, richtet sich notwendig auch die Ent- wicklung des eigenen Charakters. (19) as Freundschaften sind intim, alte noch intimer. (20) iele Leute kennen die Freunde nicht, die sie haben, son- dern machen Bewunderer ihres Reichtums und Schmeich- ler ihres Gliicks zu ihren Gesellschaftern. (21) W* zu seinem Nachsten geht, um ihm etwas zuleid zu tun und dabei fiirchtet, er méchte seine Absicht verfehlen und eine nicht beabsichtigte Wirkung erreichen, der wird da- durch besonnener. Denn wahrend er sich fiirchtet, zogert er und, wahrend er zdégert, bringt oft die dariiber vergehende Zeit den Sinn von seiner Absicht ab. Was geschehen ist, ist nicht mehr zu andern, in der Z6gerung aber liegt die Méglich- keit, daB die Tat nicht geschieht. Wer jedoch meint, er kbnne seinem Nachsten Schaden zufiigen, ohne selbst solchen zu er- leiden, der ist nicht verstandig. Hoffnungen sind mitunter vom Ubel : oft schon haben solche Hoffnungen Leute in unheilbares Ungliick gebracht und, was sie glaubten ihren Nebenmenschen zufiigen zu kénnen, das muBten sie, wie sich zeigte, selbst iiber sich ergehen lassen. Die Besonnenheit eines Mannes wird nie- mand richtiger beurteilen, als wer, die Lust des Augenblicks 28 zuriickdrangend, imstande ist, seiner Begierde Herr zu wer- den**® und sich selbst zu iiberwinden. Wer aber der Begierde des Augenblicks gerne nachgibt, der will das Schlechtere anstatt des Besseren. (22) ee ne besteht nicht darin, daB man niemals etwas Schlechtes begehrt oder nie damit in Berithrung kommt; denn in diesem Falle hatte man ja gar keine Méglich- keit sich selbst zu iiberwinden und sich als ansténdig zu be- wahren. (23) eige ist wer gegeniiber fernliegenden und erst bevorstehen- den Gefahren mit der Zunge keck ist und sich dazu heran- drangt, dagegen zaudert, wenn es zur Tat kommen soll. (24) lir faule Leute ist eine Krankheit ein Fest; denn dann brauchen sie nicht ans Geschaft zu gehen. (25) AUS SCHRIFTEN UNGENANNTER SOPHISTEN Aus dem sog. Anonymus Jamblichi orin man sich immer zur héchsten Vollendung ausbilden will, sei’s Weisheit, sei’s Tapferkeit, sei’s Beredsamkeit, sei’s Tugend, die ganze oder ein Teil derselben, so kann es nur unter folgenden Voraussetzungen gelingen. Fiirs erste muB man natiirliche Begabung haben; das ist nun allerdings Gliicks- sache, das andere aber liegt in der Hand des Menschen selbst: nach dem Schénen und Guten zu streben, arbeitsam zu sein, friih mit dem Lernen zu beginnen und es lange Zeit fortzu- setzen. Trifft von diesen Voraussetzungen auch nur Eine nicht zu, so ist es unmdglich, die héchste Vollendung zu erreichen; sind dagegen alle vorhanden, so mag man treiben, was man will, es wird uniibertrefflich. (1) enn jemand nach einem solchen Bildungsziele strebt W und sich in seinem Fach, sei es nun Beredsamkeit oder 222 Philosophie oder Athletik, vollstandig ausgebildet hat, so mu8 er die gewonnene Fahigkeit zu guten und sittlichen Zwecken anwenden. Beniitzt er sie dagegen zu ungerechten und unsitt- lichen Zwecken, so ist dies das allerschlimmste, und es ware besser, er hatte sie nicht, als daB er sie hat. Und wie jemand im Besitz einer solchen Fahigkeit vollkommen gut wird, wenn er sie zu guten Zwecken gebraucht, so wird er ganz bése, wenn er es zu schlimmen Zwecken tut. Wer aber nach der ganzen Tugend strebt, der mu8 darauf bedacht sein, wie er durch Wort oder Tat sich am tiichtigsten erweise; dann wird er den meisten Menschen niitzlich sein..... Dies wird dann der Fall sein, wenn er den Gesetzen und der Gerechtigkeit zu Hilfe kommt; denn dies ist es, was den Bestand der Staaten und das Zusammenwohnen der Menschen ermdglicht und erhalt, (2) ae jedermann ist besonders Selbstbeherrschung vonn6ten, und diese wird sich am meisten darin zeigen, daB man der Macht des Geldes iiberlegen ist, durch das sich alles ver- fiihren 1a8t, und daB man, ohne sein Leben zu schonen, nach Gerechtigkeit strebt und der Tugend nachjagt. Denn in dieser doppelten Hinsicht kénnen sich die meisten Menschen nicht beherrschen. ..... Wer ein wirklich guter Mann ist, der strebt nach Ehre nicht vermittelst fremden Schmuckes, den er sich anlegt, sondern vermdge seiner eigenen Tiichtigkeit. (3) a as der Liebe zum Leben mag man folgende Uberzeugung gewinnen: wenn es dem Menschen méglich ware, wo- fern er nicht von eines andern Hand eines gewaltsamen Todes stirbt, nicht alt zu werden und weiterhin unsterblich zu sein, so kénnte man es ihm gar wohl zugute halten, wenn er sein Leben schont. Da aber dem Leben, wenn es lange dauert, das Alter droht, das fiir die Menschen schlimmer ist (als der Tod), 223 und da sie nicht unsterblich sind, so ist es eine groBe Torheit und eine Nachgiebigkeit gegen schlimme Motive und Begier- den, das Leben um schlechten Ruf zu erkaufen statt um seinen Preis, das doch dem Tod verfallen ist, unsterblichen Gewinn, unverganglichen und ewig lebendigen Ruhm, zu hinterlassen, (4) 1 es soll man nicht dem Willen zur Macht Vorschub lei- sten und nicht der Ansicht huldigen, die Tiichtigkeit be- stehe in der auf dem Willen zur Macht beruhenden Gewalt, der Gehorsam gegen die Gesetze aber sei eine Schwachheit. Dies ist die allerverwerflichste Gesinnung, die man haben kann, und ihre Folgen sind das Gegenteil von allem Guten: Bosheit und Schaden. Denn da die Menschen von Natur unfahig waren vereinzelt zu leben und, der Not gehorchend, sich zusammen- fanden, worauf alles, was zum Lebensunterhalt gehdrt und die dazu nétigen Hantierungen erfunden wurden, da es ferner un- mOglich fiir sie ist, in gesetzlosem Zustand zu leben — denn dadurch wiirden sie noch gréBeres Ungemach erleiden als bei ihrem vereinzelten Leben —, so herrscht also aus diesen zwingenden Griinden Gesetz und Recht unter den Menschen, und das wird niemals anders werden; denn durch die Macht der Natur ist das festgelegt. Ja, wenn es einen Menschen gabe, der urspriinglich von Natur so veranlagt ware, daB sein K6rper gefeit ware gegen Verwundung und Krankheit, der unempfind- lich, iibernatiirlich und stahlhart an Leib und Seele ware, einem solchen, kénnte man glauben, wiirde die auf den Willen zur Macht gegriindete Gewaltherrschaft geniigen: denn ein solcher brauchte sich nicht dem Gesetz zu fiigen und wiirde es doch nicht zu biiBen haben. Aber das ist eine falsche Vor- stellung. Denn wenn es auch einen solchen Menschen gabe, was es nicht gibt, so kénnte auch er sich nur halten, wenn er 224 sich auf die Seite des Gesetzes und Rechtes stellte und diese starkte und seine Kraft zu ihren Gunsten und dessen, was sie stiitzt, verwendete; anders kénnte er nicht bestehen. Denn es wiirde geniigen, daB alle Menschen einem so veranlagten Wesen sich vermége ihrer gesetzlichen Ordnung feindlich gegeniiberstellten, und ihre Menge wiirde einen solchen Men- schen durch List oder Ubermacht iiberwinden und wiirde seiner Herr werden. So ist es denn klar, daB auch die Gewalt selbst, welche Gewalt es immer sein mag, nur vermittelst des Gesetzes und auf dem Boden des Rechts sich halten kann. (5) Ly Gesetzlichkeit ist das Beste im 6ffentlichen wie im Pri- vatleben und die Gesetzlosigkeit das Schlimmste. Denn aus der Gesetzlosigkeit entspringen sofort groBe Nachteile. Wir wollen nun zuerst das Wesen der Gesetzlichkeit klar- machen, was fiir uns das Wichtigere ist. Fiirs erste ist eine Folge gesetzlicher Zustande der Kredit, der allen Menschen groBen Nutzen bringt und ein groBes Gut ist. Denn das Geld wird dadurch Gemeingut, und so geniigt es doch, wenn man auch wenig besitzt, da es in Umlauf kommt, wahrend es ohne diesen nicht geniigt, auch wenn man viel hat. Ferner werden die zufalligen Verhaltnisse in Vermégen und Lebenshaltung, die giinstigen und die ungiinstigen, auf Grund der Gesetzlichkeit fiir die Menschen in der angemes- sensten Weise reguliert: denn die Gutsituierten genieBen das Ihre in Sicherheit und Gefahrlosigkeit, und die Schlechtsitu- ierten erhalten Unterstiitzung von den Gutsituierten infolge des Verkehrs und des Kredits; dies ist ein Ergebnis der Ge- setzlichkeit. Weiter bewirkt die Gesetzlichkeit, daB die Zeit der Leute von politischen Widerwartigkeiten nicht in Anspruch genommen wird sondern fiir die eigene Lebensarbeit ver- wendet werden kann. Denn von der lastigsten Sorge sind die 15 Vorsokratiker 225 Menschen bei gesetzlichen Zusténden befreit, und der ange- nehmsten kénnen sie sich widmen: die lastigste Sorge bilden namlich politische Widerwartigkeiten, die angenehmste die ei- gene Arbeit. Wenn sie den Schlaf aufsuchen, in dem die Men- schen von ihrem Ungemach ausruhen, so kénnen sie ohne Angst, Kummer und Sorge zur Ruhe gehen, und in der glei- chen Stimmung k6énnen sie sich davon erheben: sie brauchen nicht plétzlich in Angst zu geraten noch infolge eines Wech- sels der politischen Lage einen unheilvollen Tag zu erwarten, sondern ohne Angst und Kummer k6énnen sie die Arbeit fiir ihr Leben besorgen und dabei sich ihre Mihsale, durch zuver- sichtliche und erfiillbare Hoffnungen, Gutes dafiir zu emp- fangen, erleichtern. Alles das ist eine Folge der Gesetzlichkeit. Und _ was den Menschen das gréBte Ungliick bringt, ein Krieg, der mit Unterwerfung und Sklaverei endigt, auch das tritt bei einem gesetzlosen Zustand leichter ein als bei einem gesetz- lichen. Auch sonst bringt die Gesetzlichkeit noch viele Vorteile mit sich, die das Leben férdern und fiir seine Schwierigkeiten Erleichterung bieten. Bei einem ungesetzlichen Zustand aber ergeben sich folgen- de Ubelstinde: erstens haben die Leute keine Zeit fiir ihre eigne Arbeit sondern miissen sich, was das Lastigste ist, mit politi- schen Widerwartigkeiten befassen statt mit ihrer eigenen Arbeit; das Geld wird aus Mangel an Kredit und Verkehr zwar aufge- speichert, kommt aber der Gesamtheit nicht zugute, und so wird es selten, auch wenn es in Menge vorhanden ist. Ferner haben die Besitzverhaltnisse, die giinstigen und die ungiinstigen, die gegenteilige Wirkung: der Wohlstand genieBt bei der Gesetz- losigkeit keine Sicherheit, sondern ist Gefahren ausgesetzt; dem Elend aber wird nicht gesteuert, sondern es nimmt iiberhand infolge des Mangels an Kredit und Verkehr. Aus demselben 226 Grund bricht leichter ein auswartiger Krieg oder eine innere Revolution aus, und wenn das nicht schon vorher geschehen ist, so tritt es dann ein. Fortwahrend befindet man sich in po- litischen Widerwartigkeiten infolge gegenseitiger Intrigen, we- gen deren man sich stets in acht nehmen und GegenmaBregeln treffen mu8. Wacht man, so hat man keine angenehmen Sor- gen, und sucht man den Schlaf auf, so findet man bei ihm keine angenehme Zuflucht sondern eine solche voll Schrecken, und das Erwachen bringt Furcht und Angst fiir den Menschen und erinnert ihn plotzlich an sein Ungemach. Diese und alle die vorhin angefiihrten Nachteile entspringen aus der Gesetz- losigkeit. Aber auch das groBe und schlimme Ubel der Gewaltherr- schaft erwachst nur auf dem Boden der Gesetzlosigkeit. Manche Leute freilich, die unrichtig schlieBen, meinen, die Ur- sache fiir das Auftreten eines Gewaltherrschers liege irgendwo anders und die Menschen werden der Freiheit beraubt, ohne daB sie selbst daran schuld seien, sondern sie werden von dem auftretenden Tyrannen vergewaltigt. Das ist eine falsche Auffassung. Denn wer glaubt, Kénigtum oder Gewaltherr- schaft entstehe aus etwas anderem als aus Gesetzlosigkeit und Streben nach Macht, der ist ein Tor. Nur wenn man allgemein sich dem Bésen zuwendet, dann geschieht solches. Denn die Menschen kénnen nun einmal unmdglich ohne Gesetz und Recht leben. Sobald nun die Menge von diesen beiden Mach- ten, Gesetz und Recht, sich emanzipiert, dann geht sogleich die Verwaltung und Aufsicht dariiber an einen Einzigen tiber. Denn wie sollte denn sonst die Alleinherrschaft in die Hand eines Einzigen kommen, auBer wenn das der Menge zutrag- liche Gesetz beseitigt ist? Denn der Mann, der das Recht auf- lésen und das allen gemeinsame und zutragliche Gesetz be- 15* 227 seitigen wollte, miiBte stahlhart sein, wenn er dies einer Menge Menschen zu rauben versuchte, er der Eine den vielen. Ein Mensch von Fleisch und Blut aber, der wie die andern ist, kénnte dies nicht ausfiihren. Nur wenn er die Emanzipation von den entgegenstehenden Normen zustande bringt, kann er Alleinherrscher werden. Darum bemerken manche Leute diesen Vorgang nicht. ' (6) AUS DEN SOG. DIALEXEIS Gut und Ubel weierlei Auffassungen gibt es bei den Philosophen in Hellas von Gut und Ubel. Die einen sagen, das Gute sei etwas anderes als das Ubel, die andern, es sei beides das- selbe, aber fiir die einen Menschen gut, fiir die andern iibel oder auch fiir einen und denselben Menschen bald gut bald tibel. Den letzteren stimme auch ich zu, und ich will aus dem menschlichen Leben die Bediirfnisse des Essens und Trinkens und des Geschlechtslebens ins Auge fassen: das ist fiir den Kranken iibel, fiir den Gesunden aber, der es braucht, gut. Un- maBiger GenuB in diesen Dingen hat fiir die UnmaBigen iible Folgen, fiir die Leute aber, die damit handeln und sich ihr Brot verdienen, gute. Krankheit ist ein Ubel fiir den Kranken, fiir die Arzte aber etwas Gutes. Der Tod ist fiir die Sterbenden ein Ubel, fiir die Totenbahrenhandler und Totengraber aber etwas Gutes. Wenn der Ackerbau reichliche Friichte tragt, so ist dies fiir die Bauern gut, fiir die Kaufleute dagegen iibel. DaB die Schiffe sich abniitzen und scheitern, ist fiir den Reeder iibel, fiir den Schiffbauer gut. DaB das Eisen vom Rost zerfressen wird, sich abstumpft und abniitzt, ist fiir andere iibel, fiir den Schmied gut. Da8B Tépfe zerbrochen werden, ist fiir andere iibel, fiir den Topfer gut. DaB dieSchuhe sich abniitzen und zerreiBen, 228 ist fiir andere iibel, fiir den Schuster gut. In den gymnischen und musischen Wettkampfen und im Kriege ist, z. B. beim Wettlauf, der Sieg fiir den Sieger etwas Gutes, fiir die Unterliegenden ein Ubel... Und im Kriege — ich will zuerst ein Beispiel aus der jiingsten Geschichte anfiithren — war der Sieg der Lake- damonier, den sie iiber die Athener und ihre Bundesgenossen errangen, fiir die Lakedamonier gut, fiir die Athener und ihre Bundesgenossen aber ein Ubel; und der Sieg, den die Helle- nen tiber die Perser erfochten, war fiir die Hellenen gut, fiir die Barbaren dagegen ein Ubel... Die andere Auffassung ist die, daB das Gute etwas anderes sei als das Uble und, wie in der Bezeichnung, so auch in der Sache verschieden sei. Ich will auch diese auseinandersetzen; denn ich glaube, da8 es auch nicht deutlich ware, was gut und iibel ist, wenn es dasselbe und nicht beides verschieden ware; denn das ware ja zum Verwundern. Ich meine aber, da8, wer solches behauptet, nichts erwidern kénnte, wenn man ihn fragte: ,Sage mir einmal, haben dir deine Eltern schon etwas Gutes erwiesen?‘ ,Ja, vieles und groBes,‘ wiirde er antworten. ,Dann schuldest du also diesen viele und groBe Ubel, wenn gut und iibel dasselbe ist‘... ,Wohlan, gib mir auch darauf eine Antwort: MuBt du nicht Mitleid haben mit den Armen, weil sie viele Ubel haben, und sie zugleich gliicklich preisen, weil sie viel Gutes genieBen, wenn gut und tibel dasselbe ist?‘ Es steht also nichts im Wege, da8 der GroBkénig sich in der- selben Lage befindet wie der Bettler. Denn das viele und groBe Gute, das er hat, ist gleich vielem und groBem Ubel, wenn gut und iibel dasselbe ist... Ich will nun nicht sagen, was das Gute ist, sondern ich versuche nur nachzuweisen, daB gut und iibel nicht dasselbe ist sondern jedes vom andern ver- schieden. (1) 229 Schicklich und Unschicklich uch vom Schicklichen und Unschicklichen gibt es zwei Auffassungen: die einen behaupten, das Schickliche sei etwas anderes als das Unschickliche und davon verschieden wie in der Bezeichnung so auch in der Sache; die andern, schicklich und unschicklich sei dasselbe. Auch ich will mich daran versuchen und es folgendermafen auseinandersetzen ... Es ist fiir einen Mann schicklich, seinem eigenen Weibe bei- zuwohnen, einem fremden dagegen unschicklich. Sich zu putzen und zu schminken und Goldschmuck anzulegen, ist fiir einen Mann unschicklich, fiir eine Frau aber schicklich. Den Freunden Gutes zu erweisen ist schicklich, den Feinden jedoch unschicklich. Vor dem Feinde zu laufen ist unschick- lich, vor den Mitkampfern in der Rennbahn aber schicklich. Freunde und Mitbiirger zu tdten ist unschicklich, Feinde da- gegen schicklich. Und so ist es bei allem. Ich gehe iiber zu dem, was Staaten und Volker fiir unschick- lich halten. In Lakedamon z. B. gilt es fiir schicklich, daB die Madchen sich entbléBen und ohne Armel und Chiton daher- kommen, in Ionien aber fiir unschicklich. Dort gilt es fiir schick- lich, daB die Knaben sich keine hdéhere geistige Bildung an- eignen, in lonien dagegen fiir unschicklich, daB man von all dem nichts versteht... In Makedonien erscheint es als schick- lich, daB die Madchen, ehe sie heiraten, sich der Liebe hin- geben und einem Manne beiwohnen, nach der Hochzeit aber gilt es fiir unschicklich; in Griechenland in beiden Fallen. In Thrakien halt man es fiir einen Schmuck, daB die Madchen sich brandmarken; bei andern Vélkern ist die Brandmarkung eine Strafe fiir Verbrecher. Die Skythen halten es fiir einen schénen Brauch, den Kopf eines getéteten Mannes zu skalpieren, den Skalp vorne am Pferd zu tragen und den Schadel in Gold 230 oder Silber zu fassen, um daraus zu trinken und den Gdttern zu spenden. In Griechenland wiirde mit einem Menschen, der solches tate, niemand auch nur das gleiche Haus betreten. Die Massageten toten ihre Eltern und verzehren sie, und es scheint ihnen das schénste Grab, in den Kindern bestattet zu sein. Wenn das in Griechenland jemand tate, so miiBte er Ver- bannung oder einen elenden Tod erleiden als ein Mensch, der Unschickliches und Entsetzliches tate. In Persien ist es schicklich, daB die Manner sich wie die Frauen schmiicken und daB man der Tochter, der Mutter oder der Schwester beiwohnt; in Griechenland ist das unschicklich und gesetz- widrig. In Lydien erscheint es als schicklich, daB sich die Madchen erst verheiraten, nachdem sie sich preisgegeben und damit Geld verdient haben; in Griechenland wollte solche niemand heiraten. Auch die Agypter halten nicht das gleiche fiir schicklich wie die andern Vélker: denn bei den letzteren verfertigen die Frauen Webereien und Wollarbeiten, dort aber die Manner, und die Frauen tun was anderswo die Manner be- sorgen... Ich glaube nun, wenn man allen Menschen befehlen wiirde, das, was sie je fiir unschicklich halten, zusammenzu- tragen und aus dieser Gesamtmasse wieder wegzunehmen, was sie je fiir schicklich halten, es wiirde auch nicht Ein Brauch zuriickbleiben sondern alle sich unter alle verteilen. Denn nicht alle haben den gleichen Brauch. Ich will dafiir auch eine Dich- terstelle anfiihren: »90 wirst du in der Welt noch manche Sitte Seh’n und beobachten. Dasselbe gilt Nicht iiberall fiir unschicklich und schicklich. Willkiirlich wechselnd machen Ort und Zeit Das Gleiche hier unschicklich und dort schicklich.“ 231 Kurz, alles ist am rechten Ort schicklich, am unrechten un- schicklich. Was habe ich nun zuwege gebracht? Ich versprach zu zeigen, daB schicklich und unschicklich dasselbe sei, und habe es an allen diesen Beispielen gezeigt. Man sagt aber auch, daB schicklich und unschicklich zweier- lei sei. Denn wenn man die Leute, die behaupten, daB schick- lich und unschicklich dasselbe sei, fragen wiirde, so miiBten sie, wenn sie etwas Schickliches getan haben, zugeben, daB es unschicklich sei, wofern schicklich und unschicklich dasselbe ist. Und wenn sie das Benehmen eines Mannes als schicklich kennen, so miissen sie dasselbe auch fiir unschicklich erklaren und, wenn jemand weiB ist, miissen sie ihn zugleich fiir schwarz halten. Die Gotter ehren ist schicklich, aber die G6étter ehren ist auch unschicklich, wenn schicklich und unschicklich das- selbe ist. Diese Bemerkungen sollen fiir alle Beispiele gelten. Ich wende mich nun gegen den von ihnen vorgebrachten Be- weis,... Sie behaupten, daB, wenn man das Unschickliche aus allen V6lkern zusammentriige und man sie dann herbeirufen und ihnen befehlen wiirde, was sie fiir schicklich halten, weg- zunehmen, alles als schicklich fortgeholt wiirde. Ich aber frage mich verwundert, ob das Unschickliche, wenn man es zusam- mentragt, schicklich sein wird und nicht vielmehr bleiben, was es war. Denn wenn man Pferde oder Rinder oder Schafe oder Menschen herbrachte, so k6nnte man nichts anderes als eben diese mit fortnehmen. Und wenn man Gold herbrachte, kénnte man nicht Erz mitnehmen und, wenn Silber, nicht Blei. Und nun nehmen sie anstatt des Unschicklichen das Schickliche mit fort? Wohlan denn! Wenn also jemand Unschickliches herge- bracht hatte, wiirde er Schickliches mit fortnehmen? Was aber das Zeugnis der Dichter betrifft, das sie anfiihren, so istder Zweck der Dichtung die Unterhaltung und nicht die Wahrheit. (2) 232 Recht und Unrecht uch vom Recht und Unrecht gibt es zweierlei Auf- fassungen: die Einen behaupten, Recht sei etwas ande- res als Unrecht, die Andern, Recht und Unrecht sei dasselbe. Ich will versuchen, der letzteren Behauptung zu Hilfe zu kommen. Zuerst will ich ausfiihren, da8 liigen und tauschen recht ist. Man sagt, dies gegeniiber von Feinden zu tun, sei schicklich und recht, gegeniiber von Freunden aber sei es un- schicklich und bése. Warum aber nur gegeniiber den Feinden, den liebsten Menschen gegeniiber aber nicht, z. B. den Eltern? Wenn Vater oder Mutter ein Arzneimittel nehmen soll und es nicht will, ist es dann nicht recht, es ihnen in irgendeiner Suppe oder einem Getrinke zu geben, ohne zu sagen, daB es darin ist? Also ist es recht, die Eltern zu beliigen und zu tau- schen. Und es ist auch recht, das Eigentum von Freunden zu entwenden und die liebsten Menschen zu vergewaltigen. Wenn z. B. ein Verwandter aus Kummer und Gram sich das Leben nehmen will mit einem Dolch oder Strick oder sonst einem Werkzeug, ist es dann nicht recht, ihm dies womOglich zu ent- wenden, oder, wenn man zu spat kommt und ihn schon da- mit antrifft, es ihm mit Gewalt zu nehmen? Und als Sklaven verkaufen: wie sollte es nicht recht sein, eine ganze Stadt nach der Eroberung, wenn man es kann, zu verkaufen? Auch das Einbrechen in die dffentlichen Gebaude einer Stadt ist offen- bar recht: wenn etwa mein Vater, von seinen politischen Geg- nern iiberwaltigt, auf den Tod verklagt im Gefangnis saBe, ware es da nicht recht, einzubrechen, den Vater heimlich heraus- zuholen und zu retten? Und Meineid: wenn jemand, von den Feinden gefangen genommen, einen Eid auf sich nimmt, falls man ihn freilasse, seine Stadt zu verraten, wird der recht tun, wenn er den Eid halt? Ich glaube es nicht; sondern lieber wird 233 er durch Eidbruch seine Stadt, seine Freunde und die Heilig- tiimer seiner Vater erhalten. So ist also auch Meineid recht. Und Tempelraub: Ich lasse das besondere Eigentum der ein- zelnen Stadte beiseite; aber ist es nicht recht, den gemeinsamen Besitz und die materiellen Hilfsmittel Griechenlands in Delphi und Olympia zu nehmen und zum Krieg zu verwenden, wenn die Barbaren Griechenland bedrohen? Auch die liebsten Per- sonen zu ermorden ist recht: Orestes und Alkmaon sind Bei- spiele dafiir, und das Orakel bestatigte, daB sie recht getan hat- ten. Ich wende mich nun zu Kunst und Dichtung: unter den Tragédiendichtern und Malern ist der der vorziiglichste, der es am besten versteht, eine Tauschung hervorzubringen, die der Wirklichkeit ahnlich ist. Ich will auch ein Beispiel aus 4l- teren Gedichten anfiihren, die Verse der Kleobulina: »Linen Mann, den sah ich erschleichen und tauschen ge- waltsam, Und was er tat mit Gewalt, war doch das lauterste Recht.“ Das geschieht im Ringkampf.*® Aber auch Aschylos sagt dies: »Gott kann nicht auf gerechten Trug verzichten“, und: »Mitunter ehrt Gott auch rechtzeit’ge Liige“. Es gibt aber auch eine dieser entgegengesetzte Auffassung, nach der Recht etwas anderes ist als Unrecht und wie in der Bezeichnung so auch in der Sache verschieden ist. Wenn man die Leute, welche behaupten, daB Recht und Unrecht dasselbe sei, fragen wiirde, ob sie an ihren Eltern recht gehandelt haben, so wiirden sie das bejahen. Dies ware dann auch unrecht gewe- sen; denn sie erklaren ja Recht und Unrecht fiir dasselbe. Oder 234 wenn du einen gerechten Mann kennst, so ist derselbe auch ungerecht und nach dem gleichen Grundsatz also auch ein groBer klein. Ein Mensch, der viel unrecht getan hat, soll dem- nach hingerichtet werden, weil er viel recht getan hat. Damit sei es iiber diese Frage genug. (3) Wahrheit und Liige Ao von Wahrheit und Liige gibt es zwei Auffassungen, von denen die eine behauptet, die liignerische Rede sei etwas anderes als die wahre, die andere, beides sei dasselbe. Und ich sage folgendes: erstens werden beide mit denselben Worten ausgedriickt; ferner, wenn eine Rede ausgesprochen wird, so gilt sie dann als wahr, wenn der Tatbestand dem Inhalt der Rede entspricht; wo nicht, so gilt dieselbe Rede als Liige. Du beschuldigst z. B. jemand des Tempelraubs. Ist die Tat ge- schehen, so ist die Rede wahr; wo nicht, so ist sie eine Liige. Und von einer Verteidigung gilt dasselbe. Die Gerichte be- urteilen eine und dieselbe Rede als Wahrheit und als Liige. Wenn wir ferner hier der Reihe nach, wie wir dasitzen, sagen wiirden: ,,ich bin ein Myste“, so wiirden wir alle dasselbe sagen, aber nur ich die Wahrheit, weil ich es auch bin. Es ist also klar, daB dieselbe Rede, wenn ihr Liige innewohnt, liig- nerisch ist; wenn Wahrheit, wahr. Man sagt aber auch, daB die liignerische Rede etwas anderes sei als die wahre und von ihr wie in der Bezeichnung so auch in der Sache verschieden sei. Denn wenn man die Leute, die behaupten, daB die wahre und die liignerische Rede dasselbe sei, fragen wiirde, welche von beiden die Rede sei, die sie fiih- ren, so ist es klar, daB, wenn dies die liignerische ist, es zweier- lei sind; wenn aber die wahre, so ist die liignerische mit dieser eine und dieselbe. Hat einmal jemand etwas Wahres gesagt und 235 bezeugt, so ist dasselbe dann auch liignerisch. Und wenn man einen Mann als wahrhaftig kennt, so ist derselbe auch ein Liig- ner. Nach dieser Auffassung sagen sie, daB man eine Rede wahr nennt, wenn ihr ein Tatbestand entspricht; wo nicht, liignerisch. Der Unterschied liegt also nicht in der Ausdrucksweise sondern in dem Tatbestand. Man kénnte wieder die Richter fragen, wo- nach sie urteilen; denn sie sind ja bei den Handlungen nicht zugegen. Und sie geben auch selbst zu, liignerisch sei eine Aus- sage, der Liige innewohne; dagegen eine, die Wahrheit ent- halte, wahr. Das ist aber ganz verschieden. (4) UBER MUSIK ai oft kam mich Verwunderung dariiber an, ihr Man- ner aus Griechenland, ob es euch denn entgeht, daB manche Leute Vortrage halten iiber Gegenstinde, die ihrem eigenen Beruf ferne liegen, indem sie behaupten, sie seien musikverstindig, und einige Lieder vornehmen, von denen sie die einen aufs Geratewohl kritisieren, die andern ebenso planlos loben. Sie sagen, man solle sie nicht selbst als Saiten- spieler oder Sanger betrachten; diesen Beruf, heiBt es, iiber- lassen sie andern; ihr eigenes Gebiet sei die Theorie. Offenbar _ aber haben sie sich um das, was sie andern iiberlassen, nicht wenig bemiiht, dagegen in dem, worin sie ihre Starke zu ha- ben behaupten, sind sie Dilettanten. Sie sagen nun, dab die einen Melodien enthaltsam, andere verstandig, andere gerecht, andere tapfer und wieder andere feige machen, wobei sie nicht wissen, da8 weder das chromatische Klanggeschlecht die Leute, die sich seiner bedienen, feige, noch das enharmonische sie tapfer macht. Denn wer weiB8 nicht, daB die Atoler und Dolo- per und alle die V6lkerschaften bei den Thermopylen zwar die diatonische Musik haben, aber dennoch tapferer sind als die 236 Opernsanger, die gewohnt sind, ausschlieBlich im enharmo- nischen Klanggeschlecht zu singen! Also weder das chroma- tische Klanggeschlecht macht feige noch das enharmonische tapfer. Sie gehen aber soweit in der Unverfrorenheit, daB sie ihr ganzes Leben mit Musizieren zubringen, wobei sie viel schlechter spielen als die (berufsmaBigen) Saitenspieler, viel schlechter singen als die (berufsmaBigen) Sanger, viel schlech- ter kritisieren als der nachste beste Redner, kurz alles schlech- ter machen als diese alle. Und in Beziehung auf die sogenannte enharmonische Musik, bei der sie in irgendwelche Stimmung versetzt zu werden behaupten und, ohne selbst eine Stimme zum Vortrag zu haben, in Begeisterung geraten und in falschem Takt auf das vor ihnen liegende Brettchen schlagen zugleich mit den Ténen des Instruments, schamen sie sich nicht zu be- haupten, von den Melodien hatten die einen den Charakter des Lorbeers, andere den des Efeus.°°... (1) 237 ANMERKUNGEN 1. Anaximenes fr. 3: Echtheit bestritten. 2. Xenoph. fr. 1, 5 folge ich A. Ludwich in Mélanges Nicole (1905) S. 344. 3. Xenoph. fr. 3: Der in der Uberlieferung ausgefallene V. 2 ist erganzt. 4. In grellem Widerspruch mit Herakl. fr. 19 steht fr. 35 (Diels): »Gar vieler Dinge kundig miissen weisheitsliebende Manner sein“. Das paBt so wenig zur Ansicht Heraklits, daB8 man versucht sein konnte, im griechischen Text «d in od zu andern, womit es eine Paraphrase von fr. 19 wiirde. — Uber Hekatios s. Einleitung S. 25. 5. Her. fr. 20: Vgl. Hes. Theog. 123f. und 748. 6. Zu Heraklit fr. 24: Die Worte der Knaben sind die Antwort auf die Frage Homers, ob sie beim Fischen etwas gefangen hatten. Die Anekdote steht im Agon des Homer und Hesiod 311 ff. (Rzach). 7. Her. fr. 58: auBer fr. 91 Diels: Plato Krat. 402A. 8. Her. fr. 81: Diels Vorsokr.? S. 58, 8 und Diog. Laert. IX. 7. Vgl. fr. 61. 9. Her. fr. 86 erklart H. Berger, Geschichte der wissenschaft- lichen Erdkunde der Griechen*® (1903) S. 79 so: ,,Heraklit bezeich- net den arktischen und antarktischen Kreis, indem er sagt, der Ba- renkreis sei das Ende vom Morgen und Abend, d. h. vom Aufgang und Untergang der Gestirne, ihm gegeniiber aber sei die Grenze des sichtbaren Himmels, d.h. der Punkt, wo der Kreis der immer unsichtbaren Gestirne um den gegeniiberliegenden Pol der Achse den Horizont beriihrt. Die Mittagslinie mit ihrem nérdlichen und siidlichen Endpunkte soll bezeichnet sein.“ 10. Zu Parm. fr. 16: Nach Theophrast handelt es sich um die Mischung des Warmen und Kalten im K6rper. Von ihr ist das Den- ken abhangig. Also eine ganz andere Theorie als die eigene des Parmenides (fr. 1, 33{f.). 11. Emp. fr. 6: die eingeklammerten Worte sind erganzt. 12. Emp. fr.8: Nestis ist eine sizilische Lokalgottheit des feuch- ten Elements. 238 13. Emp. fr. 16, 3—5. Diese schwierigen Verse erklart wohl am richtigsten Zeller’ I 757A. so: ,,Sterbliches erzeugt sich aus den un- sterblichen Elementen teils beim Hervorgang der Dinge aus dem Sphairos [s. fr. 17—20] teils bei der Ritckkehr in denselben; in bei- den Fallen geht es aber auch wieder, dort durch fortgesetzte Tren- nung, hier durch fortgesetzte Einigung, zugrunde.“ 14, Emp. fr. 24: V. 10—12 (= fr. 25, 6—8) und 13 (= fr. 16, 34) habe ich gestrichen. Philologus 65 (1906) S. 555. 15. Emp. fr. 26: V. 5 von mir erganzt, um den Satz abzu- schlieBen. 16. Emp. fr. 28: Polemik gegen Xenophanes fr. 21. 17. Emp. fr. 33: Vgl. fr. 8 Anm. 12. 17a. Emp. fr. 66: Das Subjekt beider Verse war im Griechischen der Form nach verschieden, aber der Sache nach wohl dasselbe: etwa gio und daiumr. 18. Emp. fr. 67: Anfang erganzt aus Ael. Nat. an. XII. 7. 19. Emp. fr. 73, 2f.: ich folge hier der Schreibung von Karsten und Stein. 20. Emp. fr. 75 und 76. Dem Lorbeer und den Bohnen wurde kathartische Wirkung zugeschrieben. Rohde, Psyche‘ II 181, 2. 21. Anax. fr. 14: Ich setze mit Zeller> I 992, 1 und Rohde (Psy- chet II 193, 6) dxAdor statt dzeroor. 22. Anaxag. fr. 11 und 13. 23. Zu Philolaos fr. 5. ,, WinkelmaB“ (yyduer) nannten die Pytha- goreer die ungeraden Zahlen, durch die man eine Quadratzahl auf die A B G nachsthohere erheben kann; z. B. der ‘ Gnomon von 2?= 4 zu 3?= 9 ist 5. 1 2 1 In der graphischen Darstellung wird dieser Gnomon von den Schenkeln 3 4 2 ‘ des Winkels EFG gebildet. 24. Die musikalischen Benennun- Cc gen in Philol. fr.7 nach Diels, Die 5 4 3 Fragmente der Vorsokratiker® S. 241 f. ; 25. Philol. fr. 10: Echtheit zweifel- . ~ ie haft. 26. Demokrit fr. 1: Wahrscheinlich 420 v. Chr. 239 26a. Dem. fr. 22: Die eingeklammerten Worte sind von Diels* S. 724 erginzt. 27. Zu Dem. fr. 31 vgl. Diog. von Apoll. fr. 7. 28. Dem. fr. 69: Aesop. Fab. 233. 29. Dem. fr. 126: Die eingeklammerten Worte sind erganzt. Vgl. Simonides von Amorgos fr. 7, 67 (Crusius) und Eurip. Hipp. 631. 30. Dem. fr. 156: Die eingeklammerten Worte bilden die notwen- dige Erganzung des Gedankens. 31. Dem, fr. 162: von Diels* S. 725 hinsichtlich der Echtheit an- gezweifelt. 32. Protag. fr. 3: Die eingeklammerten Worte sind nach dem Zusammenhang bei Aristoteles Rhet. II. 24 p. 1402a erganzt. 33. Prot. fr. 4: Das Bruchstiick ist nur als Bericht des Aristoteles Met. II. 2 p. 997b erhalten. 34. Prot. fr. 10: Der Mythus ist nur in der Nachahmung Platos Prot. p. 320C ff. erhalten. 35. Prod. fr. 3: aus Ps.—Plato, Eryx. 13 p. 397E. 36. Prod. fr. 4: aus Ps.—Plato, Axioch. 5 p. 366D. 36a. Der Mythus ist nur in der Nachahmung Xenophons (Mem. II. 1, 21 ff.) erhalten. 37. Prod. fr. 6: aus Ps.—Plato, Axioch. 8 p. 369B. 38. Hipp. fr. 10: aus Plato, Prot. p. 337C. Ich folge der Schrei- bung von Sauppe u. a.: jude statt duds. 39. Gorg. fr. 3: Auszug aus dem Bericht des Sextus Empiricus (Adv. math. VII. 65ff.) iiber den Inhalt der Schrift ,Uber das Nicht- seiende oder iiber die Natur‘. 40. Die Echtheit dieser Reden ist zwar bestritten; es sprechen aber gute Griinde dafiir. 41. Lykophr. fr. 1—2 stehen: 1. Aristot. Pol. III. 9 p. 1280b 10; 2. Aristot. fr. 91. 42. Gemeint sind Pelopidas und Epaminondas. 43. Alkid. fr. 1—6 stehen: 1. Aristot. Rhet. III. 3 p. 1406a 22; 2. ib. p. 1406b 11; 3. ib. II. 23 p 1398b 11ff.; 4. Schol. zu Aristot. Rhet. I. 13 p. 1373b 18; 5. Aristot. Rhet. Il. 23 p. 1397a 11; 6. ib. Ill. 3 p. 1406b 12. 44, Kallikles: aus Platons ,Gorgias‘: 1. Kap. 38f. p. 483A—484C; 2. Kap. 46 p. 491 E—492C. 240 45. Zu Krit. fr. 7: Die Skopaden waren ein reiches Adelsge- schlecht in Thessalien, Arkesilas ein beriihmter Olympionike. 46. Krit. fr. 9, 4: Gemeint ist der Hades. 47. Krit. fr. 12: Es handelt sich um die Freundschaft des Theseus und Peirithoos. 48. Ant. fr. 22: Ich folge der Schreibung von Sauppe bei BlaB, Antiphon S. 142. 49. Dialex. 3: Die Verse der Kleobulina wollen ein Ratsel sein. Die Lésung ist: Der Ringkampfer. v. Wilamowitz im Hermes 34. 1899 S, 219, 2. — Zu der Bemerkung iiber die kiinstlerische Illusion vgl. Gorgias fr. 10. 50. Das Bruchstiick ist verdffentlicht von Grenfell-Hunt, The Hibeh-Papyri. London 1906. No. 13 S. 45ff. Lorbeer—Efeu: Unter- scheidung apollinischer und dionysischer Musik. 16 Vorsokratiker 241 TABELLE DER FRAGMENTE zur Vergleichung mit der Ordnung bei Diels? D D D D D ; 22 27 | 32 14 | 71 88 | 110 9 Anaximan- | 93 29 | 33 15 | 72 62 |111 97 der 24 33 | 34 69 | 73 59 | 112 13 1 9 | 25 30 | 35 92 | 74 103 }113 29 } 26 31 | 36 93 | 75 48 114 24 Anaximenes | 27 32 | 37 55 | 76 67 1115 25 1 1 “<3 107177 102 1116 49 2 2 | Heraklit | 39 7 | 78 16 | 117 39 3 es | 1 | 40 46 | 79 it 4118-1 i 2 34 | 41 47 | 80 52 1119 33 Alkmaon | 3 2142 123 | 81 137 |120 44 1 1] 4 72 | 43 28 | 82 04 2 lal 5 17 | 44 18 | 83 3 | Parmenides 3 21 6 19 | 45 86 | 84 6] 1 1 4 re oe | 71 146 108 | 8 99 | 2 4 5 518 75 | 47 41186 120] 3 2 9 73 | 48 99187 i121 4 3 Xenophanes | 19 74149 114] 88 70 5 5 1 1] 11 89 | 50 30 | 80 79 | 6 6 2 2112 87 | 51 64 | 90 re ee | 7 3 7113 50 | 52 65 | 91 83 | 8 8 4 3114 115 | 53 66 | 92 2 | 9 9 5 8 115 112 | 54 90 | 93 12 | 10 12 6 22116 113 | 55 60 | 94 S.580 | 11 13 7 10 117 116 | 56 76 | 95 36 | 12 10 8 11118 101 | 57 31 | 96 7 1-48 11 9 12 | 19 40 | 58 91 | 97 45 | 14 15 10 14 | 20 57 150 125 | 98 118 | 15 14 11 16 121 106 | 60 53 | 90 117 | 16 16 12 15 |22 120 | 61 80 | 100 20 | 17 19 13 18 | 23 38 | 62 10 | 101 21 14 38 | 24 56 | 63 8 1102 26 Zeno 15 34 | 25 42 | 64 51 1103 an | 3 16 35 126 104 | 65 54 1104 0 | 2 1 17 23 | 27 81 |66 126110 119] 3 2 18 24 | 28 22 167 111 |106 85 | 4 4 19 26 |29 109 | 68 23 1107 43 ; 20 25 | 30 5 | 69 58 1108 110 | Melissos 21 28 | 31 37 | 70 61 | 109 Catrd 1 D D D D D 2 2135 62 | 80 77.78 | 6 10 | 30 150 3 3 | 36 57 Sf) 133 7 6 | 31 30 4 4 | 37 58 | 82 134] 8 8 | 32 2 5 5 | 38 59 1/83 1321 9 7 | 33 5 6 6 | 39 60. 61 10 20 | 34 24 7 7 | 40 20 | Anaxagoras | 11 713 166 8 8 | 41 s2} 1 1122 12 | 36 207 9 9 | 42 83 | 9 17 | 13 13 | 37 la 10 10 | 43 79 | 3 9 | 14 14138 203 44 si | 4 3 | 15 15 | 39 206 Empedokles} 45 91] 5 7116 16] 40 199 1 1 | 46 90 6 21 ; 41 217 2 110})47 89] 7 g | Leukipp | 42 234 3 111/48 100] 8 9 | 1 2} 43 31 4 5149 107] 9 4 aa 180 5 2150 106 | 49 5 | Demokrit | 45 3 6 3151 105 | 44 rs ae 5 | 46 174 7 4152 103 | 40 10 | 2 116) 47 ~~ 191 8 6 | 53 15 | 13 rte fe Wee te ee 9 8 | 54 112 | 44 12 | 4 165 | 49 216 10 9455 113 | 45 i3 | 5 156150 119 11 11 | 56 114 | 16 14 6 168 | 51 173 12 12157 115 | 47 15 | 7 167 | 52 172 13 13158 130 | 49 16 | 8 164] 53 175 14 14|59 119 | 49 ig | 9S.367,89a] 54 176 15 16 |60 118 | 99 i9 | 10 15 | 55 36.187 16 17 61 120 11 165 | 56 37 17 27 1th e 12 34.157 159 18 28.27a} 63 122 rh ag ae ol eee 19 29 164 123 : 14 6 | 59 57 20 30.31 165 124] !} 1 1 45 7 | 60 4. 188 21 35.36 | 66 125.126] 2 2 | 16 8 | 61 235 22 38 167 1271 3 7 147 9162 233 23 pls 1744 8 | 18 1071 63. 170 24 21 | 69 146.147] > 3119 6117 | 64 146 25 Bim 130478 4120 125 | 65 40 26 i re. 1 Le 5121 155 | 66 72 7” 437/72 «21364 8 6/22 198 | 67 223 28 99°14 73° 397 ; 23 154 | 68 219 29 73 | 74 145 | Philolaos | 24 144 | 69 224 30 52175 1411 1 2125 is | 70 221 31 55 176 140] 2 3 | 26 21} 71 220 32 7h ay Pgs eB ae 4127 112] 72 218 33 9 178 128] 4 5128 129173 222 34 98 |79 130] 5 11 | 29 85 | 74 227 BS8LSEESSLSSEASRESRSSSRIaa D Protagoras 1 1 2 S$.525 3 $.532 No. 21 4 7 5 4 6 3 7 10 8 11 9 10 S.540 Prodikos 1 6 2 7 3 8 4 9 5 2 6 9 7 5 Hippias 1 6 2 4 3 Z| 4 12 5 18 6 9 7 5 8 16 9 17 10 S.586 Gorgias 1 4 2 5 3 3 4 26 5 19 6 22 7 74 | 8 16 9 20 ONION D 8 15 9 16 10 18 11 19 12 20 13 21 14 22 15 23 16 25 17 27 18 28 19 29 20 9 oa 40 23 39 24 42 25 48 26 31 27 32 28 33 29 34 30 36 31 37 32 45 33 52 34 44 35 47 36 49 Antiphon 1 1 2 2 3 9 4 10 5 15 6 29 7 30 8 32 9 48 10 50 11 Bi 12 49 13 52 14 53a D D D D D 15 53 | 21 65 | Anonymus | 5 6 3 3 6 S12 38 Jamblichi 6 114 iy 4 sf Be 2 3 | Dialexeis | Hibeh-Pa- 19 62 | 25 57 | 3 ee 3 1 | pyri No.13 20 64 4 5 2 2 1 _ LITERATUR Zu weiterer Orientierung tiber die vorsokratische Philosophie werden folgende Werke empfohlen: Zeller, Die Philosophie der Griechen®. I. 1. 2. Leipzig 1892 Windelband, Geschichte der alten Philosophie. 3. Aufl. Miin- chen 1908 Th. Gomperz, Griechische Denker. I. Band, 2. Aufl. Leipzig 1903 Doring, Geschichte der griechischen Philosophie. I. Band, Leip- zig 1903 Kinkel, Geschichte der Philosophie. I. Band, GieBen 1906 H. Gomperz, Die Lebensauffassung der griechischen Philo- sophen und das Ideal der inneren Freiheit. Jena 1904 Joél, Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik. Jena 1906 EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA Karl Joél, Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik. Mit Anhang: Archaische Romantik. Broschiert M. 4.50, in Halbpergament ge- bunden M. 6.— Inhalt: Der kosmische Anfang der Philosophie und seine Erklarungen. Die Naturmystik der Renaissance. Mystische Subjektivitat bei den antiken Natur- philosophen. Mystische Religiositét bei den antiken Naturphilosophen. Paul Barth: Die Parallelen, die Joél zwischen den antiken Naturphilosophen und denjenigen der Renaissance zieht, sind sehr eindringend und psychologisch interessant; so wenn er die leidenschaftliche Sprache des Feuergeistes Heraklit mit derjenigen des Lorenzo Valla, des Paracelsus, des Agrippa vergleicht. Selbst manches scheinbar Zufallige gewinnt Bedeutung: so der Name der Elemente bei den Griechen, ozoryeta Buchstaben, ein Name, der ebenso anthropomorph ist und auf derselben Metapher beruht, wie ,,Das Buch der Natur‘, in dem die Philo- sophen der Renaissance lesen wollen. Der Anhang gibt eine Vergleichung des romantischen Elements, das in der antiken Naturphilosophie steckt, mit den Denkern der deutschen Romantik, besonders mit Fr. Schlegel und Novalis. Die Ahnlichkeiten sind oft iiberraschend. Joéls Buch scheint mir in zwei Richtungen verdienstlich : Erstens sieht er immer in dem antiken Philosophen den ganzen Menschen, wahrend wir sonst nur den Denker beachten. Zweitens liefert er einen Beitrag zum Beweise, daB nicht bloB fiir praktische, sondern auch fiir theoretische Ideen der Satz Vauvenargues’ richtig ist: Les grandes pensées viennent du cceur. Heinrich Gomperz, Die Lebensauffassung der grie- chischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit. Mit Anhang: Zum Verstandnis der Mystiker. Broschiert M. 8.—, in Halbpergament geb. M. 10.— Inhalt: Das Ideal der inneren Freiheit. Die Lebensauffassung der Griechen. Vorsokratiker. Sokrates. Die Kyniker. Die Kyrenaiker. Platon. Die Stoa. Epikur und die Skepsis. Verfall und Ausgang der philosophischen Ethik der Griechen. Grenzboten: Feine psychologische Analysen — am meisten hat uns die des Epikur iiberrascht — schlieBen uns das innerste Wesen unserer alten Bekannten auf und machen, daB sie uns neu erscheinen, und ebenso neu erscheint uns manches in ihren Beziehungen untereinander und zu ihrer Zeit. So das Inein- anderspielen der drei Ideale: des aristokratischen Ideals der Kalokagathie, des edeln MaBes, des demokratischen Ideals der durch Siihnung zu erringenden Heilig- keit, des philosophischen Ideals der Freiheit. Und von diesem aus gesehen kommt Aristoteles zu unterst zu stehen, wahrend die Stoiker, die Philosophen der Ver- falizeit, den Gipfel einnehmen. EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA Walter Pater, Griechische Studien. Gesammelte Auf- saitze. Aus dem Englischen iibertragen von Dr. Wilh. Nobbe. Broschiert M. 6.—, elegant in Halbfranz ge- bunden M. 8.— Inhalt: Eine Studie iiber Dionysos. Die Bacchanalien des Euripides. Die Legende von Demeter und Persephone. Der verborgene Hippolytos. Das heroische Zeitalter der griechischen Kunst. Das Zeitalter der Idole. Die aeginetischen Marmorgruppen. Das Zeitalter der athletischen Preiskampfer. Waiter Pater, Plato und der Platonismus.Vorlesungen. Aus dem Englischen tibertragen von Dr. Hans Hecht. Broschiert M. 6.—, elegant in Halbfranz geb. M. 8.— Inhalt: Plato und die Lehre von der Bewegung. Plato und die Lehre von der Ruhe. Plato und die Lehre von der Zahl. Plato und Sokrates. Plato und die Sophisten. Der Genius Platos. Die Lehre Platos. Lakedaémon. Der Staat. Die Asthetik Platos. Pater war Professor in Oxford und vereinigt in sich den Gelehrten mit dem Kiinstler, gleichwie Nietzsche, wenn auch ohne dessen leidenschaftliches Tempe- rament. Uber ihn urteilte die ,,Miinchener Allgemeine‘: ,,Eine ganz einzige Gestalt, deren Wirkungen sich heute noch nicht absehen lassen. Eine Individualitat von staunenswerter Schmiegsamkeit und Gewandtheit, ein genialer und intuitiver Nachschépfer fremder und entlegener Kulturen, von einer femininen Reizbarkeit fiir die verschwiegensten, zartesten, letzten Probleme und Késtlichkeiten eines Kunstwerkes und einer Epoche, die Griechentum und Christentum, die religids- platonische und die rein dsthetische Anschauung des Lebens in Werken reifster Vollendung versdhnt hat.‘ Hippokrates, Erkenntnisse. Im griechischen Text aus- gewahlt, iibersetzt und auf die moderne Heilkunde vielfach bezogen von Theodor Beck. Broschiert M. 7.50, in Halbpergament gebunden M. 9.— Frankfurter Zeitung: In gedrangter Kiirze fiihrt uns Beck die gehaltvollsten Stellen aus der Hippokratik vor im griechischen Urtext, mit begleitender eigener Ubersetzung, ohne durch Gelehrsamkeit ungenie8bar zu werden. Durch geschickt gewahite Stichworte ist der Realkritik Rechnung getragen und dem Leser der An- schlu8 an die heutige medizinische Ausdrucksweise ermdéglicht. Scheint es, Beck gehe hierin etwas weit, so erinnere man sich des herakliteischen Wortes, der Herr, der das Orakel in Delphi besitze, brauche weder zu reden noch zu schweigen, sondern nur anzudeuten. Solcher Andeutungen enthalt die Hippokratik eine reiche Fille; um sie haben sich erst spater die Probleme auskristallisiert. Rudolf Burckhardt EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA PLATON/WERKE Ubersetzt von R. Kassner pep Oastmate Broschiert je M.2.—, in Halbpergament Phaidros ian tx MA Phaidon g re Ion. Lysis. Charmides. Broschiert M. 2.50, in Halb- pergament gebunden M. 4.— Der Staat. (In Vorbereitung) Ubersetzt von O. Kiefer Apologie. Kriton. Broschiert M.2.—, in Halbperga- ment gebunden M. 3.— Parmenides. Menexenos Kritias. Timaios } In Vorbereitung Ubersetzt von K. Preisendanz Euthyphron. Laches. Hippias. Broschiert M. 2.50, in Halbpergament gebunden M. 3.50 Gorgias. Menon Protagoras. Theaitetos In Vorbereitung Philebos Aristoteles, Metaphysik. Ins Deutsche iibertragen von Adolf Lasson. Broschiert M.6.—, gebunden M. 7.50 Aristoteles, Ethik. Ins Deutsche iibertragen von Adolf Lasson. (In Vorbereitung) Die Schrift von der Welt. Ein Weltbild im Umri6 aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Eingeleitet und ver- deutscht von Wilhelm Capelle. Broschiert M. 3.—, gebunden M. 4.50 GEDRUCKT BEI OSCAR BRANDSTETTER IN LEIPZIG = &£ . = Bee £2 es Se Se F&F ee. 8 eS eC. we ee .6SlUS ee a. University of California ¢ | SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITY 305 De Neve Drive - Parking Lot 17 « Box 951388 LOS ANGELES, CALIFORNIA 90095-1388 Return this material to the library from which it was borrowed. GO ie ie, Oi, ie I i ty aa UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACIL Q) x a ‘